Plötzlich Indianer - Eine Zei...

By Booky_2017

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Die siebzehnjährige Marie hatte sich so sehr auf die Kursfahrt mit ihrem Englisch-Leistungskurs gefreut, der... More

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kaptel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Epilog
Zugabe

Kapitel 8

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By Booky_2017

Trotz der sommerlich warmen Nacht lief ein Schauer über meine Arme, als ich in das Gesicht des jungen Indianers starrte. Die Abscheu in seinen Augen ließ mich zurückzucken. Sein rechter Mundwinkel war etwas herabgezogen und sein rechtes Auge etwas schmaler als das andere, was ihm ein hinterhältiges Aussehen verlieh.

Ich versuchte, meinen Arm aus seinem Griff zu winden, doch er war viel zu stark und hielt mich nur noch fester, als er meinen Widerstand spürte.

„Lass mich los", rief ich und hoffte, das Schreien würde die anderen Dorfbewohner alarmieren.

Er stieß einen barschen Laut aus und schüttelte mich unsanft am Arm, sodass meine Zähne aufeinanderklapperten. Ich öffnete meinen Mund, um zu schreien, doch er drückte mir seine freie Hand fest auf Mund und Nase. Ich bekam keine Luft mehr. Wollte er mich umbringen?

Mein Geist ging in Panikmodus über. Ich erinnerte mich an eine Lektion in Selbstverteidigung, die wir im Sportunterricht bekommen hatten. Ich hatte damals gedacht, ich würde so etwas nie anwenden müssen ...

Ich holte Schwung und stampfte mit meiner Ferse mit voller Wucht auf seine in Mokassins steckenden Zehen. Schade, dass ich keine Absatzschuhe anhatte. Doch auch das wirkte. Er hatte wahrscheinlich nicht erwartet, dass ich mich zur Wehr setzen würde.

Die Hand auf meinem Mund lockerte sich, sodass ich wieder Luft bekam. Ich zog mein Knie hoch, um ihm in den Schritt zu schlagen. Doch er war schneller, als ich gedacht hätte. Kaum hatte er sich von seiner ersten Überraschung erholt, wich er meinem Knie aus, sodass ich nur seinen Oberschenkel traf. Zwar zuckten seine Mundwinkel etwas, aber in seinen Augen flackerte jetzt der Zorn auf.

Oh, oh.

Er stieß mich mit solchem Schwung rückwärts, dass ich taumelte und fiel. Mit einem unsanften Aufprall landete ich rücklings auf dem Boden. Die Luft wurde aus meinen Lungen gepresst und ich nahm für einen Moment alles nur noch verschwommen wahr. Als sich meine Sicht klärte, stand er breitbeinig über mir.

Ein Ruf erklang. Ich dachte erst, er hätte ihn ausgestoßen, aber er drehte den Kopf, sah sich suchend nach der neuen Stimme um.

Ich blickte zur Seite und mein Herz machte sich im Galopp davon. Dort stand Ohitika.

Er redete offenbar mit dem Typen, der mich gestoßen hatte. Ohitika schien vollkommen ruhig, während der andere zornig klingende Erwiderungen machte. Ich wusste nicht, was ich denken sollte, als Ohitika schließlich gemessenen Schrittes auf uns zukam. Der Angreifer entfernte sich ein Stück von mir. Er hatte eindeutig Angst vor Ohitika, auch wenn er es durch seinen hasserfüllten Ausdruck zu überspielen suchte. Als Ohitika nur noch eine Armlänge von ihm entfernt stand, fauchte er etwas und drehte sich dann auf der Hacke um. Im nächsten Moment war er im dunklen Unterholz verschwunden.

