Leseprobe - Zu anderen Ufern

By xxx-wow-xxx

8.3K 137 13

Phil, attraktiv, heterosexuell - zumindest dachte er das 25 Jahre lang. Bis er nach einer alkoholgeschwängert... More

Kapitel 1

Kapitel 2

1.6K 69 9
By xxx-wow-xxx

Etwas kitzelte ihn an der Nase, holte ihn aus den traumlosen Tiefen seines wohlverdienten und dringend benötigten Schlafs.

Etwas unwirsch rieb er sich mit dem Handrücken über die Nase, dann noch einmal, knurrte vorsichtshalber einmal leise in die Richtung, aus der er die Störung und die unangenehme Penetration seiner Nase vermutete. Doch auch sein Knurren schien in keinster Weise von Erfolg gekrönt und so beschloss er widerstrebend, das nutzlose Knurren einzustellen und stattdessen doch die Augen zu öffnen und den Störenfried, der noch immer seine Nase angriff, mit seinem eisigsten Blick zu verjagen.

Doch kaum hatte er die Augen mehr als eineinhalb Millimeter geöffnet, wurde ihm schlagartig bewusst, dass dies ein Fehler gewesen war. Denn augenblicklich traf ihn der Sonnenstrahl, der zuvor nur seine Nase gekitzelt hatte, auch mitten ins Auge, fuhr ihm direkt in sein Hirn und wütete dort wie ein heißes Messer in seiner sich an diesem Morgen seltsam schwammig anfühlenden Gehirnmasse herum.

Schnell schloss er die Augen wieder und stöhnte leise auf.

Sein Kopf schmerzte und nur langsam gelang es ihm gedanklich zu der Frage durchzudringen, warum es ihm denn um Himmels willen bitte schön so elend ging. Und noch länger dauerte es, bis er sein wachsweiches Gehirn dazu überreden konnte, einige Details des gestrigen Abends zu enthüllen. Denn dort vermutete er die Ursache für seinen bescheidenen Allgemeinzustand an diesem Morgen.

Und richtig – er erinnerte sich.

Rolfi hatte Geburtstag und ihn mit in diesen schrecklichen Gruselkabinett-Club geschleppt und dann mal wieder alleine gelassen, woraufhin er sich ein paar Bier genehmigt hatte. Und offensichtlich waren dies ein paar Bier zu viel gewesen. Und dann hatte er Mark kennen gelernt und mit diesem ebenfalls noch ein paar Bier getrunken, bis sie dann zusammen...

Mit einem Schlag saß er kerzengerade im Bett, nur um mit einem leisen Aufstöhnen sofort wieder in die Kissen zu sinken, als nicht nur ein beinahe unerträglicher Schmerz einmal quer durch seinen Kopf schoss, sondern auch sein Mageninhalt, der sich in diesem Moment das erste Mal so richtig bemerkbar gemacht hatte, beinahe seinen natürlichen Aufbewahrungsort verlassen und den Weg in höhere Gefilde angetreten hätte.

Und doch konnte dies alles nicht verhindern, dass sie nun, einmal entfesselt, ungehemmt und erbarmungslos auf ihn einprasselten – die Bilder der vergangenen Nacht.

Ebenso ungeheuerlich wie intensiv.

Und sich von innen in seine geschlossenen Augenlider zu brennen schienen.

Seine Hände an Marks Hintern.

Marks Lippen an seinen Lippen.

Marks Lippen an seinen Brustwarzen.

Marks Lippen an ...

Shit!

Unwillkürlich fasste er sich mit beiden Händen an die Schläfen, drückte zu, doch die Bilder ließen sich nicht ausblenden. Stattdessen konnte er die Szenen der letzten Nacht inzwischen nicht nur sehen, sondern auch noch hören.

Sein Stöhnen in Marks Ohr.

Seine Stimme, die leise Marks Namen rief.

Das unbeschreibliche Geräusch seines Unterleibs, der sich immer wieder an Marks Unterleib drückte und rieb.

