Uralte Fassung (1): Twos - Di...

By MaraPaulie

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Achtung: Alte Fassung. Neue ebenfalls auf Account zu lesen. Nicht jedes Märchen beginnt mit »Es war einmal... More

Vorwort
Prolog
Kapitel 1 - Ticket der Freiheit
Kapitel 2 - Home Sweet Home
Kapitel 3 - Die Tallos
Kapitel 4 - Die verrückte Tanja
Kapitel 5 - Tränen aus Eis
Kapitel 6 - Verräter und Bruder
Kapitel 7 - Das Wintermädchen
Kapitel 8 - Die Herrscher der Gezeiten
Kapitel 9 - Grosser, böser Wolf
Kapitel 10 - Vom Märchen in rot
Kapitel 11 - Von Schnee im Haus und Rosen aus Feuer
Kapitel 12 - Erbe der Toten
Kapitel 13 - Von Verrückten und dem Labyrinth
Kapitel 14 - Der Bruder mit dem Schuppenkleid
Kapitel 15 - Des Winters Blut
Kapitel 16 - Der Junge, der mit der Sonne tanzt
Kapitel 17 - Augen ohne Liebe
Kapitel 18 - Die Völker aus den Büchern
Kapitel 19 - Trauriger Mörder, lass mich gehen
Kapitel 20 - Feuerraben
Kapitel 21 - Der Löwe und der Wolf
Kapitel 22 - Der Traum von Familie
Kapitel 23 - Der Pirat und die Prinzessin
Kapitel 24 - Von Barbaren und Märchen aus der Besenkammer
Kapitel 25 - Von toten Jungen und Mädchen aus Licht
Kapitel 26 - Der Lichterlord und die Antwort zum Hass
Kapitel 27 - Rote Raben und Bücher voller Schicksal
Kapitel 28 - Wer lauert in der Dunkelheit?
Kapitel 29 - Von Schläfern und Schlüsseln
Kapitel 30 - Geheimnis ohne Zeit
Kapitel 31 - Namen von Macht
Kapitel 32 - Zum Lied des irren Geigers der Dämon mit dem Teufel tanzt
Kapitel 33 - Vom Meer zu den Wolken
Kapitel 34 - Geschichten, die ein Vöglein zwitschert
Kapitel 35 - Sturmgläser, tanzende Piraten und Jungen, die vom Himmel fallen
Kapitel 36 - Klyuss' Kinder
Kapitel 37 - Blau wie der Mohn, grün wie die Hoffnung und rot wie Blut
Kapitel 38 - Das Schicksal der Verfluchten
Kapitel 39 - Gejagte der Vergangenheit
Kapitel 41 - Spiel der Könige
Kapitel 42 - Es jagt und tanzt der Geistesblitzt
Kapitel 43 - Die Wahrheit wurde von einem Lügner erschaffen
Kapitel 44 - Vom Mörder, der die schwarze Orchidee fand
Kapitel 45 - Von Herrschern mit dem Flammenhass und Helden kleiner Klingen
Kapitel 46 - Wer wir sind und was wir tun
Kapitel 47 - Einmal Monster, immer Monster
Kapitel 48 - Das Versprechen von niemals und immer
Kapitel 49 - Das Wort 'böse'
Kapitel 50 - Der Herzkasper
Kapitel 51 - Freund oder Feind, alt oder neu, beide bleiben ewig treu
Kapitel 52 - Das Gedicht des Todes
Kapitel 53 - Die Reise der Wahrheit und des Sinns hinter allem
Kapitel 54 - Von Geschwisterbanden und letzten Zeilen
Kapitel 55 - Der Tempel der Orakel
Kapitel 56 - Mondkind
Kapitel 57 - Die erste aller Schöpfungen
Kapitel 58 - Vom Intrigieren, Dechiffrieren, Konferieren und fiesen Viren
Kapitel 59 - Glücksjagd und Königsmord
Kapitel 60 - Schattenlicht und Bernsteingold
Kapitel 61 - In der Schwebe
Kapitel 62 - Patron und Paladin
Kapitel 63 - Von Luftschlössern und Monstern unterm Bett
Kapitel 64 - Deine wunderschönen Lügen
Kapitel 65 - Von Namen und Masken
Kapitel 66 - Das blinde Recht
Kapitel 67 - Das blinde Herz
Kapitel 68 - Das blinde Glück
Kapitel 69 - Verfluchtes Kind mit Gold gekürt
Kapitel 70 - Als niemand schlief
Kapitel 71 - Der Gewissenlose
Kapitel 72 - Phönix
Kapitel 73 - Ein Goldstück für deine Gedanken
Kapitel 74 - Kriegsherr Regen
Kapitel 75 - Der Herrscher über alle Macht
Kapitel 76 - Alles ist gut
Kapitel 77 - Die Feinde des Schicksals
Kapitel 78 - Und wenn sie nicht gestorben sind...
Kapitel 79 - Lucky Strike
Kapitel 80 - ...dann leben sie noch heute
Epilog
Authornotes
Charakterverzeichnis
Illustrationen

