Plötzlich Indianer - Eine Zei...

By Booky_2017

260K 14.5K 2.1K

Die siebzehnjährige Marie hatte sich so sehr auf die Kursfahrt mit ihrem Englisch-Leistungskurs gefreut, der... More

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kaptel 5
Kapitel 6
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Epilog
Zugabe

Kapitel 7

9.2K 465 87
By Booky_2017

Nach der Versammlung, in der das Urteil über mich gesprochen worden war, führte mich Ohitika nach draußen. Meinen Rucksack und all meine Habseligkeiten durfte ich leider nicht mitnehmen. Sein Tipi stand im äußeren Bereich des Dorfs, nahe am Waldrand. Ich musste sofort daran denken, dass ich so vielleicht besser fliehen könnte. Wenn sich die Gelegenheit ergab, wollte ich sie nutzen, denn ich würde garantiert nicht als Gefangene in einem Indianerdorf versauern. Irgendwo musste ich doch auf andere Weiße stoßen. Weiße ... Jetzt dachte ich schon wie ein Indianer.

Das Tipi von Ohitika war kleiner als das Versammlungszelt. Auch hier war der Boden mit Decken und Fellen ausgelegt und wirkte dadurch sogar recht gemütlich. An den Zeltwänden standen allerlei Gegenstände für den täglichen Gebrauch, sowie ein paar dieser dreifüßigen Gestelle mit Weidengeflecht, die als eine Art Rückenlehne dienten.

An der Feuerstelle saß eine junge Frau, eher ein Mädchen, die mit einer Handarbeit beschäftigt war. Sie hielt ein zugeschnittenes Lederstück in den Händen und führte mit einer dicken Knochennadel Stiche aus. Als sie aufblickte und ein Lichtstreifen von draußen auf ihr Gesicht fiel, sah ich, dass sie ziemlich hübsch war. Sie hatte große braune Rehaugen, ebenmäßige Züge und dicke rabenschwarze Zöpfe, die über ihre Schultern fielen. Ihre Ohren schmückten runde Anhänger, die etwa so groß waren wie Zwei-Euro-Münzen und aus einem glänzenden gelblich-weißen Material bestanden, das wie Perlmutt schillerte.

Sie konnte kaum älter sein als ich, dachte ich bei näherem Betrachten. War das etwa seine Frau? Bei dem Gedanken verspürte ich einen leisen Stich der Eifersucht, obwohl das total unsinnig war. Ich wollte doch nichts von Ohitika!

Das Mädchen hatte seine großen Augen unverwandt auf mich gerichtet. Sie blickten mich genauso durchdringend an wie Ohitikas und auf einmal fiel mir auch die Ähnlichkeit in ihren Gesichtszügen auf — die gleiche gerade Nase, die hohen Wangenknochen und vollen Lippen ... Vielleicht war sie seine Schwester.

Ohitika erzählte ihr etwas auf Lakota und sie hörte zu, ohne ihn zu unterbrechen. Dann neigte sie den Kopf und legte ihre Handarbeit beiseite. Ohitika verließ das Zelt und das Mädchen kam auf mich zu. Sie bewegte sich so anmutig wie eine Balletttänzerin. Im Gegensatz zu ihr kam ich mir wie ein Trampeltier vor.

„Wihinapa", sagte sie und zeigte auf ihre Brust, als sie vor mir stehen blieb. Sie war etwa genauso groß wie ich.

Ich nahm an, dass sie mir damit ihren Namen sagen wollte. „Wi-hi-napa?", wiederholte ich. Die fremdartigen Laute kitzelten meinen Rachen. Es war eine sehr kehlige Sprache.

Sie lächelte und schien sich zu amüsieren. Wahrscheinlich hörte sich meine Aussprache für sie komisch an. Ich sagte ihr meinen Namen und sie wiederholte ihn, wobei sie ihn genau wie Tatanka Wakon mit einem „l" statt einem „r" aussprach.

„Malie." Auch nach mehrmaligem Vorsprechen gelang es ihr nicht, das „r" korrekt nachzuahmen. Vielleicht gab es in ihrer Sprache diesen Buchstaben nicht. Wie bei den Chinesen, fuhr es mir durch den Kopf. Ich zuckte mit den Schultern. Es störte mich nicht weiter. Ich würde sowieso nicht lange bleiben.