Stärker presste er seine Hände an die Schläfen.

Doch die Tatsachen ließen sich weder verleugnen noch vertreiben und schon gar nicht aus seinem Kopf herauspressen.

Er hatte vergangene Nacht Sex mit einem anderen Mann gehabt.

Und verdammt noch mal – er hatte es genossen.

Seine Augenlider flogen wieder auf und unwillkürlich drehte er den Kopf nach rechts.

Und sah Mark dort liegen.

Tief und fest schlafend, mit geschlossenen Augen, die wundgeküssten Lippen zu einem leichten Lächeln geöffnet, die Haare von vergangener Nacht und dem Schlaf zerwühlt.

Fast wie ein Engel.

Und doch eher seine persönliche Apokalypse.

Fuck!

Wieder schloss er die Augen, drückte seine Finger – einem Impuls folgend – noch stärker gegen seine Schläfe, massierte seinen schmerzenden Kopf, in dem seine Gedanken in derselben Geschwindigkeit Karussell fuhren wie die Welt sich um seinen noch immer alkoholschweren, katerbedrohten Kopf drehte. Und trotzdem zwang er sich dazu, seine Gedanken zu ordnen, versuchte der Karussellfahrt seines Hirns ebenso sehr zu trotzen wie dem pulsierenden Schmerz in seinem Schädel, versuchte herauszufinden, was er als nächstes tun sollte.

Denn die Tatsache war nicht wegzudiskutieren – er hatte Sex mit Mark gehabt. Irgendetwas an Mark hatte ihn angesprochen, ihn fasziniert, ihn angemacht. Und er hatte sich hinreißen lassen, hatte eine Grenze überschritten, der er bisher immer so erfolgreich ausgewichen war.

Aber – und war das nicht das entscheidende Aber? – genauso wenig war die Tatsache wegzudiskutieren, dass das alles mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht passiert wäre, wenn er nicht rettungslos betrunken gewesen wäre.

Die ganze Geschichte der vergangenen Nach war doch letztlich nur ein alkoholbedingter Ausrutscher und nicht mehr.

Ein Ausrutscher, der nichts zu bedeuten hatte.

Ein Ausrutscher, den er in die Schublade ‚Erfahrung' schieben würde.

Und dann würde er diese Schublade abschließen, den Schlüssel wegwerfen und – ähnlich der Büchse der Pandora – nie wieder öffnen.

Und genau deshalb – wäre es mit Sicherheit das Beste, wenn er jetzt leise und vorsichtig aufstehen, seine Kleider zusammen suchen und diese Wohnung hier verlassen würde, solange Mark noch schlief. Wenn er Mark und der letzten Nacht für immer den Rücken zuwenden und zurückkehren würde in sein eigenes, heterosexuelles, normales, zufriedenes Leben.

Und damit auch wieder sang- und klanglos aus Marks Leben verschwinden.

Ohne diesen zu wecken.

Ohne noch etwas zu sagen.

Ohne eine Nachricht zu hinterlassen.

Vielleicht nicht gerade die feine englische Art, aber sicherlich für beide Seiten am besten so.

Denn was wäre die Alternative?

Würde Mark sich nach dem Aufwachen mit einem fröhlichen „Ich geh mich mal frisch machen, warte hier" unter die Dusche und dann in die Küche stellen, um ihm nur kurze Zeit später mit einem seligen Lächeln und einem dieser kitschigen Tabletts, auf dem dann eine Tasse Kaffee, ein Brötchen, Marmelade, ein Frühstücksei und zur Krönung ein einsames Blümchen in einer kleinen schmalen Vase stehen würde ein romantisches Frühstück im Bett zu präsentieren?

Sicher nicht.