Kapitel 40 - Blut fremder Brüder

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By MaraPaulie

Kapitel 40

Blut fremder Brüder


~Mile~

»Mile! Mile! Jetzt bleib gefälligst stehen!«
Verdammt! Sie hatte ihn gesehen! Und sie wusste, dass er sie gehört hatte. Für einen, dessen Sinne übernatürlich scharf waren, kam keine Ausrede in Frage, wie: Tut mir leid, ich hab dich echt nicht gehört.
»Guten Tag Miss Rouge«, miaute Katmo und verbeugte sich tief vor der Roten, die jedoch einfach wutschnaubend an ihm vorbei stampfte. Dicht vor Mile kam sie zum Stehen und sah ihn böse an. Sie stand ihm so nahe, dass ihre Körper sich fast berührten. Darum musste sie den Kopf auch in den Nacken legen, um ihm in die Augen sehen zu können.
»Au Backe...«, maunzte Katmo noch düster, dann begann Reds Schimpftirade auf Mile einzuprasseln.
»Mile, wo warst du die ganze Nacht? Ich habe dich überall gesucht! Wenigstens eine Nachricht hättest du mir hinterlassen können! Ich hab mir echt Sorgen gemacht! Wer weiss, was dir hätte passiert sein können. Die Spione der Dunklen können überall lauern! Und du, dummer Junge, hast nichts Besseres zu tun, als die ganze Nacht in dieser verfluchten Stadt herumzuwandern! Und dann noch ganz alleine! Du hast doch eine persönliche Leibgarde, aber nein, der Herr Lichterlord läuft lieber Gefahr, von irgendwelchen Monstern in der Nacht die Kehle aufgerissen zu bekommen, anstatt den Schutz zu nutzen, der ihm angeboten wird! Mile, diese Welt ist voll von Gefahren, die du dir nicht einmal vorstellen kannst! Wie lange ist es her, dass ich dich halb erfroren im Schnee liegen sah? Wie lange ist es her, dass du und deine Schwester Oskar durch den Wald in deiner Welt gefolgt waren? Wie lange ist es her, dass ihr mir durch das Portal gefolgt seid? Ein halbes Jahr? Mile, du kennst diese Welt doch noch gar nicht! Du hast keine Ahnung, was wahre Gefahr, wahre Angst wirklich ist!«
Anfangs hatte das Mädchen in Rot wütend und energisch geklungen, doch nun klang sie eher besorgt. Ihr Wolf war durch die starken Emotionen erwacht und liess ihre Reisszähne wachsen, ihre Fingernägel scharf und ihren Geist wild werden.
»Red, es ist nichts passiert! Du musst dir keine Sorgen machen! Ich habe alles im Griff. Ausserdem war ich nicht allein, ich hatte eine Wache bei mir«, versuchte er sie zu beschwichtigen.
Red kniff die Augen zusammen. »Wer?«, knurrte sie.
»Na ja... Er...«, meinte Mile und deutete auf den Kater, dessen Fell vor Stolz in alle Richtungen abstand.
»Die Katze? Da hättest du ja gleich meine tote Grossmutter als Wache einstellen können!«, rief Red und warf die Hände in die Luft.
Katmo fauchte empört: »Also hören Sie mal, Miss! Ich würde mein Leben für Euren Gefährten geben! Ich habe den Herrschern ewige Treue geschworen! Niemand wäre für dieses Amt besser geeignet als ich!«
»Ganz genau!«, pflichtete Mile ihm bei.
Red verdrehte die Augen. Dann fragte sie: »Was habt ihr denn die ganze Nacht getrieben?«
»Nichts!«, antwortete Mile schnell.
Red zog eine Augenbraue hoch. »Ich bitte dich, Mile. Niemand rennt ohne Grund die ganze Nacht durch die Stadt!«
Mile zuckte die Schultern. Red sah ihn böse an, dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Sie grinste Mile frech an und drehte sich zu dem Kater um.
»Sir Katmo, nicht wahr? Der gestiefelte Kater! Sagt, Ihr werdet mich doch sicher nicht belügen, nein, ihr würdet so etwas doch niemals tun! So sprecht, Sir Katmo, was hat mein Gefährte der junge Lichterlord dazu bewogen, die ganze Nacht durch die Strassen Aramesias zu ziehen?«, säuselte sie.
Sir Katmo...
Das „Sir" brachte die Augen des Katers zum Leuchten und seine Birne weich werden, denn sofort begann der Kater wie ein Vögelchen zu singen: »Ich habe den jungen Herrscher auf der Suche nach dem entflohenen Gefangenen unterstützt. Wir sind einer Ratte gefolgt, die wir zuvor in der verlassenen Zelle des Rattenfängers entdeckt hatten. Aber dieses Vieh war eigentlich gar keine Ratte, nein, in Wirklichkeit war es der gefürchtete...«
»Kater!«, rief Mile, bevor sein „Bodyguard" zu viel verraten konnte. Er wollte nicht, dass Red von dem Treffen mit Rumpelstilzchen erfuhr. Sie würde sich nur wieder aufregen oder sogar Angst bekommen. Wer weiss, was dieser Bastard von Teufel ihr damals angetan hatte... Damals, als Red in den Kerkern der Dunklen gefangen gewesen war... Doch zum Glück verstummte der Kater sogleich und sah schuldbewusst zu ihm auf.
Red drehte sich zu Mile um. Ihr roter Umhang peitschte im Wind.
»Wer? Habt ihr Feivel gefunden?«, fragte sie aufgebracht.
»Nein, Red. Wirklich nicht.«
»Mile. Ich sehe doch, dass du lügst! Du beisst dir auf die Lippe!«
»Gar nicht!«, rief Mile. Verflucht! Er musste sich wirklich abgewöhnen, sich immer auf die Unterlippe zu beissen, wenn er log!
»Von wegen! Und jetzt wirst du mit mir mitkommen und mir erzählen, was hier los ist! Ich lasse mich doch nicht von euch zwei Hohlköpfen für dumm verkaufen!«
Entschlossen stapfte Red los.
Es hätte alles so einfach sein können! Er und Katmo hätten zu dem Tempel gehen können, wären dort, wenn Rumpelstilzchen die Wahrheit gesagt hatte, auf den Rattenfänger getroffen und alles hätte sich irgendwie zum Guten gewendet. Aber nein, auf halbem Weg hatten sie auf Red treffen müssen... Wie konnte er sie bloss wieder loswerden?
»Red, ich kann nicht! Wir müssen weiter!«, versuchte er es.
Eifrig versuchte Katmo, ihn zu unterstützen: »Ja, genau! Wir sind auf dem Weg zum Tempel! Dort werden wir den Rattenfänger festnehmen! Wir sind also auf wichtiger Mission!«
Wieso? Wie hatte Mile es nur wieder schaffen können, an den einzigen Kater zu gelangen, der einfach nicht seine dumme Klappe halten konnte?
Red blieb abrupt stehen. Beinahe wäre eine Horde Zwerge in sie hineingerannt und hätte sie umgeworfen. Fluchend wichen die Zwerge ihr aus und eilten weiter.
»Ihr wollt zum Tempel? Zum Tempel dieses Gottes?«, fragte sie misstrauisch.
»Danke, Katmo! Danke!«, rief Mile und fuhr sich nervös durchs Haar.
»Woher wisst ihr, wo der Rattenfänger ist? Wieso habt ihr der Stadtwache nichts von eurer Vermutung erzählt?«, fragte die Rote.
»Weil«, sprach Mile, »Azzarro ihn sich sonst vor uns schnappt und ihn seinen Folterknechten vorwirft!«
Reds Gesichtsausdruck wurde weich. Sie trat nahe an ihn heran und strich ihm zärtlich über das Gesicht. »Mile, du hast ein so gutes Herz, ich verstehe ja, wieso du gegen das Foltern von Feivel bist, aber dieser Kerl wird nicht reden, wenn du ihn nett darum bittest. Er hat hunderte von Kindern entführt und bis heute weiss niemand, was mit ihnen geschehen ist. Dieser Mann hat Tausenden Kummer bereitet. Er ist ein Monster und wird nicht reden!«
»Aber was, wenn er... gar nicht schuld war? Vielleicht...Himmel, ich weiss es doch selbst nicht, aber ich werde mit Feivel reden!«, murrte Mile und drehte sich zu dem Kater um. »Katmo, komm. Auf, zum Tempel!«
Der Kater sprang voraus. Auch Mile setzte sich in Bewegung.
»Und woher wisst ihr, wo dieser Rattenfänger ist? Wieso seid ihr so sicher, ihn in diesem gruseligen Tempel zu finden?«, hakte Red weiter nach. Sie war einfach viel zu klug! So leicht würden sie die Rote nicht loswerden...
Mile machte den Mund auf, um ihr eine Antwort zu geben, die sie glauben würde, doch ihm viel einfach keine logische Ausrede ein! Hilfesuchend sah er den Kater an der miaute: »Wir... Ääähm... Haben einen Tipp bekommen...«
Wieso war er eigentlich auf die Idee gekommen, dass der Kater ihm helfen könnte. Wieso? Jetzt würde Red doch nur noch neugieriger werden!
Mile lief schneller.
»Jetzt warte doch mal, Mile! Und du, Kater, auch! Von welchem Tipp sprichst du? Und wer, Himmel nochmal, hat euch ihn euch gegeben?«
Wie schon gesagt; Red würde nun erst recht nicht locker lassen...
»Streng geheim!«, maunzte Katmo, ohne sich umzudrehen.
Nun kam langsam wieder das Leben in die Stadt zurück. Die Wesen kamen aus ihren Häusern, um ihrer Arbeit nachzugehen. Der grösste Teil von ihnen arbeitete ausserhalb der Stadt auf den Feldern, die die Elfen so erfolgreich angelegt hatten. Andere arbeiteten als Schmied, Bäcker, Metzger, Bauarbeiter und was es sonst noch alles gab. Es war fast so, als ob die Rebellen ihr Leben zurück hatten. Das alltägliche Leben, bevor die Dunklen die Herrschaft an sich gerissen hatten. Abgesehen von der Arbeit auf dem Feld, war ein grosser Teil der Rebellen auch in der Stadtwache tätig. Jeder Rebell hatte mindestens einmal pro Woche die Pflicht, auf der Stadtmauer Wache zu stehen oder sonst am Training der Soldaten Teil zu nehmen. So blieben die Wesen fit und sie vergassen nicht, wieso sie eigentlich hier waren. Sie vergassen die Rebellion nicht. Sie vergassen nicht den Krieg...
»Streng geheim?!«, fluchte Red. Nun war sie wirklich sauer. Ohne zimperlich zu sein, drückte sie Mile an die Wand.
»Hey!«, rief er und versuchte sich aus ihrem Griff zu befreien.
»Klappe, du Mimose! Ich will wissen, was hier los ist! Mile, wieso belügst du mich?« Red klang verletzt. Es stimmte ja auch. Er log sie an. Er log ihr ins Gesicht...
Aber er hatte doch schon gesehen, was für eine Heidenangst der Teufel ihr einzujagen vermochte...
»Red... Ich...«
»Mile, ich verstehe nicht, wieso du mir nicht einfach die Wahrheit sagst!«, flüsterte sie. Dann liess sie ihn los, drehte sich um und ging.
»Red, ich...«
»Was?«
Nun klang sie nicht mehr traurig, sondern ruppig.
»Okay, ich erzähle es dir, aber du musst versprechen, dass du nicht ausrastest!«, zischte er und nahm sie am Arm. Er zog sie in eine Gasse. Hier gab es kein Licht, denn die Hochhäuser Aramesias standen hier sehr dicht nebeneinander. Katmo folgte den beiden stumm.
»Ausrasten? Es kommt darauf an, was du mir jetzt gleich erzählen wirst. Und jetzt schiess endlich los!«
Mile holte tief Luft und meinte dann: »Der Teufel hat uns mal wieder einen Besuch abgestattet...«
»Was?!«, zischte Red und zog Mile noch weiter in den Schatten der Gasse.
»Wir hatten die Nacht wirklich damit zugebracht, nach dieser Ratte zu suchen. Und dann sind wir zu der Müllhalde Aramesias gekommen. Ein Drecksloch wie es im Buche steht. Und dort haben wir diese Ratte gefunden. Doch gerade, als Katmo das Biest eingefangen hatte, da hat sich das Biest verwandet! Und dann hatte er uns erzählt, dass Feivel sich in dem Tempel aufhalten würde.«
»Rumpel... Er hat sich in diese Ratte verwandelt? Er war die Ratte, die ihr die ganze Nacht gesucht hattet?«, fragte Red verwirrt.
»Ja, genau! Ich weiss nicht, wieso er uns durch die ganze Stadt gejagt hat. Er hätte sich uns doch einfach zeigen können! Es war mitten in der Nacht! Niemand hätte ihn erkannt!«, grübelte Mile.
Red schüttelte den Kopf. »Das ist nicht seine Art. Er liebt es zu spielen. Und du, Mile, bist momentan sein liebstes Spielzeug. Oh Gott, du hättest niemals diesen Handel mit ihm eingehen dürfen!«, rief Red und fuhr sich durch ihr tintenschwarzes Haar. Er packte ihr Handgelenk.
»Sag so etwas niemals wieder!«, knurrte er. »Er hätte dich mitgenommen und der Himmel weiss, was er dir angetan hätte! Dieser Typ ist ein Monster. Er will spielen? Von mir aus! Ich werde besser spielen als er!«
Red lächelte ihn an. Eigentlich war es in dieser Gasse zu dunkel, um das sehen zu können, doch mit Miles Herrscher-Fähigkeiten war nichts unmöglich...
Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und meinte: »Du bist süss, Mile...«
»Ja, unser junger Lichterlord ist wirklich hinreissend, aber wenn ich bitten darf, auf uns wartet ein Rattenfänger!«, maunzte der etwas angenervte Kater.
Red lachte. Sie schien zwar etwas erschrocken, dass der Teufel sich schon wieder in ihr Leben geschlichen hatte, schien aber auch erleichtert zu sein, denn Mile hatte sie nicht angelogen, er hatte sie schützen wollen...
»Ich komme mit euch. Und der Kater hat Recht. Wir sollten gehen, bevor sich Feivel ein neues Versteck sucht und ich glaube kaum, dass ihr scharf darauf seid, das Rumpelstilzchen uns erneut einen Besuch abstattet. Falls er uns überhaupt erneut helfen würde...«, meinte sie.
Mile nickte. Nichts war ihm lieber als Reds Gesellschaft.
So traten die drei aus der Gasse und liefen los in Richtung Tempel...