Wihinapa zog die Brauen zusammen, als wäre sie über ihre eigene Unfähigkeit frustriert. Dann wanderte ihr Blick an mir herunter und ihre Augen wurden schmal. Wahrscheinlich waren meine nackten Beine hier ein Tabu. Ich hatte bisher bei allen Frauen eine Art lange Hose unter dem knielangen Kleid gesehen. Sie winkte mir, mitzukommen, und führte mich in den hinteren Bereich des ovalen Zeltinneren. Dort lagen einige gestapelte Lederdecken, Kochgeschirr und verschiedene Taschen und Säcke aus Leder, deren Inhalt ich nur erraten konnte.

Wihinapa schlug eine Lederdecke auf, darin kam ein Kleid aus weißem Wildleder zum Vorschein. Als sie es auseinanderfaltete und vor mir hochhielt, sah ich, dass es an den Ärmeln und im Schulterbereich bestickt war — nicht mit Perlen, wie ich es oft bei indianischem Schmuck gesehen hatte, sondern mit länglichen dünnen Streifen in Rot-, Braun- und Gelbtönen. Unten am Saum und unter den Ärmeln hingen lange Fransen herab. Es sah eigentlich ganz hübsch aus und das Leder fühlte sich weich und geschmeidig an. Sie hielt mir das Kleid entgegen und blickte mich auffordernd an.

„Ich?", fragte ich entgeistert und deutete dabei auf mich. Sie wollte, dass ich dieses schöne Kleid trug, das sogar reicher dekoriert war als ihr eigenes?

Sie nickte. Ich zuckte die Schultern. Also gut, wie sie wollte. Sie reichte mir auch noch ein Paar Leggings, die ebenfalls aus weißem Leder bestanden — dabei handelte es sich eigentlich nur um zwei knielange Beinlinge —, und bestickte Mokassins. Es war mir etwas peinlich, mich vor ihr auszuziehen, wobei sie wenigstens den Blick abwendete. Doch als ich in BH und Slip dastand, wurden ihre Augen groß und ich konnte die Fragen darin erkennen. Wie schade, dass wir noch nicht miteinander sprechen konnten. Ich beschloss, meine Unterwäsche fürs Erste anzubehalten und bei nächster Gelegenheit zu waschen. Dann versuchte ich, die ledernen Beinlinge anzulegen und stellte mich dabei anscheinend ziemlich dumm an, denn Wihinapa kicherte und kam mir zu Hilfe. Sie legte sie um meine Waden und befestigte sie über dem Knie mit Lederbändern, wobei sie auf meinen Verband am Knöchel achtete. Das war eine seltsame Art, Hosen zu tragen — sie ließen ja die Oberschenkel ganz frei ... Ob Wihinapa gar keine Unterhose trug?

Das Kleid streifte ich selbst über und schlüpfte dann in die Mokassins, die mir erstaunlich gut passten. Als ich fertig war, zupfte ich an meinem neuen Gewand herum, das mir bis knapp über die Knie hing. Ich fühlte mich verkleidet, ein bisschen wie beim Karneval. Aber es passte mir gut. Jetzt würde ich nicht mehr so stark auffallen ... abgesehen von meinen rotblonden Haaren natürlich.

Wihinapa murmelte etwas auf Lakota und warf mir einen fragenden Blick zu, während sie meinen Pferdeschwanz berührte. Ich nickte ergeben, weil ich schon ahnte, was sie von mir wollte. Sie entfernte das Haarband und begutachtete es neugierig, zog den Gummi zwischen ihren Fingern auseinander und ließ ihn wieder zurückschnellen. Dabei sprang er ihr aus der Hand. Sie blickte mich erschrocken an. Ich grinste und nach kurzem Zögern erschien auch auf ihrem Gesicht ein strahlendes Lächeln, bei dem ihre weißen Zähne aufblitzten. In diesem Augenblick spürte ich eine gewisse Verbundenheit zu ihr und fühlte mich an meine beste Freundin Sarah erinnert. So unterschiedlich wir auch waren, Wihinapa war letztendlich auch nur ein Mädchen wie ich.

Sie begann, mein Haar mit einem Knochenkamm zu entwirren und flocht es dann zu zwei Zöpfen, die mir über die Schulter fielen, wenn sie auch nicht ganz so lang waren wie ihre. Jetzt hätte ich gern einen Spiegel gehabt, um meine Verwandlung zu begutachten. Wihinapa jedenfalls sah sehr zufrieden aus, als sie sich vor mir aufstellte und mich mit prüfendem Blick und in die Hüfte gestützten Händen musterte.