Da war es doch viel wahrscheinlicher, dass der Morgen nach dem Erwachen in dem verkrampften Versuch einer lockeren Stimmung enden würde. Nicht ohne sich als peinlichen Höhepunkt an der Tür nach vielem Herumgedruckse gegenseitig zu versichern, dass es eine nette Nacht mit einem sympathischen Menschen gewesen war, die man aber niemals wiederholen würde, so dass man sich endlich voneinander verabschieden konnte, nicht aber ohne dem anderen noch ein schönes Leben zu wünschen. Denn dass dieses kleine nächtliche Intermezzo für Mark mehr bedeuten könnte als ein unbedeutender One-Night-Stand – war doch völlig ausgeschlossen. Und so tat er im Grunde sogar sich und Mark einen Gefallen, wenn er einfach still und leise verschwand, während dieser noch schlief.

Also – stand er leise und vorsichtig auf, ignorierte sowohl seinen pochenden Schädel, als auch seinen aufgepeitschten Mageninhalt, der sich orkanartig permanent nach oben schrauben wollte, sammelte stattdessen seine Kleidung zusammen, zog diese über und schickte sich schließlich an zu gehen.

Er hatte Marks Schlafzimmer schon beinahe verlassen, als er sich – einem plötzlichen Impuls folgend – an der Tür noch einmal umdrehte und zu Mark hinübersah, der noch immer tief und fest in seinem Bett schlief.

Den Körper nur halb von der dünnen Bettdecke verdeckt.

Das Haar noch immer zerstrubbelt.

Der Mund noch immer zu einem leichten Lächeln geöffnet.

Die Augen noch immer geschlossen.

Und völlig unerwartet, blitzartig und durch und durch irrational überkam ihn ein Gefühl des Bedauerns und des Verlustes, als er daran dachte, dass er nie wieder in Marks wunderschöne Augen sehen würde.

Noch einen Moment länger blieb er im Türrahmen stehen, starrte, zögerte, wartete, ohne zu wissen worauf.

Doch dann – riss er sich mit einem Ruck los, drehte sich um, kehrte Mark den Rücken zu und verließ dessen Wohnung, um endgültig nach Hause zu gehen – zurück in sein altes Leben.

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
Ein Glas Rollmöpse, zwei Aspirin und vier Tassen Kaffee später fühlte er sich soweit wieder hergestellt, dass er sich auf den Weg zur Arbeit machen konnte. Kurz – es musste so bei seinem dritten Rollmops gewesen sein – hatte er ja mit dem Gedanken gespielt krank zu feiern. Allerdings hatte er sich schon bei seinem fünften Rollmops wieder dagegen entschieden. Denn krankfeiern war einfach nicht seine Art. Er liebte seinen Job und nahm diesen auch ernst. Und außerdem ließ er seine Kollegen nur ungern im Stich.

Und hieß es nicht immer so schön: Wer feiern kann, kann auch arbeiten?

Er hatte zwar keine Ahnung, wer diese Weisheit erfunden hatte – wahrscheinlich ein völlig abstinenter Workaholic ohne Freunde und Humor – aber er würde es einmal darauf ankommen lassen und sich an dieses Sprichwort halten.

Und so hatte er sich auf den kurzen Fußweg zu dem Hotel gemacht, in dem er als Koch arbeitete.

Er war noch nicht weit gekommen, als plötzlich sein Handy klingelte.

Er musste nicht aus Display schauen um zu wissen, dass Rolfi gerade versuchte ihn anzurufen. Ein Anruf, mit dem er im Grunde ja hatte rechnen müssen, dem er aber im Moment am liebsten aus dem Weg gegangen wäre, weil er sich eigentlich nicht in der Stimmung dafür fühlte. Er hatte weder Lust, sich an den vergangene Abend und zwangsläufig an die vergangene Nacht zu erinnern, noch darüber zu sprechen. Aber aus drei stichhaltigen Gründen entschied er sich dann schließlich doch dafür, Rolfis Anruf anzunehmen.

Erstens – würde man im Duden nach dem Begriff ‚penetrante Nervensäge' suchen, würde man daneben wahrscheinlich Rolfis Bild finden und unter den Synonymen sicherlich Rolfis Name.