~Sabrina~

»Wendy?«
Sabrina duckte sich, um sich den Kopf nicht an den schaukelnden Messingpfannen, die an der Decke hingen anzuschlagen. Überall an der Decke der Kombüse waren kleine Haken angebracht, an denen Schöpfkellen, Bratpfannen, lange Gabeln, Siebe und allerlei anderes Kochaccessoire hing.
Überall hing der Geruch von fremdartigen Gewürzen aus der ganzen Welt. Leider wurde dieser Duft von dem Gestank nach Fisch verunreinigt, doch trotzdem war der Geruch angenehm.
»Wendy?«, rief sie erneut.
»Na, aber hallo! Und schon sieht man sich wieder, du alte Schneewehe! Und, wie läuft's im Land der Piratenprinzessinen?«, kreischte da plötzlich eine wohlbekannte Stimme.
»Ich hätte wissen müssen, dass ich dich hier treffen werde!«, lachte Sabrina, als sie den Nachtmahr entdeckte.
Er streckte seinen Kopf aus dem angrenzenden Zimmer.
»Kein Wunder, dass der Proviant so schnell aufgebraucht ist, wenn du die ganze Speisekammer leer frisst. Ich hoffe, Wendy weiss, dass du ihre ganzen Zutaten verputzt, Faritales.«
»Du wirst mich doch nicht verpetzen, oder?«, bettelte der Nachtmahr.
Sabrina grinste. »Vielleicht...«
Nachdem Hook ihr seinen Schatz gezeigt hatte, hatte sie sich gleich auf den Weg gemacht, um Wendy zu finden. Sie wollte mit dem Mädchen sprechen, denn jedes Mal, wenn sie ihr begegnete, schien sie so traurig. Und das liess ihr keine Ruhe! Was war es, dass Wendy so fertig machte?
»Was machst 'n eigentlich hier? Hat die junge Eisprinzessin Hunger? Sabrina, ich schwöre dir, die Würste hier sind einfach der Hammer!«, kreischte der Dämon und stopfte sich eine der eben erwähnten Würstchen in den Mund. Und zwar die ganze Wurst auf einmal. Quer steckte sie jetzt zwischen seinen Wangen, was ihn ein wenig wie die Grinsekatze aussehen liess...
»Nö, eigentlich suche ich Wendy. Weisst du zufällig, wo ich sie finden kann?«, fragte Sabrina ging um die Kücheninsel, auf der sich das eigenartigste Gemüse stapelte, herum. Da war ein Salatkopf, dessen Blätter blau und der Stängel weiss waren. Oder die neonorangene Banane! Himmel, diese Welt war wirklich voll von den absurdesten Dingen!
Der Nachtmahr überlegte, dann schmatzte er, die Wurst noch immer im Maul: »Keine Ahnung, wo die Kleine hin ist. Sie war vorher noch da. Ja, jetzt fällt es mir wieder ein! Da war jemand bei ihr. Genau, sie... Sie haben gestritten, glaube ich. Und dann... Äähm... Dann gab es einen ziemlichen Knall. Irgendetwas ist runtergefallen...«
»Das sehe ich...«, meinte Sabrina düster und blickte zu Boden, wo, neben einer zerbeulten Pfanne, die Überreste einer Pilzsuppe den Boden zierte.
Der Nachtmahr flatterte, beladen mit drei weiteren Würstchen und einem ganzen Schinken, zu ihr herüber.
»Ach, ist nicht schlimm. Ich hasse Pilzsuppe sowieso wie die Pest!«
»Weisst du noch, wer mit ihr gestritten hat oder um was der Streit ging?«, fragte Sabrina und schubste den Dämon von ihrer Schulter, auf die er sich gerade niedergelassen hatte. Faritales stank nach Salami...
»Ich weiss noch, dass es ein Kerl gewesen ist. Aber gesehen habe ich ihn nicht, weil ich in dem Moment nämlich diesen wundervollen Schinken...«
»Hast du wenigstens gehört, um was der Streit ging? Fari, konzentrier dich doch bitte!«, unterbrach sie den Dämon.
»Ääähm, sorry«, nuschelte er, dann fuhr er Schulterzuckend fort: »Vielleicht hat der Typ auch was gegen die Pilzsuppe gehabt...«
Oh, wie gerne sie diesem Dämon manchmal den Hals umdrehen würde...
»Das heisst also«, seufzte sie, »du hast keine Ahnung, wieso wir hier das Suppen-Massaker vor uns haben?«
Der Nachtmahr biss herzhaft in seine Schinkenkeule hinein. Meine Güte, das Ding war genauso gross wie er.
»Nö«, schmatzte Fari und spuckte dabei Schinken.
»Kannst du mir wenigstens sagen, wie lange das ganze her ist?«
»Hmm... So lange, wie es dauert, drei Salamis, zehn Speckrollen und zwanzig Würstchen zu essen«, mampfte der Dämon.
Anscheinend hatten Dämonen anstelle von Mägen schwarze Löcher...
»Also«, schätzte Sabrina, »etwa vor vier Stunden?«
Wo war Wendy nur?
Doch der Nachtmahr lachte nur und rief dann: »Kein Wunder, dass du nur Haut und Knochen bist, Kleine. Wenn du so langsam isst, verfault dir das Essen ja schon auf dem Teller! Nein, das war vor etwa einer halben Stunde...«
»Von wegen! Das erklärt höchstens deine Wampe, Fari!«
»Welche Wampe?!«, rief der Dämon empört und liess sogar einen Moment von seinem Schinken ab.
»Hast du schon einmal in einen Spiegel gesehen? Du siehst aus wie 'ne Bowlingkugel!«, kicherte sie.
Faritales glotzte sie aus grossen Augen an. »Echt?«
Sie lächelte, streichelte seinen Wuschelkopf und meinte: »Keine Angst. Ich habe dich trotzdem lieb.«
Da wurde der Dämon ein kleines Bisschen rot. Sabrina lief lächelnd aus der Kombüse, um weiter nach der verschwundenen Wendy zu suchen.
»Guten Appetit!«, rief sie noch beim Hinausgehen.
Bevor die Türe hinter ihr ins Schloss fiel, hörte sie den Nachtmahr noch überglücklich »Schinken!« rufen...