Ich blieb mit Ohitika allein zurück. Er kehrte mir den Rücken zu. Vor Angst und Anstrengung atmete ich noch immer schwer und wagte es nicht, mich aufzusetzen. Er hatte allen Grund, wütend auf mich zu sein. Immerhin war ich ausgerissen. Vielleicht hatte er das Recht, mich zu bestrafen, weil ich in seinem Zelt wohnte ... Wer kannte ich schon mit den Bräuchen dieses Volkes aus?

Ganz langsam drehte er sich zu mir um und schaute auf mich herab. Im Dunkeln konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Ich wartete darauf, dass er etwas sagte, mich ausschimpfte, oder mir zumindest hochhalf. Doch er tat nichts dergleichen. Stattdessen ging er einfach an mir vorbei, in die entgegengesetzte Richtung des anderen Indianers, und würdigte mich keines Blickes mehr.

Würde er mich einfach hierlassen? Wollte er mich nicht mehr bei sich haben? Das war doch gut! Ich könnte einfach aufspringen und meine Flucht fortsetzen. Aber langsam wurde mir klar, dass es ziemlich dumm gewesen war, so Hals über Kopf aufzubrechen. Ich hatte doch keine Ahnung davon, wie man in der Wildnis zu überlebte.

Ich bekam plötzlich Angst bei dem Gedanken, allein im Wald zu sein, dem Typen wieder in die Arme zu laufen. Deshalb bemühte ich mich, auf die Beine zu kommen und Ohitika nachzulaufen. Im Gehen klopfte ich die Erde von meinem Kleid. Oh weh, nun hatte ich es doch schmutzig gemacht. Was würde Wihinapa sagen?

Er lief so rasch und mit geübten Schritten durch den Wald, dass seine Füße kaum ein Geräusch verursachten. Manchmal fürchtete ich, er würde in den Schatten vor mir verschwinden, und ich beeilte mich noch mehr. Wahrscheinlich klang ich für ihn wie ein rasendes Wildschwein, das durchs Unterholz bricht.

Kurz darauf tauchte das Dorf wieder vor uns auf. Ich war beinahe erleichtert und schüttelte über mich selbst den Kopf. Hier war ich also, eine Gefangene, die freiwillig und ohne Fesseln ihrem Wächter hinterherlief. Aber ... er hatte mich schließlich gerettet. Und nicht zum ersten Mal.

Im Tipi war Wihinapa wach und hockte vor der Feuerstelle. Sie hatte ein kleines Feuer gemacht, um etwas zu sehen. In ihren großen Augen spiegelte sich der Schein der Flammen. Als sie mich sah, sprang sie auf und rannte an Ohitika vorbei auf mich zu. Sie fasste mich bei den Schultern und redete rasch wie ein Wasserfall. Doch sie wirkte nicht wütend. Eher erleichtert. Wieder meldete sich mein schlechtes Gewissen.

Ohitika sagte weiterhin nichts, blickte mich auch nicht an. Er ignorierte mich einfach. Und diese Missachtung schmerzte mich mehr, als ich es zugeben wollte. Während Wihinapa weiterhin mit mir flüsterte, legte er sich auf sein Lager nahe des Eingangs und drehte uns den Rücken zu. Ich hingegen konnte noch lange nicht einschlafen.

* * *

Inzwischen war ich seit drei Tagen im Dorf und hatte mir überlegt, dass ich meine nächste Flucht besser planen sollte — wenn ich es denn wieder versuchte. Ich beschloss, mich hier erst einmal eine Weile umzusehen, die Umgebung kennenzulernen und vielleicht mehr darüber zu erfahren, wie ich zu einer Stadt käme. Deshalb verhielt ich mich möglichst unauffällig und versuchte, alles zu tun, was von mir erwartet wurde. Denn ich wusste, auch wenn er es nicht offensichtlich tat, dass Ohitika mich ganz genau im Auge behielt. Er war in den letzten Tagen im Dorf geblieben und mir gegenüber immer noch verschlossen, misstrauisch — wie konnte ich es ihm verübeln?