Zweitens – war da noch sein schlechtes Gewissen, weil er Rolfi gestern an seinem Geburtstag schließlich doch noch alleine in dem Club zurückgelassen hatte. Und wenn er eines nicht wollte, dann dass Rolfi sauer auf ihn war.

Und drittens – wollte er endlich das Handy zum Schweigen bringen, weil es ihm doch ein wenig peinlich war durch die Stadt zu laufen, während es ‚YMCA' aus seiner Hosentasche dudelte – der Klingelton, den Rolfi ihm extra für seine Anrufe aufs Handy gespielt hatte „damit du immer gleich weißt, dass dein liebster bester Freund Rolfi am anderen Ende der Leitung ist".

Also kramte er schließlich doch sein Handy hervor und drückte im Laufen auf den grünen Hörer.

„Hallo Rolfi."

„Schääätzchen!"

Er rollte mit den Augen, musste aber trotzdem grinsen. Er hatte Rolfi schon oft versucht abzugewöhnen ihn so zu nennen – bisher vollständig ohne Erfolg. Und inzwischen – war es ihm schlicht egal. Es gehörte eben zu Rolfi dazu – das Klischee und die Show. Zumal er sehr genau wusste, dass Rolfi, wenn es hart auf hart kam, auch ganz anders sein konnte.

Ernsthaft.

Verständnisvoll.

Verlässlich.

Zupackend, wenn es darum ging für ein Problem eine Lösung zu finden.

Und so ertrug er auch die schrille Seite seines besten Freundes gerne.

Bevor Rolfi noch irgendetwas sagen konnte, beschloss er, gleich den Reumütigen zu spielen.

„Tut mir leid, dass ich gestern einfach so von deiner Geburtstagsfeier verschwunden bin."

Aber zu seiner Überraschung lachte Rolfi am anderen Ende der Leitung nur.

„Papperlapapp, schon vergessen und auch nicht der Grund meines Anrufs. Denn mich interessiert eigentlich viel mehr, wer der schnuckelige Typ war, dem du dich gestern Abend so hemmungslos an den Hals geworfen hast und mit dem du dann abgezogen bist. Wie heißt er? Wo wohnt er? Was macht er? Und vor allem – habt ihrs getan?"

Innerlich stöhnte er auf.

Mist.

Er hätte doch wissen müssen, dass Rolfi seine Augen und Ohren überall und ihn sicherlich beobachtet hatte. Und dass ihm natürlich nicht entgangen sein KONNTE, wie er mit Mark zusammen abgezogen war. Trotzdem hatte er noch immer keine Lust, die Ereignisse der letzten Nacht mit Rolfi zu diskutieren.

„Rolfi, ich ..."

„Ihr habt es getan, oder?"

„Rolfi..."

„OH MEIN GOTT! Ihr habt es wirklich getan! DU hast es getan!"

Einen Moment lang vergaß er vor Schreck einfach weiter zu gehen.

„Rolfi..."

„ENDLICH hast du verstanden, dass im Grunde einer von uns bist. Auf den Tag warte ich doch schon seit mindestens 10 Jahren. Meine Güte ich bin so aufgeregt, ich sollte glatt zur Entspannung zum Frisör gehen, sonst falle ich hier noch in Ohnmacht."

„ROLFI!"

„Was ist denn, Schätzchen?"

„Es hat NICHTS zu bedeuten, also komm mal wieder runter."

Einen Moment herrschte Stille am anderen Ende der Leitung. Ein Zustand, der so ungewöhnlich war, dass es ihn schon wieder irritierte. Doch dann...

„Hat es dir denn gefallen?"

Einen Moment zögerte er es laut auszusprechen. Dann aber gab er sich einen Ruck. Was war denn schon dabei?

„Ja, es hat mir gefallen, aber das hat nichts..."

Doch Rolfi unterbrach ihn. Und zum ersten Mal hatte seine Stimme den Singsang-Ton verloren, den er sonst zur Schau trug. Stattdessen wirkte Rolfi ungewöhnlich ernst.