Das Schiff knarzte und der Wind pfiff durch die Holzbalken sein geisterhaftes Lied.
Die Jolly Roger, das Schiff in den Wolken.
Und irgendwo auf diesem riesigen Schiff, das früher gegen die Stürme es Meeres und heute gegen die des Himmels kämpfen musste, irgendwo hier versteckte sich Wendy?
Wo war das Mädchen?
Sabrina malte sich die schlimmsten Dinge aus... Wieso hatte das Mädchen so fluchtartig verlassen? War ihr etwas zugestossen? Und vor allem; wie sollte sie Wendy finden?
Sie beschloss, erst mal wieder auf das Deck zu kommen, um dort zu fragen, ob jemand das verschwundene Mädchen gesehen hatte.
Sie stieg vom Unterdeck die Treppe hinauf zum Zwischendeck und nahm dann die letzte Treppe, die sie hinauf auf das Oberdeck brachte.
Heute war mehr los als sonst. Die Schritte der Seemänner hämmerten auf die Planken. Selbst die Elfen, die sonst immer die Ruhe selbst waren, schienen nervös.
Heute würden sie in Aramesia ankommen... Und das bedeutete Arbeit. Alles musste bereit sein! Ein fliegendes Schiff zu landen würde wohl ein schwieriges Manöver werden... Doch Sabrina vertraute Hook, dem Captain, der dieses Schiff ganz bestimmt sicher landen würde.
Mr. Smee kam auf sie zu, beladen mit zwei Seesäcken.
»Mr. Smee«, fing sie ihn ab, bevor er an ihr vorbei hasten konnte.
»Prinzessin?«, murmelte der kleine, pummlige Pirat und verbeugte sich vor ihr.
»Ach, lass diese Verbeugerei sein! Ich wollte fragen ob...«, sie brach den Satz ab. Etwas hinter dem Seemann hatte ihre Aufmerksamkeit erregt.
»Prinzessin?«, fragte Smee verwirrt.
»Schon gut, Mr. Smee.. Gehen Sie weiter Ihrer Arbeit nach...«, meinte sie abwesend und klopfte dem Piraten auf die Schulter. Dieser nickte und widmete sich wieder seinen Seesäcken.
Sabrina blieb alleine zurück und starrte den Jungen an, der, über die Reling gebeugt, in die Tiefe starrte.
Peter Pan.
Vorsichtig ging sie auf ihn zu, stellte sich neben ihn und beugte, wie er es tat, über die Reling um auf das Land, das sich unter ihnen ausbreitete, hinab.
»Wenn wir Märchen altern, dann tun wir das im Geiste. Wie schnell das geht, ist bei jedem anders. Manchmal hält uns irgendetwas auf und unser Geist bleibt auf dem gleichen Stand. Da ist es bei unserem Körper anders. Ihn können wir altern lassen, wie wir wollen. Doch wenn unsere Seele die eines Kindes ist, dann fühlen wir uns auch wohler in dem Körper des Kindes, das wir einst waren. Unser geistiges Alter spiegelt sich also in unserer Gestalt ab.«
Peter klang sehr traurig.
Diese Trauer... Wo kam sie her?
»Das habe ich schon einmal gehört...«, antwortete sie einfach und schwieg dann. Peter hatte sich, wie sein Bruder, die letzten Tage verkrochen. Er hatte mit niemandem geredet, höchstens mit Tinker Bell, aber die Feen schienen nicht die gesprächigsten Wesen in dieser Welt zu sein. Viel lieber kicherten sie in sich hinein. Darum wollte sie den Jungen nicht verschrecken, in dem sie ihn gleich überfiel.
Peters Gesicht war bleich. Er hatte tiefe Ringe unter den Augen.
Es war doch schon irgendwie eigenartig, dass Peter genau an dem Tag auftauchte, an dem Wendy verschwand! Oder sie spann da gerade irgendetwas zusammen. Sie würde ihr Misstrauen allem und jedem gegenüber wohl niemals ablegen können...
»Was tust du hier, Peter? Und wo ist Tinker Belle? Ich habe dich noch nie ohne sie gesehen...«, fragte sie nach einer Weile der Stille.
Peter verzog keine Miene und murmelte: »Ich stehe hier und sehe mir die Welt an. Tinker Belle ist bei ihren neuen Freundinnen, die du zusammen mit meinem Bruder her gebracht hattest.«
Sabrina nickte.
Es folgte eine weitere Ruhepause.
»Hallo Prinzessin, schön, dass Ihr Euch mal wieder an auf dem Deck zeigt....«
Sabrina drehte sich lächelnd um.
»Welche Ehre, dass der Captain mich besuchen kommt!«, meinte sie und zwinkerte Falk zu.
Der Pirat trat neben sie und lehnte sich lässig an die Reling.
Nun stand sie zwischen den Brüdern.
Links der Junge, der niemals erwachsen wurde und rechts der Sohn Klyuss'.
»Was tust du hier, Sabrina?«, fragte der Pirat grinsend und sah in die Ferne.
»Ich habe deinem Bruder Gesellschaft geleistet.«
Falks Lächeln verrutschte ein wenig. Nervös fuhr er sich durchs Haar.
»Schon gut«, murmelte Peter hinter Sabrina. »Ich lasse euch alleine...«
Doch der Junge stiess sich vom Boden ab und schwebte hinauf, zurück zum Krähennest, wo er die restlichen Tage verbracht hatte.
»Peter bleib doch, wir...«
Für einen Moment hatte der Junge seine Gedanken-Fassade fallen gelassen und Sabrina hatte einen Blick in seinen Kopf erhaschen können. Und das Bild, das sie gesehen hatte, liess ihr Herz schwer werden, was sie verstummen liess.
Sabrina sah Peter schweigend hinterher.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter.
»Lass ihn gehen. Ich befürchte, bis mein Bruder mir verzeiht, wird es noch lange, lange dauern. Wenigstens hasst er mich nicht mehr. Jetzt scheint er... Ich weiss nicht... Er scheint meine Existenz zu leugnen!«, seufzte der Pirat traurig.
Sabrina schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht«, murmelte sie, »dass es an dir lag, dass er abgehauen ist...«
»Wie meinst du das?«
Sie drehte sich zu ihm um.
»Peter war für einen Moment abgelenkt. Ich konnte seine Gedanken sehen!«
Der Pirat hob eine Augenbraue. »Und was hast du gesehen?«, fragte er.
Sabrina lächelte traurig. »Pilzsuppe.«