Sie sagte etwas, ein Wortschwall, aus dem ich nur das Wort Ohitika herauszuhören glaubte. Da ich nichts verstand, seufzte sie schließlich und verzog das Gesicht auf eine komische Art, sodass ich grinsen musste. Schließlich nahm sie mich bei der Hand und zog mich aus dem Tipi.

Ich verbrachte den ganzen Tag mit Wihinapa. Von Ohitika sah ich nichts; auch die meisten anderen jungen Männer schienen ausgezogen. Nur ein paar Kinder spielten in und um das Zeltdorf und die Frauen gingen ihren Beschäftigungen nach. Zuerst begaben wir uns in das schattige Wäldchen, wo wir einigen anderen Frauen begegneten, die Holz sammelten. Sie starrten mich nicht geradewegs an, aber ich spürte doch ihre verhaltenen Blicke, wenn sie glaubten, ich würde es nicht bemerken. Wihinapa zeigte mir, welche trockenen Äste ich aufsammeln und wie ich sie am besten auf meinem Rücken transportieren sollte.

„Chan", sagte sie und deutete auf das Holz. Ich begriff, dass sie versuchte, mir etwas Lakota beizubringen, und sprach ihr alles nach, was sie mir zeigte. Die anderen Frauen und Mädchen hörten zu und lächelten hinter vorgehaltenen Händen, wenn ich mich bei der Aussprache dämlich anstellte. Einige betrachteten mich aber auch mit unverhohlenem Misstrauen. Mir fiel wieder auf, dass ich vergleichsweise festlich gekleidet war. Alle anderen Frauen trugen nur einfache braune Lederkleider ohne viele Verzierungen. Wihinapa musste mir ihr bestes Gewand zur Verfügung gestellt haben. Ich hoffte, dass ich es nicht zerreißen würde, indem ich an einem Ast hängen blieb oder so.

Zusätzlich zum Holz sammelten wir auch einige essbare Beeren und Wurzeln, die ich später vor dem Zelt in kleine Würfel schnitt, um unser Abendessen — eine Fleischbrühe — vorzubereiten. Wihinapa machte mir vor, wie man ein Feuer entzündete. Wie geschickt sie die zwei Hölzchen gegeneinander rieb ... das untere hatte eine runde Vertiefung, in die das andere Stöckchen gestellt und rasch zwischen den Händen gedreht wurde, bis Rauch aufstieg. Sie pustete darauf und steckte etwas getrocknetes Moos dazwischen, um die kleine Flamme zu nähren. Als ich es versuchte, scheiterte ich kläglich. Aber sie lächelte nur nachsichtig.

Sie gab das Wurzelgemüse und einige getrocknete Streifen Fleisch in das Wasser, das in dem aufgehängten Ledersack mit heißen Steinen brodelte. Da wir draußen kochten, weil es im Zelt zu warm gewesen wäre, konnte ich alles sehen, was vor sich ging. Um unseren ‚Kessel' herum schnüffelten die halbwilden Hunde. Sie hatten sich inzwischen an meinen fremden Geruch gewöhnt. Ich ging ihnen trotzdem vorsichtshalber aus dem Weg. Ab und zu scheuchte Wihinapa sie mit einem geworfenen Steinchen davon.

Zwischendurch kam die alte Frau zu uns herüber und nahm mir den Verband aus Birkenrinde ab. Ich stellte erstaunt fest, dass die Schwellung darunter beinahe ganz zurückgegangen war, und weh tat es auch nicht mehr.

Mein Magen knurrte, als von überall um uns herum Essensduft aufstieg. Die Sonne stand bereits tief über dem Horizont und inzwischen kehrten auch die ersten Männer heim, viele von ihnen nur im Lendenschurz bekleidet und mit erbeuteten Kleintieren in der Hand. Aber Ohitika kam nicht. Ich schielte zu Wihinapa, die allerdings nicht besorgt darüber wirkte.

Sie füllte uns beiden eine Schüssel von der Suppe ein und ich löffelte sie mit wenig Begeisterung. Wieder vermisste ich schmerzlich das Salz und andere Gewürze, die ich gewöhnt war. Wenn es hier tagtäglich nur Eintopf gab, wäre das eine sehr eintönige Ernährung. Aber ich musste mich stärken, wenn ich irgendwann die Flucht wagen wollte.