„Schätzchen, dann hat es alles zu bedeuten."

Und allein Rolfis ernster Ton verlieh seinen Worten eine viel tiefergehende Bedeutung, die sich ihm unangenehm in den Magen bohrte, sich dort festsetzte, ein kleines Geschwür hinein pflanzte und ihm geradezu die Kehle zuschnürte, so dass er auf Rolfis Worte nichts zu erwidern wusste. Aber dieser erwartete offensichtlich keine Antwort, denn er fuhr im selben ernsten Tonfall fort:

„Denk darüber nach, Phil. Und wenn du jemanden zum Reden brauchst – dann weißt du ja, wo du mich findest."

Und noch bevor er wusste, wie ihm geschah, hatte Rolfi aufgelegt.

Einen Moment lang stand er einfach nur da und starrte sein Handy an, als sei es ein Gespenst. Und irgendwie – fühlte er sich auch so. Wie in einem drittklassigen Streifen – irgendeine Mischung aus Horrorfilm und Schnulze. In der er die Hauptrolle des unfreiwillig komischen Idioten spielte, der nichts verstand, im Dunkeln herum tappte und sich mit den guten Ratschlägen pseudopsychologisch angehauchter Nebenfiguren herumschlagen musste, bis am Ende ... ja was eigentlich auf ihn wartete?

Der liebliche Klang einer Autohupe brachte ihn zurück ins Hier und Jetzt.

Erschrocken sah er sich um.

Und bemerkte erst jetzt, dass er mitten auf einem Zebrastreifen stehen geblieben war, das Handy noch immer in der Hand. Und die anderen Verkehrsteilnehmer – namentlich einen ungeduldig-tiefergelegten 3er-BMW-Fahrer mit Vierfach-Dröhn-Auspuff – am Weiterfahren hinderte.

Und so beeilte er sich, das Handy wieder in die Hosentasche zu stecken und so schnell wie möglich die andere Straßenseite und den rettenden Gehsteig zu erreichen.

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
Als er seine Wirkungsstätte betrat, fühlte er sich gleich ein wenig besser.

Er war ein guter Koch, hatte bei einem der besten in der Stadt gelernt und seine Prüfung als Jahrgangsbester abgeschlossen. Er kochte gerne. Kochen hatte für ihn etwas mit Kreativität und Präzision zu tun, war gleichzeitig so kalkulierbar und doch so unberechenbar, dass es für ihn eine eigene Kunstform darstellte, die er beherrschen wollte.

Jeden Tag aufs Neue.

Er betrachtete seine Küche gerne als sein Reich, in dem er der unangefochtene Herrscher war. Die Schürze war sein Mantel, der Kochlöffel sein Zepter, die Kochmütze seine Krone.

Und genau diese Dinge – Kochschürze und Kochmütze – zog er sich nun in dem kleinen separaten Waschraum, der an die Küche angrenzte und neben ein paar Spinden auch noch ein Waschbecken enthielt, an, bevor er sich in ‚seine' Küche begab um sich einen Überblick über das zu verschaffen, was ihn heute erwarten würde.

„Du kommst spät."

Paolo, sein Küchengehilfe, der bereits dabei war Gemüse zu putzen und zu schneiden, sah von seinem Schneidebrett auf und grinste ihn an.

„Wenn ich dich aber so angucke, kann ich mir ziemlich genau vorstellen, warum. War wohl ne heiße Nacht, was?"

Innerlich stöhnte er auf.

Er mochte Paolo im Grunde ja. Er war fleißig, sorgfältig, zuverlässig, immer freundlich, gut gelaunt und hatte eine schnelle Auffassungsgabe. Aber im Moment wäre es ihm lieber gewesen, wenn sein Gehilfe etwas schwerer von Begriff gewesen wäre.

Und so erwiderte er auf Paolos Kommentar nur knurrend:

„Du schneidest die Zwiebeln nicht fein genug."