~Mile~

»Also, verbarrikadieren hätten sie das Teil aber nicht müssen!«, maulte Katmo und trat gegen die hölzerne Flügeltür.
Red fluchte. Sie kniete vor der Tür des Tempels. Da die Tür verschlossen war, versuchte die Rote, mit ihren langen Wolfs-Fingernägeln das Schloss auf zu bekommen. Das Ergebnis: Sie hatte sich bereits zwei Nägel abgebrochen und das Schloss bleib wie es war. Verschlossen.
»Wieso schliesst man den bösen Tempel überhaupt ab? In dieses Gruselkabinett traut sich doch sowieso niemand rein!«, fauchte der Kater und kratzte an dem Holz, bis seine Krallen kleine Rillen in das Holz geritzt hatten.
»Der Rat hat die Schliessung der Tempeltore doch nur angeordnet, um die Schläfer zu schützen. Die Katakomben kann man von der Treppe des Tempels aus erreichen. Einen anderen Eingang hat bisher noch niemand entdeckt«, verteidigte Mile den Rat.
Der Kater pfiff abfällig und knurrte: »Pha! Wenn ich ein Spion der Dunklen wäre, würde ich mich trotzdem nicht da rein trauen. Und in die Katakomben erst recht nicht! Das sind doch nur irgendwelche Kellergewölbe, wo man die Leichen seiner Vorfahren vergammeln lässt! Und nur um ein Paar Schläfer umzunieten, würde ich nicht riskieren, dem Geist meiner Urururgrossmutter über den Weg zu laufen. Meine Mutter war ja schon eine garstige Person! Ich will mir gar nicht vorstellen, wie meine verbitterte Geisteroma drauf ist!«
»Autsch! Verflucht!«
»Red, lass das! Dieses Schloss kannst du nicht öffnen. Ich den Schlüssel gesehen, als Drosselbart ihn einer der Wachen nach unserem Treffen gegeben hat, damit er diese Monstertüre zuschliesst. Dieser Schlüssel war so gross wie drei deiner Finger! Dieses Schloss bekommst du mit einem Fingernagel nicht auf!«, riet Mile seiner Gefährtin.
Red stand geknickt auf und steckte sich den blutenden Finger in den Mund.
»Wenn das hier vorbei ist, gehst du einen dieser Heilerelfen-Typen aufsuchen, okay?«, fragte er leise und legte Red eine Hand auf die schmale Schulter.
Sie verdrehte die Augen, nickte dann aber.
»Vielleicht können wir sie aufbrechen!«, rief der Kater und warf sich gegen die Flügeltür. Diese bewegte sich keinen Millimeter.
Mile scheuchte Katmo, der sich nun die Schulter rieb, mit der er gegen die Türe gedrückt hatte, weg und zischte: »Lass das, Kater. Du verletzt dich doch nur! Mach lieber ein Bisschen Platz. Ich will es versuchen...«
Mile kniete sich vor das dicke Schloss aus Metall und legte die rechte Hand auf die Klinke.
Das Feuer in seinem Herzen pulsierte schon freudig. So liess er die Hitze durch seinen Arm und schliesslich in seine Hand laufen.
»Wow! Eure Hand! Sie glüht, Mylord!«, hauchte der Kater ehrfurchtsvoll und brachte Mile damit zum Lächeln.
Immer heisser brannte sein Fleisch und plötzlich spürte Mile, wie das Metall unter seiner Hand nachgab. Es schmolz unter seinen Fingern wie Kerzenwachs.
Sobald die Türklinke zu einer dampfenden und zischenden Pfütze am Boden geworden war, drückte er seine Handfläche gegen den Rest des Türschlosses. Auch hier konnte das Metall seinem Feuer nicht standhalten und schmolz.
»Krass! Ihr habt das Schloss einfach... weggeschmolzen!«, jubelte der Kater.
»Psst! Nicht so laut, sonst hören uns die Wachen am anderen Ende der Stadt! Und jetzt schnell rein da und tritt nicht in die Metallpfütze, sonst wirst du höchstens noch als Winke-Katze zu gebrauchen sein!«, flüsterte Red.
Mile schob seine Hand durch das Loch in der Tür, wo früher das Schloss angebracht gewesen war und zog sie auf.
Schnell flitzten Red und der Kater hindurch. Mile folgte ihnen.