Nach dem Essen nahm Wihinapa mich mit zu einer Stelle am Fluss, die relativ flach und breit und vom Ufer aus gut zugänglich war. Es dämmerte bereits, Mücken oder kleine Fliegen schwirrten in Wolken in der Nähe des Wassers und zerstoben, sobald wir uns näherten. Im Fluss badeten einige Frauen und Mädchen, alle nackt. Zum Glück waren hier keine Männer! Wihinapa machte kurzen Prozess und entledigte sich ihrer Kleidung. Dann watete sie ins Wasser und ließ sich ganz hineingleiten. Ich stand noch immer unschlüssig am Ufer. Sie drehte sich zu mir um und winkte mir zu.

Langsam zog ich mich aus und blickte mich dabei unauffällig um. Die Badestelle lag etwas abseits von der Lichtung, verdeckt vor den Zelten durch Bäume und Gebüsch. Es wurde rasch dunkel, der letzte violette Schimmer lag bereits über dem Horizont und ging immer mehr in Grau über. Was, wenn ich mich hier davonschleichen würde? Wenn Wihinapa gerade nicht schaute, weil sie schwamm ... Aber da waren noch die anderen Frauen. Nach und nach kamen diese jetzt wieder aus dem Wasser und rieben sich mit Sand ab, bevor sie ihre Klamotten überstreiften. Ich legte nur meine Mokassins und Leggings ab, das Kleid mochte ich vor ihnen allen nicht ausziehen. Dann raffte ich den Rock und ging mit den Füßen ins Wasser, wo ich mir notdürftig das Gesicht wusch. Wihinapa bedachte mich zwar mit einem erstaunten Blick, aber sie drängte mich nicht und dafür war ich dankbar.

Als wir zurück zu den Zelten kamen, hatte sich die Dunkelheit über das Dorf gesenkt. Jetzt leuchteten die Tipis von innen mit einem diffusen goldenen Schein wie riesige Laternen. Die Bemalung auf den Lederdecken trat dadurch besonders zum Vorschein. Eigentlich wirkte alles sehr friedlich. Fast könnte man meinen, ich wäre in den Ferien in ein Zeltlager gefahren, in dem wir uns alle wie Indianer verkleideten. Aber das stimmte nicht. Ich war immer noch eine Gefangene hier, und alles war mir so fremd.

Wihinapa flüsterte noch vor dem Zelt mit einer Freundin, während ich mich zurückzog und im Tipi auf mein Lager schlüpfte, das sie mir vorher gezeigt hatte. Es befand sich im hinteren Teil, nahe der Zeltwand. Ich lauschte den leisen Worten einer fremden Sprache und den Geräuschen der Nacht ... der Ruf eines Käuzchens, ein Knacken im Unterholz des nahen Waldes, das leise Wiehern eines Pferds, das vor einem Zelt in der Nähe angepflockt war ... All das hätte ich mich leicht in den Schlaf wiegen können, aber ich war innerlich zu aufgewühlt. Ich dachte an meine Familie, meine Freunde. Was hätte ich jetzt darum gegeben, einen von Frau Bühners unangekündigten Tests zu schreiben. Oder von meinem Bruder Max genervt zu werden. Auch wenn Wihinapa ein nettes Mädchen war, so konnte sie doch Sarah nicht ersetzen, mit der ich über alles reden konnte.

Als Wihinapa das Zelt betrat, stellte ich mich schlafend. Sie bewegte sich beinahe völlig geräuschlos und zündete kein Feuer an, sondern zog sich aus und schlüpfte ebenfalls unter ihre Decke. Ihr Lager befand sich eine Armlänge von meinem entfernt. Ich blieb still liegen und unterdrückte sogar das Bedürfnis, nach einer Mücke zu schlagen, die frech mein Ohr umsummte. Endlich hörte ich ihre gleichmäßigen Atemzüge.

Warum war Ohitika noch nicht wiedergekommen? Egal, das war meine Chance! Ein bisschen hatte ich ein schlechtes Gewissen ... Wihinapa hatte mich so freundlich behandelt und jetzt würde ich ihr bestes Kleid stehlen — denn ich glaubte nicht, mich im Dunkeln aus- und wieder anziehen zu können, ohne sie zu wecken. Ich würde ihr dafür meine alten Sachen dalassen. Ganz leise schlug ich die Decke zurück und kroch in Richtung der Zeltwand. Auf den weichen Fellen verursachten meine Knie und Hände kein Geräusch.

Die Lederwände der Tipis wurden von außen mit Holzpflöcken am Boden festgehalten. Ich hatte mir das bei Tageslicht genau angeschaut. Ich legte mich flach auf den Bauch und steckte meinen Arm unter der Zeltwand hindurch, so weit ich konnte. Dann versuchte ich, mit der Hand einen der Pflöcke aus dem Boden zu ziehen. Er steckte tief und es dauerte unendlich lange, bis ich ihn etwas gelockert hatte. Mir brach der Schweiß am ganzen Körper aus. Jederzeit könnte Wihinapa aufwachen oder Ohitika heimkehren. Endlich glitt das nach unten spitz zulaufende Holz aus dem Erdboden. Jetzt war die Öffnung unter der Zeltwand breit genug, dass ich mich hindurchschieben konnte.