Der unheimliche Typ, der mich im Wald abgefangen hatte, war mir Dorf schon einige Male über den Weg gelaufen. Jedes Mal hatte ich seinen verächtlichen Blick gespürt und versucht, ihn zu ignorieren. Eines Tages fragte ich Wihinapa, wie sein Name war. Mit Worten und Gesten konnten wir uns halbwegs verständigen.

„Thokala-gleschka", sagte sie leise und sah dabei finster drein.

Ich hätte gern mehr über ihn erfahren.

Wihinapa versuchte generell, mir das Leben so leicht wie möglich zu machen, und ich war ihr dankbar dafür. Sie gab sich Mühe, mir ihre Sprache beizubringen, wann immer sie die Gelegenheit dazu hatte. Zumindest einige Wörter konnte ich jetzt manchmal aus den Gesprächen um mich herum heraushören. Besonders das Wort für Weiße, waschitschu, kam sehr häufig vor, wenn ich in der Nähe stand ...

Da ich morgens mit der Sonne aufstand und den ganzen Tag über beschäftigt war, all das Neue um mich herum aufzunehmen, war ich abends so müde, dass ich kaum noch dazu kam, mich nach meiner Familie und meinen Freunden zu sehnen. Würde ich sie je wiedersehen? Natürlich — noch gab ich die Hoffnung nicht auf!

Am dritten Abend saß ich mit Wihinapa im Tipi. Der Zelteingang war weit zurückgeschlagen, damit die leichte Brise, die sich nach einem Tag drückender Hitze erhoben hatte, ins Innere gelangen konnte. Ich schaute ihr andächtig dabei zu, wie sie im letzten Licht des Tages ein Stück Leder mit gefärbten Stachelschweinborsten bestickte. Sie war so geschickt darin! Ich selbst hatte mich noch nie für Handarbeit begeistern können und hoffte, dass ich das nicht lernen müsste.

„Wo sind eigentlich eure Eltern?", fragte ich Wihinapa auf Englisch. Manchmal unterhielten wir uns so miteinander, ich auf Englisch, sie auf Lakota. Wir hatten beide keine Ahnung, was die andere sagte, aber es vertrieb die Einsamkeit ein wenig. „Sind sie hier im Dorf?" Vielleicht waren sie gestorben?

„Wawichak-upi Ohitika", erwiderte sie mit einem Nicken auf ihre Stickarbeit und befeuchtete die nächsten Stachelschweinborsten in ihrem Mund, um sie flexibler zu machen.

„Das ist für Ohitika?", sagte ich und nickte. „Sehr schön." Es sah aus wie das Muster für neue Mokassins.

Als hätte sein Name ihn herbeigerufen, schlüpfte Ohitika ins Zelt — beinahe geräuschlos wie immer. Ich zuckte zusammen. Nicht, weil mich seine Gegenwart immer ein wenig nervös machte. Ich konnte nicht genau sagen, warum.

Wihinapa faltete ihr Lederstück rasch zusammen, bevor er es sah. Also sollte es wirklich ein Geschenk werden. Sie verzog sich damit in den Hintergrund des Zeltes. Ich wollte mit ihr kommen, doch eine Geste von Ohitika hielt mich zurück.

„Ena", sagte er mit befehlender Stimme und dann noch etwas, aus dem ich nur „Tatanka Wakon" heraushörte, den Namen des alten Mannes, der ein wenig Englisch sprach.

Er ging wieder aus dem Zelt und ich folgte ihm durch das Dorf zu dem Tipi, das mit seltsamen Zeichen bemalt und mit Gegenständen behangen war. Drinnen fand ich tatsächlich Tatanka Wakon und seine Frau vor, die mich so nett versorgt hatte. Sie schenkte mir von hinten ein Lächeln, das eine Zahnlücke entblößte.