~Sabrina~

Ihr Herz hämmerte heftig gegen ihre Brust, sodass sie glaubte, ihr Brustkorb müsse zerspringen. Ihr Atem ging schnell und bildete kleine, hektische Wölkchen vor ihrem Mund.
»Du sollst an der Takelage hochklettern und sie nicht einfrieren!«, rief Falk ihr zu.
»Leichter gesagt, als getan. Manchmal macht die Kälte, was sie will!«, rief Sabrina zu ihrer Verteidigung hinunter. Natürlich war sie schon ein Bisschen selbst daran schuld, dass sie eine Spur aus Eis auf den Tauen hinterliess. Sie war zu aufgeregt, als dass sie sich auf das Eis konzentrieren konnte.
Und so strömte Blut, Adrenalin und Frost durch ihre Adern
Sie wollte hinauf. Hinauf zum Krähennest, wohin Peter Pan geflüchtet war. Doch sie blöde Kuh musste ihm ja unbedingt folgen! Und nun hing sie gefühlte zehn Meter über dem Deck in der Takelage und bekam Höhenangst.
Höhenangst! Himmel, sie befand sich auf einem Schiff, das Kilometer über dem Erdboden schwebte und bekam jetzt Höhenangst!
»Okay, Sabrina! Du schaffst das! Du bist die Eisprinzessin, schmeisst mit Eis und Schnee, triffst mit Pfeil und Bogen eine Briefmarke, die zu Boden fällt und reist in deinen Träumen durch die Welten, da wirst du es wohl schaffen, diese blöden Taue hochzuklettern!«, sprach sie sich selbst Mut zu.
»Soll ich hochkommen und dir helfen?«, rief der Pirat. Das Grinsen, das in seinem Gesicht klebte, konnte sie aus seiner Stimme heraushören. Er genoss das richtig, sie zappeln zu sehen.
»Vergiss das, du blöder Macho! Ich schaff das alleine!«, antwortete sie. Ihre Stimme konnte sie halten, doch am Ende des Satzes kratzte sie nun doch ab und liess sie klingen, wie ein Entchen, dem jemand auf den Fuss gestanden war.
Die Mannschaft, die sich ebenfalls unter ihr versammelt hatte, um ihr zuzusehen, wie sie sich blamierte, lachte.
»Und ihr geht gefälligst wieder an die Arbeit! Oder soll ich euch auf die Köpfe spucken? Ihr könnt euch kaum vorstellen, wie unangenehm es ist, wenn euch eine Eisprinzessin auf die Köpfe spuckt. Gibt bestimmt 'ne riesen Beule, wenn euch so ein Eisklumpen auf die Birne fällt!«, rief sie wütend und dieses Mal zitterte ihre Stimme kein Bisschen.
Murrend verzogen sich die Männer wieder.
Hook versuchte es erneut: »Bist du sicher, dass...«
»Halt die Klappe!«
Ganz vorsichtig löste sie ihre rechte Hand von dem Tau und hangelte sich weiter in die Höhe. Dann folgte ein Bein, die andere Hand, noch ein Bein und wieder die rechte Hand.
»Ich hasse das! Ich hasse es!«, fluchte sie dabei leise vor sich hin.
Irgendwann hatte sie schliesslich das Krähennest erreicht.
Keuchend und fluchend schwang sie ein Bein über den Rand des Holzbalkens, verlor dann das Gleichgewicht und bretterte auf den Boden des Mastkorbes.
»Aua...«, maulte sie und rieb sich den Ellbogen, auf dem sie gelandet war.
Als sie den Kopf hob, sah sie Peter, der sie teilnahmslos anstarrte.
Er sass im Schneidersitz auf der anderen Seite des Mastkorbes, die Arme vor der Brust verschränkt.
Keuchend nahm sie eine bequemere Haltung ein, denn, auf dem Rücken liegend, die Füsse in der Luft und den Kopf an die Mastspitze gelehnt, konnte sie wohl kaum ein Gespräch mit Peter führen.
»Bist du oben?«, rief Hook besorgt von weit unten.
Sabrina verdrehte die Augen und brüllte: »Nein! Ich hänge noch immer in der Takelage, siehst du mich nicht? Ach nein, stimmt ja, ich bin unsichtbar!«
Ein Lächeln schlich sich in Peters Gesicht, verschwand aber gleich wieder hinter einer Decke aus Trübsal.
»War er schon immer so... überführsorglich?«, fragte sie Peter und rümpfte die Nase.
Leise kicherte Peter und nickte.
»Ihr hättet ihn sehen sollen, als wir neu in dieser Welt waren. Er hat überall Gefahren gesehen. Erst nachdem die Piraten uns aufgenommen hatten, wurde er ruhiger...«
Einen Moment lächelte Peter und Sabrina konnte sich vorstellen, wie er früher gewesen sein musste. Voller Lebensfreude, Fantasie, Fröhlichkeit und Charme. Und dann... Dann war seine Schwester gestorben und alles hatte sich geändert.
Sabrina lächelte ihn an.
Peter lächelte zurück, dann wurde seine Mimik ernst.
»Prinzessin, wieso seid Ihr hier?«
Sabrina schüttelte den Kopf und meinte: »Peter. Dein Bruder und ich sind... Äähm... Keine Ahnung, was wir sind... Ist ja auch egal, aber ich würde mir wünschen, wenn du diesen Herrscherquatsch lassen würdest. Ich bin Sabrina. Einfach Sabrina. Geht das?«
Peter starrte sie an. Er hatte wieder seine neutrale Miene aufgesetzt und fragte mit monotoner Stimme: »Was willst du von mir?«
Immerhin hatte er sie geduzt!
Denk nach, Sabrina!
»Ich...«, druckste sie, bis sie auf einmal einen Geistesblitz hatte. »Ich dachte, du hättest vielleicht Hunger!«
»Ich habe keinen Hunger.«
»Glaube ich dir nicht. Peter, du siehst übel aus! Du musst doch etwas essen!«
»Ich habe schon gegessen!«
Aha! Jetzt hatte sie ihn!
»Heisst das, du warst heute schon in der Kombüse?«, fragte sie unschuldig.
Peter kniff die Augen zusammen. Sein Gehirn arbeitete sichtbar.
»Wieso?«
»Ich sagte doch schon, ich hatte mich gefragt, ob du nicht...«
»Lüg mich nicht an! Niemand würde hier hoch klettern, nur um mich zu fragen, ob ich Hunger habe! Was willst du, Prinzessin?«, knurrte Peter.
Sabrina seufzte: »Gut, du hast recht. Peter, ich bin hier, um dich zu fragen, wo Wendy ist.«
Der Junge wurde bleich. Noch bleicher, als er ohnehin schon war. Trotzdem hielt er seine Gedanken-Fassade aufrecht.
»Weiss ich nicht«, antwortete er knapp.
Sabrina beugte sich zu ihm vor, wobei sie sich mit der Hand auf den Mast stützte und zischte: »Peter, du warst in der Kombüse. Du hast in der Kombüse mit Wendy gestritten!«
Der Junge richtete sich auf, deutete mit dem Zeigefinger auf sie und rief: »Woher willst du das wissen?«
»Ich weiss es«, fauchte sie und stand ebenfalls auf, »weil ich deine Gedanken lesen konnte, vorher, als du in dieses blöde Krähennest geflogen bist. Und weisst du, was ich da gesehen habe?«
Peter schüttelte den Kopf.
»Es ist nicht so, wie du denkst!«
»Ach, wie ist es denn dann?«
Peter fasste sich an den Kopf. Seine Finger krallten sich in sein gingerrotes Haar.
»Du kannst das nicht verstehen! Das kann niemand!«, fauchte er.
»Lass es mich versuchen, Peter! Was ist, wenn ich es doch verstehe? Ich will doch nur Wendy finden und sehen, ob es ihr gut geht!«
Peter liess die Hände sinken und starrte sie an. In den braunen Augen spiegelte sich Verzweiflung.
»Ich werde es dir erzählen«, gab er sich schliesslich geschlagen. »Aber wenn du jemals irgendjemandem davon erzählst, dann wirst du einen neuen Feind haben, Eisprinzessin!«
Sabrina nickte und beteuerte: »Meine Lippen sind versiegelt!«
»In Ordnung«, murmelte Peter und liess sich wieder auf den Boden des Krähennestes sinken. Sabrina tat es ihm gleich.