Aber Paolo grinste nur weiter und wandte sich dann wieder seinem Schneidebrett zu.

Einen Moment länger starrte er Paolo an.

‚Eine heiße Nacht'...

Wieder stiegen Bilder in seinem Kopf auf.

Von blauen Augen und wilden Küssen, die nichts aber auch gar nichts mit heterosexuellen Fantasien gemeinsam hatten...

Unwirsch schüttelte er den Kopf, zwang sich dazu, alle Gedanken an Mark und die vergangene Nacht aus seinem Kopf zu verbannen und sich stattdessen an die Arbeit machen.

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
Die herrliche Ablenkung, die das Kochen und seine Vorbereitungen mit sich brachten, dauerte ganze 10 Minuten. Dann öffnete sich die Tür zu seinem kleinen Reich erneut. Und seine Nase wusste, wer den Raum betreten hatte, noch bevor seine Augen oder sein Hirn die Chance gehabt hätten, dieselbe Information ebenfalls aufzunehmen.

Das Parfüm war unverwechselbar – irgendein blumiger Duft, der ihm jedesmal Kopfschmerzen bereitete, wenn er diesem zu lange ausgesetzt war.

„Guten Morgen, Phil."

Das Stimmchen untermauerte nur, was er eh schon wusste.

SIE war wieder gekommen, um ihn in seiner Küche heimzusuchen.

Langsam drehte er sich um.

Und da war sie – Tess, die in dem kleinen Hotel, dessen Küche er betreute, am Empfang arbeitete. Entsprechend vorzeigbar sah sie auch aus. Lange blonde Haare, blaue Augen, aufregende Figur und ein Zahnpasta-Lächeln wie aus der Colgate-Werbung. Adrett gekleidet in ihrem Kostümchen mit Namensschild. Und doch versteckte sich dahinter ein sehr selbstbewusstes Persönchen, das genau um die Wirkung wusste, die sie auf manche Männer hatte. Wenn man bei seinem Filmvergleich bleiben wollte, war Tess jedenfalls der männermordende Vamp. Nur er hatte sich ihren Anbandelungsversuchen gegenüber bisher immer erfolgreich widersetzt. Und genau das war wahrscheinlich auch der Grund, warum sie es nun schon seit Monaten hartnäckig immer weiter bei ihm versuchte – bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit.

Mit Schwung setzte sich Tess auf die Theke neben ihn und schlug gewollt lasziv ihre schlanken Beine übereinander, die in dem kurzen, nicht ganz zufälligerweise etwas hochgerutschten Rock ihres Kostüms bestens zur Geltung kamen.

Demonstrativ richtete er seinen Blick ausschließlich auf ihr Gesicht.

„Tess, du weißt ganz genau, dass ich es nicht leiden kann, wenn du dich auf die Arbeitsplatte setzt. Auf der Arbeitsplatte wird – wie der Name schon sagt – gearbeitet und nicht herum gelungert."

„Oh, da hat jemand aber schlechte Laune heute."

Tess klimperte ihn unbeeindruckt an, ließ sich dann aber doch – langsam und aufreizend – von der Theke gleiten. Erleichtert wandte er sich wieder der Kalbskeule zu, die er gerade ausnehmen wollte, fest entschlossen, einfach weiter zu arbeiten und Tess und ihre Flirtversuche, zu denen er heute irgendwie noch weniger in Stimmung war als sonst, konsequent zu ignorieren.

Doch Tess hatte offensichtlich beschlossen, es ihm nicht so einfach zu machen.

„Eigentlich bin ich ja nur hier, um dich und Paolo zu holen."

Er bemühte sich nicht von seiner Kalbskeule aufzusehen und möglichst unbeteiligt zu wirken, als er nachhakte:

„Wieso? Und wohin?"

„In den Versammlungsraum. Die beiden Alten haben eine Vollversammlung des Personals einberufen. Angeblich gibt es Neuigkeiten."

Diese Information ließ ihn nun doch aufblicken.