Ich hielt die Luft an, bis ich es geschafft hatte. Draußen blieb in eine Weile mit angstvoll klopfendem Herzen stockstill liegen. Vor mir lag der dunkle Waldrand, kein weiteres Zelt, an dem ich vorbeischleichen musste, um ihn zu erreichen. Die Gelegenheit war günstig. Als ich nichts sah oder hörte, was darauf hindeutete, dass mich jemand bemerkt hatte, eilte ich geduckt und möglichst leise auf die dunkle Baumgrenze zu. Wohin sollte ich mich wenden? Ich wusste es nicht und beschloss, mir später darüber Gedanken zu machen. Wie schade, dass ich meinen Rucksack zurücklassen musste, aber es war sowieso nichts Nützliches mehr darin, das mir bei meiner Flucht geholfen hätte.

Ich schlug mich in das dunkle Unterholz. Unter meinen Füßen knirschte und raschelte es. So konnte ich mich nur ganz langsam und vorsichtig fortbewegen, zumal ich auch kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Das Mondlicht fiel nur gedämpft durch die dichten Baumwipfel.

Als ich den Fluss erreichte, atmete ich ein wenig auf. Jetzt konnte ich im Wasser weiterlaufen und würde so gleichzeitig meine Spuren verwischen. Außerdem wusste ich, dass der Fluss mich wieder zurück zu meinem Ausgangspunkt in den Bergen führen würde.

Ich zog mir die Mokassins aus und wollte ins Wasser waten, als mich plötzlich eine harte Hand am Nacken ergriff.

Ich zuckte so heftig zusammen, als hätte mich der Blitz getroffen. Beinahe hätte ich aufgeschrien und ich glaubte schon, mein Herz wäre stehen geblieben. Doch dann fing es nur umso schneller und heftiger an zu pochen. Die Hand ließ mich los, aber ich konnte mich nicht rühren, wagte es nicht einmal, mich umzudrehen.

Vor mir baute sich eine große, breitschultrige Gestalt auf. Das vom Flusswasser reflektierte Mondlicht beleuchtete die leicht schiefen Gesichtszüge des jungen Mannes. An dem Halsband aus Knochen erkannte ich ihn schließlich — das war der Typ, der im Versammlungszelt mit Ohitika diskutiert hatte. Er hatte mich bereits dort nicht besonders freundlich angesehen und wirkte jetzt mindestens genauso mürrisch. Bei seinem Blick richteten sich die Härchen in meinem Nacken auf. Er war gleichzeitig anzüglich und hasserfüllt. Was hatte ich ihm nur getan?

"Witkowin waschitschu", spie er mir entgegen und noch einiges anderes, das ich nicht verstand.

Ich wich einen Schritt zurück, doch seine Hand schoss hervor und packte mich hart am Oberarm. Mit einem Ruck zog er mich näher an sich, sodass ich beinahe gegen seine breite, nackte Brust stieß. Ich schluckte. Er starrte mir ins Gesicht und ließ seine freie Hand an meinem Arm heraufwandern. Jetzt wollte ich doch einen Schrei ausstoßen, doch meine Kehle war wie zugeschnürt.

Continue Reading

You'll Also Like

208K 7.7K 37
Ruby lebt ihr einfaches Leben in Brighton. Sie wohnt bei ihrer Tante, seit ihre Eltern nach einem Tagesausflug spurlos verschwanden. Eines Tages wird...
Skythief By Lena

Science Fiction

281K 28.5K 98
~ ✨ ~ Eine Vogelfreie mit der Stimme eines Engels. Ein Kronprinz, der Intrigen zu einer Kunstform erhoben hat. Eine Ordensdame, die zur Beleidigung f...
267K 19.3K 35
Hättest du jemals gedacht, dass du dich in eine fremde Person verlieben könntest? Noch dazu in eine gleichen Geschlechts? Ich nämlich nicht. Ich, Ton...
56.8K 6K 63
[WATTYS 2023-WINNER/Fesselndste Welt] ** Marian, stehlende Adelstochter mit großem Herzen trifft auf Robin Hood, verwegener Dieb mit gewaltigem Ego...