Mit hängenden Schultern begann er zu erzählen: »Damals, als ich Wendy kennen lernte, war ich noch ein anderer. Damals war alles noch in gut. Arielle war am Leben. Doch dann war ich auf die hirnrissige Idee gekommen, einen Ausflug in die sterbliche Welt zu machen. Ich war ja auch noch so jung und dumm. Ich hatte zwar von den Herrschern der Gezeiten gehört und auch das Gesetz, dass keine Märchenfigur Twos einfach so verlassen durfte, doch was gingen mich die Gesetze irgendwelcher Herrscher an? Ich war jung und wild. Ich wollte meine Freiheit geniessen und so brach ich das oberste Gesetz der Herrscher. Niemand verlässt, ohne guten Grund und ohne die Herrscher zuvor zu benachrichtigen, die Märchenwelt.
Tja, und so genoss ich meine Zeit in der Welt der Menschen. Ja, ich hatte es tatsächlich geschafft, in die Welt der Sterblichen zu gelangen. Und dann... Dann traf ich Wendy.
Sie stand am Fenster und betrachtete die Sterne. Und sie war so schön... Ich musste sie einfach mitnehmen, mit in meine Welt. Doch sie wollte nicht ohne ihre Brüder gehen. So nahm ich John und Michael ebenfalls mit...«
Peters Blick war starr auf den Boden gerichtet. Die Hände hatte er zu Fäusten geballt.
»Wendy... Es kam, wie es kommen musste. Ich verliebte mich in sie, so wie alle anderen meiner Bande aus den verlorenen Jungen. Sie war einfach schon immer etwas Besonderes...«
Sabrina staunte nicht schlecht und fragte: »Ihr hattet was miteinander?«
Peter nickte traurig und antwortete: »Ja. Aber das Ganze hat nicht lange gedauert. Wendy hatte Heimweh. Sie erzählte den anderen von ihrer Welt. Auch John und Michael hatten bald schon Sehnsucht nach zu Hause. Und sogar die anderen, meine eigenen Leute, meine verlorenen Jungs... Sie wollten alle mit Wendy gehen. Sie wollten Nimmerland, unsere Insel... Sie wollten sie verlassen! Unsere Heimat! Unser Paradies!«
Peter fuchtelte, vollkommen ausser sich, mit den Händen herum. An seinen Fingerspitzen klebte Blut. Hatte er sich die Nägel so fest ins Fleisch gepresst?
»Am Anfang wollte ich sie nicht gehen lassen. Diese Jungen... Sie waren meine Familie! Und Wendy... Ich habe sie geliebt! Wie hätte ich sie nur gehen lassen können?«
Sabrina nickte. Sie verstand Peter. Auf einen Schlag würde seine ganze Familie, abgesehen von Hook und Arielle, verschwunden sein!
»Doch Wendy flehte mich an. Sie wollte nach Hause. Sie wollte zu ihren Eltern. Sie wollte ein normales Leben in ihrer sterblichen Welt. Sie wollte erwachsen werden... Irgendwann gab ich nach. Wie heisst es noch? Wenn man sie wirklich liebt, muss man sie gehen lassen...«
Vorsichtig unterbrach Sabrina ihn.: »Ich... Ich weiss, Peter. Sei ihr bitte nicht böse, aber Wendy hat mir all das erzählt. Na ja, ausser, dass du mal etwas mit ihr hattest, das hat sie mir verschwiegen.«
»Sie hat es dir erzählt... Natürlich hat sie das. Peter Pan, das Monster, das Kinder aus der sterblichen Welt entführt... Wann hat sie dir von einem Verbrechen berichtet?«, fragte er düster und hob den Blick vom Boden.
Es war ein Schock, als sie diese tiefe Reue und Trauer in seinen Augen sah. Auf einmal war sie heilfroh, dass er seine Gedankenfassade aufrecht hielt. Andauernd mit den Emotionen anderer bombardiert zu werden, konnte der eigenen Psyche auf Dauer nicht gut tun!
Sabrina überlegte, dann antwortete sie: »Das war, nachdem ich aus dieser Schlummertulpen-Narkose erwacht bin. Wendy hatte nach mir gesehen und dann sind wir irgendwie ins Gespräch gekommen...«
Dass sie zuvor noch eine Auseinandersetzung mit den verlorenen Jungen gehabt hatte, verschwieg sie ihm lieber erst einmal...
»Es war doch alles gut gegangen. Doch irgendwie hatten die Herrscher, deine Eltern, Wind von der Sache bekommen. Und sie fingen uns ab, verbaten Wendy, ihren Brüdern und den verlorenen Jungs in die sterbliche Welt zu reisen und dann verbannten sie mich. So wurde ich zu einem der Verstossenen. Die Jungs begleiteten mich und so hatten Wendy, John und Michael keine andere Wahl, als es ihnen gleich zu tun. Die Jungs hatten sich schnell damit abgefunden, doch Wendy hat es mir, glaube ich, nie verziehen«, fuhr er fort.
»Du wurdest also zu einem der Verstossenen. Und weiter?«, fragte Sabrina. Wieso erzählte er ihr all das?
»Die Verstossenen hatten sich in dem Baum angesiedelt, in dem auch du schon einst gewohnt hast.«
»Gewohnt? Gefangen ist der passendere Ausdruck finde ich...«, meinte Sabrina, doch Peter ignorierte sie.
»Dort lebten wir. Es ging uns gut. Für unsere Nahrung konnten wir Jagen und Früchte und Gemüse anbauen. So nah an dem Wald der Elfen Virid'agru, wuchs jede Pflanze gut. Doch wir durften den Baum nicht verlassen. So hatten die Herrscher es geregelt. Und trotzdem habe ich den Baum verlassen. Ein einziges Mal. Und zwar, um meinem Bruder zu seiner Volljährigkeit zu gratulieren. So suchte ich das Schiff auf, dem mein Bruder lebte. Und als ich ihn fand, da war er kaum noch mein Bruder. Er war ein Pirat. Ein raubender, mordender Pirat. Und als ich diesen Fremden, der doch früher mein Bruder, mein Idol gewesen war, dieser Pirat erzählte mir, meine Schwester sei tot. Er hatte sie gehen lassen, hatte sie diesen Deal mit Medusa machen lassen! Wieso hatte er sie nicht aufgehalten? Ermordet hat er sie! Ich verstehe bis heute nicht, wieso er Arielle nicht aufgehalten hatte!«
Sabrina legte eine Hand auf die seine. Schon wieder hatte er seine Fingernägel so fest in sein Fleisch gepresst, sodass es blutete.
»Verstehst du nicht, Peter? Aus dem gleichen Grund, aus dem du Wendy hast gehen lassen wollen. Weil er sie geliebt hat!«
Peter sah sie lange an. Dann zog er seine Hand weg.
»Nein, das ist nicht das gleiche. Jedes Kind weiss doch, dass man mit einer Meereshexe keine Geschäfte macht!«, knurrte er.
Sabrina schüttelte traurig den Kopf.
»Als er mir seine Geschichte aufgetischt hatte, da war ich so verzweifelt. Ich war so zerrissen! Arielle... Noch heute kann ich nicht verstehen, wieso sie nicht einfach neben mir steht und mit mir spricht, lacht... Durch ihren Tod wurde ihr Abenteuer zum Märchen. Doch ist man erst einmal tot, so gibt es kein Zurück. Und so griff ich in all meiner Verzweiflung und Wut Hook an. Ich habe mich mit ihm geprügelt, habe auf ihn eingeschlagen, bis das Blut floss. Und dann, dann habe ich zu einem Messer gegriffen und ihn zu dem gemacht, was er ist.«
»Zu einem einhändigen Piraten mit einem kleinen Aggressionsproblem?«, versuchte sie die Stimmung etwas zu lockern.
Peter ging nicht auf sie ein. Er redete weiter und nun waren seine braunen Augen voll Hass.
»Er wurde zu dem eihändigen Mörder. Captain Hook. Der Mann, dessen Haken, den er anstelle seiner linken Hand trägt, stets blutverschmiert ist. Und egal, welche Mühe ich mir gebe, ihn anders zu sehen, ich kann es nicht. Er ist der Mörder meiner Schwester!«
Sabrina lehnte sich zurück. Sie spürte die Brüstung, die sie davon abhielten, zu fallen und auf die Planken des Schiffs zu knallen, in ihrem Rücken.