Er wusste, dass Tess mit den beiden ‚Alten' in ihrer bekannt liebenswürdigen Art die Inhaber des kleinen Hotels in dem er arbeitete meinte, nämlich das Ehepaar Ritter, beide knapp über 60, die das Hotel aufgebaut und ihr Leben lang verwaltet hatten. Feine Leute, wie er fand, mit einem großen Verantwortungsbewusstsein für ihr Personal und menschlichen Führungsqualitäten, die es über die Jahre hinweg geschafft hatten, aus dem kleinen Familienbetrieb ein angesehenes Hotel der gehobenen Kategorie mit hervorragender Küche (wenn er das so unbescheiden sagen durfte) und gutem Service aufzubauen, dem aber trotzdem nicht die familiär-freundlich-menschliche Note fehlte, die man in anderen Hotels immer wieder vermisste. Doch in letzter Zeit hatten sich gerade bei Herrn Ritter immer wieder ein paar gesundheitliche Beschwerden eingestellt und es hatte immer wieder Gerüchte gegeben, dass das Ehepaar Ritter in Zukunft etwas kürzer treten würde. Das wiederum hatte innerhalb des Personals hinter vorgehaltener Hand zu besorgten Spekulationen geführt, ob das Hotel geschlossen oder vielleicht verkauft werden würde. Doch Genaueres hatten sie bisher noch nicht erfahren können.

Aber vielleicht würde sich das nun ändern.

„Wann ist die Versammlung?"

Tess lächelte wieder ihr Zahnpasta-Lächeln, offensichtlich zufrieden damit, doch noch sein Interesse geweckt zu haben.

„In 5 Minuten."

Augenblicklich setzte er seine Kochmütze ab und band sich seine Schürze auf. Beides ließ er auf der Theke zurück, während er kurz Händewaschen ging und dann Paolo, der wie so oft mehr oder weniger auffällig damit beschäftigt gewesen war Tess anzustarren, die dies wiederum wie so oft einfach ignoriert und stattdessen lieber ihre manikürten Fingernägel betrachtet hatte, ein Zeichen gab, ebenfalls mitzukommen, so dass sie schließlich zu dritt die Küche verließen.

Nur kurze Zeit später betraten sie den kleinen Versammlungsraum, der dem Personal auch als Aufenthaltsraum in den Pausen diente und auch bei Weihnachts-, Jubiläums-, Geburtstags- und sonstigen Feiern gerne benutzt wurde.

Er sah, dass sie die letzten waren.

Herr und Frau Ritter, die sich an das Kopfende des großen Tisches gesetzt hatten, der das Herzstück des Raums darstellte, waren bereits da und begrüßten sie mit einem Kopfnicken und einem Lächeln. Schnell beeilte er sich, auf einem der letzten freien Stühle Platz zu nehmen. Tess setzte sich neben ihn, Paolo auf Tess' andere Seite.

Sie hatten sich kaum gesetzt, als Herr Ritter aufstand und einmal in die Runde blickte, darauf wartend, dass sich das leise Gemurmel, das bisher den Raum ausgefüllt hatte, aufhören würde, was auch beinahe augenblicklich geschah. Doch erst, als alle Augen sich auf ihn gerichtet hatten, begann Herr Ritter zu sprechen:

„Meine lieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie wissen sicherlich alle, dass meine Frau und ich dieses Hotel vor nun fast 35 Jahren gegründet haben. Fast 35 Jahre lang haben wir jeden Tag unsere Arbeit und unser Herzblut in dieses Hotel gesteckt und ich denke, nicht zuletzt mit der Hilfe solch wunderbarer und engagierter Mitarbeiter wie Sie es sind haben wir es geschafft, aus einem einfachen, kleinen Hotel über die Jahre hinweg ein kleines Schmuckstück zu schaffen."

Beifälliges Gemurmel, das sich aber sofort wieder legte, als Herr Ritter die Hand hob um weiter zu sprechen.