„Tatanka Wakon bitten Malie an sein Feuer", sagte der alte Mann, der an der kalten Feuerstelle saß und sich an einen Dreifuß lehnte. Inzwischen glaubte ich, dass er so etwas wie der Dorfschamane war, ein Medizinmann. Es roch wieder stark nach getrockneten Kräutern hier drin, der Duft war belebend.

Ich bedankte mich artig, nahm seine Aufforderung an wartete gespannt, was nun kam. Ohitika ließ sich im Schneidersitz mir gegenüber nieder. Ich riss leicht die Augen auf, als Tatanka Wakon meinen Rucksack zu sich heranzog und das Buch herausholte, das mir schon so viele Schwierigkeiten gemacht hatte.

Er schlug es auf, legte mir das Buch auf den Schoß — verkehrt herum — und nickte auffordernd. Sein knorriger Zeigefinger lag auf einem der Worte.

„Oh ... ich soll das vorlesen?", fragte ich unschlüssig.

„Tatanka Wakon nicht wissen Geheimnissprache der Waschitschu. Malie kann?"

Ich nahm das Buch und drehte es um, sodass ich sehen konnte, worauf er zeigte. „Das heißt Flöte."

Seine kleinen schwarzen Augen, die von Fältchen eingerahmt waren, glitzerten — vielleicht erstaunt, vielleicht belustigt?

Als er nichts sagte, sondern weiterhin abwartete, began ich einfach, weiterzulesen. Ich arbeitete mich durch den Absatz, in dem erklärt wurde, dass junge Sioux-Männer nachts auf Flöten spielten, um das Mädchen ihres Herzens zu betören. Angeblich sollten diese Flöten magische Kräfte haben, denen sich die Angebetete nicht widersetzen konnte. Tatsächlich hatte ich abends schon die leise melancholische Musik von Flöten in der Ferne gehört und es für einen Traum gehalten, so surreal klangen die verzerrten Töne. Ich blickte wieder auf und begegnete Ohitikas durchdringendem Blick. Er hatte mir aufmerksam zugehört.

Verdammt, warum wurde ich jetzt schon wieder rot? Er hatte doch garantiert nichts davon verstanden. Rasch beugte ich mich über das Buch und tat, als würde ich meine Stelle suchen.

„Diese Blätter reden mit dir", sagte Tatanka Wakon ehrfürchtig. „Erzählen Geschichten. Geheimnisse der Lakota."

„Ja." Ich nickte. „Aber es sind nur Worte. Ich kann dir beibringen, wie man sie liest. Dann sind es keine Geheimnisse mehr."

Tatanka Wakon nickte bedächtig. „Ohitika wird lernen. Ich habe schon zu viele Winter gesehen. Meine Augen ..." Er suchte nach dem richtigen Wort.

„Sie sind schlecht?", fragte ich.

Er bestätigte. „Aber Ohitika nicht."

„Aber", wandte ich ein. „Ich kann ihm doch nicht das Lesen beibringen, wenn wir uns nicht einmal verständigen können."

„Tatanka Wakon helfen."

Ohitika hatte die ganze Zeit über ernst zugehört und nickte nun, als Tatanka Wakon ihn direkt ansprach.

Also so würde das laufen. Tatanka Wakon würde als unser Dolmetscher fungieren, bis ich besser Lakota oder Ohitika besser Englisch sprechen konnte.

„Warum bringst du ihm nicht Englisch bei?", fragte ich den alten Medizinmann.

Der schüttelte den Kopf. „Englisch sehr ... schlecht", sagte er und grinste, als ihm das Wort wieder einfiel, das ich ihm gerade gesagt hatte. „Sprache der Waschitschu besser lernen von Waschitschu."

Ich hätte jetzt erwähnen können, dass es auch unter den Weißen verschiedene Sprachen gab und Englisch nicht meine Muttersprache war — aber ich tat es nicht. Denn irgendwie gefiel mir die Aussicht, mehr Zeit mit Ohitika verbringen zu können ...


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