„Wie Sie alle wissen, planen meine Frau und ich zum 35jährigen Bestehen unseres Hotels eine kleine Jubiläumsfeier. Wir haben den Termin jetzt auf in drei Wochen festgesetzt und hoffen, auf Ihre Unterstützung zählen zu können."

Wieder beifälliges Gemurmel.

„Aber diese Feier wird auch noch aus einem anderen Grund stattfinden."

Plötzlich wurde er, ebenso wie der Rest seiner Kollegen, hellhörig.

„Wie Sie sicher alle bemerkt haben, steht es in letzter Zeit mit meiner Gesundheit nicht zum Besten. Der Arzt meinte, es sei das Herz und ich solle unbedingt kürzer treten. Und so haben meine Frau und ich schweren Herzens beschlossen, die Leitung des Hotels abzugeben und in den Ruhestand überzuwechseln. Die Jubiläumsfeier wird unsere letzte Amtshandlung sein. Gleichzeitig werden wir den Rahmen der Feier nutzen, um die Geschäfte unserem Nachfolger zu übergeben. Doch Sie müssen alle keine Angst haben – das Hotel wird in den besten Händen sein und für Sie wird sich durch diesen Wechsel nichts ändern."

Mit diesen Worten entfernte sich Herr Ritter vom Tisch und ging in den hinteren Bereich des Versammlungsraums, in dem eine weitere Tür direkt in die Büroräume der Ritters führte. Diese Tür öffnete er und winkte offensichtlich jemanden heraus. Nur Augenblicke später trat dieser jemand aus der Tür des Büros und folgte Herrn Ritter zurück an den Tisch.

Der Stolz in Herrn Rittes Augen war kaum zu übersehen, als beide den Tisch erreichten und die zweite Person hinter Herrn Ritter hervortrat, um sich den neugierigen Blicken der Angestellten zu stellen.

„Das hier ist unser Sohn. Er wird die Geschäfte übernehmen und in meinem Sinne und dem Sinne meiner Frau fortführen. Einige von Ihnen, die lange genug schon dabei sind, kennen ihn ja bereits noch von früher. Den anderen möchte ich ihn kurz vorstellen..."

Doch das alles bekam er nur noch am Rande mit.

Denn in dem Moment, als die zweite Person aus Herr Ritters Schatten herausgetreten war, hatte die Welt um ihn herum augenblicklich aufgehört sich zu drehen.

War zusammengeschrumpft auf ein Paar tiefblaue Augen.

Tiefblaue Augen, die sich ebenfalls augenblicklich in seine gebohrt hatten, kaum dass sie ihn entdeckt hatten.

Tiefblaue Augen, die mit nur einem Blick seinen Magen und sein Herz dazu brachten miteinander Salsa zu tanzen.

Tiefblaue Augen, von denen er geglaubt hatte, dass er sie nie wieder sehen würde.

Und sich nun eines Besseren belehrt sah.

Denn der Sohn der Ritters, der die Geschäfte des Hotels übernehmen sollte, war kein anderer als Mark.

Continue Reading

You'll Also Like

2.8M 78.3K 49
Clara Hale. Eigentlich ist sie ein ganz normales 17-jähriges Mädchen und lebt mit ihren Eltern in einem Haus in New York. Frech, schlau und mutig ist...
2.6M 72.6K 74
Ich wäre in meiner Welt voller Lügen ertrunken, bis er gekommen ist. Er zeigte mir ein Leben, ein Leben was ich noch nie zuvor erlebt habe. Wäre er n...
252K 14.4K 63
Wer kennt es nicht? Man hört einen Song und schon kommt einem eine neue Idee zu einer Geschichte. Ja, manchmal reicht sogar ein einziges Wort aus, um...
3.8M 95.4K 73
Sie Wunderschön, unberührt, furchtlos Er Heiß, sexy, gefährlich Er trifft auf Sie. Er ist fasziniert von ihrer frechen, verrückten, süßen Art. Sie l...