Hoffentlich hatte Hook nichts von all dem gehört, was Peter gesagt hatte.
»Als ich zurückkehrte, war ich vollkommen am Ende. Ich war zerstört. Meine Schwester war tot, ich hatte meinem Bruder, der sie ermordet hatte, die Hand abgehackt... Ich war die ganze Nacht geflogen, dem Himmel sei Dank hatte ich noch genug Feenstaub bei mir, denn Tinker hatte ich zu Hause gelassen. Und als ich wieder am Baum der Verstossenen angekommen war... Ich war kaum fähig, zu sprechen. Das Blut meines Bruders klebte noch immer an meinen Händen und dem Messer, das ich mitgenommen hatte. Irgendwie lustig, oder? Ich habe dem Mörder meiner Schwester das Messer gestohlen, mit dem ich ihm seine Hand nahm. Bis heute trage ich dieses Messer immer bei mir...«
Peter lächelte, während ihm die Tränen über die Wangen strömten. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte ihm den Mund zugehalten, nur um ihn zum Schweigen zu bringen. Wie schrecklich musste es für ihn sein, all dieses Grauen erneut durchleben zu müssen?
»Und dann hat sich Wendy um mich gekümmert. Sie hat mich einfach in den Arm genommen, mir Blut und Tränen abgewaschen und mich zu Bett gebracht. Sie hat die ganze Nacht an meinem Bett gesessen. Immer wieder. Bis die Alpträume weniger wurden. Und in dieser Zeit war sie mein einziger Anker. Sie war alles, was in meinem Herzen übrig geblieben war. Sie ist alles. Noch heute. Ich habe niemals aufgehört, sie zu lieben, liebe sie heute, liebe sie immer. Sie ist alles, was mir noch bleibt, verstehst du?«
Peters Stimme war voll Schmerz. Er war so aufgebracht.
Peter Pan war nicht der Junge, der niemals erwachsen wurde. Peter Pan war der Junge, der alles verloren hatte.
»Peter, mir tut die ganze Sache schrecklich leid, aber was hat das alles mit Wendys verschwinden zu tun?«, fragte sie ihn.
Peters Gedankenfassade kam ins Schwanken. In ihm musste es toben!
Einige seiner Gedanken und Emotionen fanden ihren Weg zu ihrem Geist und krallten sich in ihre Wahrnehmung wie die Krallen eines wilden Tieres.
Da war eine Verwirrung, so stark, dass Sabrina beinahe schwindelig wurde. Die Verzweiflung tat sich vor ihr auf, wie ein tiefer Abgrund. Und die erbarmungslose Liebe, die Peter für Wendy und seine verstorbene Schwester empfand, stürzte alles in einen Sturm, der sie vollkommen durcheinander wirbelte.
Als sie Hooks Liebe gespürt hatte, grösser und mächtiger als es irgendetwas sonst sein konnte, war sie so fest, standhaft und mächtig gewesen, dass man sie am ehesten mit einem Berg vergleichen könnte.
Doch Peters Liebe war anders. Sie war, wie ein Sturm. Sie riss an ihrem Geist, verletzte ihr Herz, fuhr ihr durch das Fleisch wie ein Dolch. Ein Dolch, geschmiedet aus Liebe mit dem Feuer, der Verzweiflung.
Sabrina wurde blass, als sie verstand.
Peter hielt sich den Kopf.
»Hör auf! Verschwinde aus meinem Kopf!«
»Das kann ich nicht! Nicht ich bin in deinem Kopf! Du musst deinen Geist kontrollieren!«, rief sie und versuchte, sich gegen die Flut der Emotionen zu wehren, die ihre Seele zu verschütten drohten.
Und... und es funktionierte... irgendwie...
Nun, nicht ganz, aber auf irgendeine Art und Weise schaffte sie es, Peters Emotionen auszublenden. Zwar hallten all die Gefühle durch ihren Geist, doch sie waren abgeschwächt. Wie die Hintergrundmusik in einem Film.
Trotzdem waren seine Gefühle noch heftig und schmerzend. Wie eine Wunde, die wieder aufgerissen worden war, pulsierend und blutend...
Und dann hatte sich Peter wieder in den Griff bekommen. Seine Gedankenwand, die sein inneres Wesen vor ihr verbarg, stand wieder.
Beide atmeten sie nun heftig, als wären sie einen Marathon gelaufen.
»Was du gerade gesehen hast...«, begann Peter, brach aber ab. Er war aufgestanden und blickte nun in die Ferne, als könne er so dem entfliehen, was ihn zerstörte.
»Ich habe nichts gesehen, Peter. In diesem Fall, haben deine Emotionen keinen Platz gelassen, damit ich etwas sehen konnte. Aber was ich gefühlt habe, war, was du gefühlt hast«, murmelte Sabrina kleinlaut.
»Und was hast du gefühlt?«, fragte er knapp.
»In dir tobt die Verzweiflung unerwiderter Liebe.«
Peter legte den Kopf in den Nacken.
»Ich habe mich hier oben verkrochen. Über eine Woche. Ich habe mich hier verkrochen, weil mein Bruder, um seine Schuld, die er mit dem Mord an unserer Schwester verbüsst hat, wenigstens ansatzweise zu begleichen, einen weiteren Mord begangen hat. Anstatt gegen diese Sucht nach Mord und Rache zu bekämpfen, tötet er weiter! Wie kann er jemals ein anderer werden, wie er es dir verspricht, wenn er doch voll Wut ist? Arielle hat ihn vor ihrem Tod etwas schwören lassen. Sie liess sich sein Wort geben, dass er niemals seine Klinge gegen den Wassermann, den sie liebte, richten durfte. Falk darf niemals Nöck etwas antun. Dafür musst du sorgen, Sabrina. Wie könnte Arielle ihre Ruhe finden, wenn ihr letzter Wunsch nicht berücksichtigt wurde?«
Sabrina nickte. So, wie Peter es schilderte, hatte sie es noch nie gesehen. Sie hatte Hooks Tat, den Mord an Medusa zwar nicht akzeptiert, hatte ihn deswegen jedoch nicht verurteilt. Sie verstand ja den Schmerz des Piraten, doch nun wurde ihr auch der von Peter bewusst.
»Peter, was war dort in der Kombüse los? Du warst doch bei Wendy, oder nicht?«, fragte sie ihn.
Peter seufzte. Dann antwortete er: »So war es. Ich hielt es nichtmehr aus, musste mit jemandem sprechen. So suchte ich Wendy auf und redete mit ihr. Auch, wenn sie mich nicht liebt, so hat sie ein offenes Ohr für mich. Das hatte sie schon immer. Und dann... Ich weiss nicht, wieso ich es tat.
Sie war gerade dabei, etwas für mich zu kochen, die Gute, da kam es wieder über mich. Dieser Schmerz, dass sie mich niemals so lieben würde, mich nicht so liebt, wie ich es tue...
So küsste ich sie.
Wendy stiess mich von sich. Sie sagte, sie könne das nicht mehr. Sie begann zu weinen und rannte aus der Kombüse, weg von mir. Sie wollte nur weg von mir...«
Sabrina starrte Peter an.
Immer war er so verbittert, so verschlossen, verbarg sich hinter dieser Maske, sodass ihn niemand verletzen konnte. Wie konnte man es ihm verübeln? Er hatte niemanden.
Seine Eltern waren vor so vielen Jahren ertrunken, in einer anderen Welt.
Seine Schwester war tot.
Sein Bruder war für ihn ein Fremder.
Und seine Liebe, liebte ihn nicht.
Natürlich war er einsam und verbittert. Natürlich war er immer als dieser arrogante Mistkerl aufgetreten.
Nur um nicht verletzt zu werden.
»Peter. Du denkst, du wärst alleine. Du denkst, niemand versteht dich. Aber das ist nicht wahr. Pass auf, wann auch immer du Hilfe brauchst, wann auch immer du jemanden zu Reden brauchst, ich werde da sein, in Ordnung?«, versuchte sie Peter zu trösten.
Doch Peter Pan starrte nur weiter in die Ferne.
»Danke, Prinzessin. Doch du wirst verstehen, dass das nie möglich sein wird. Du liebst den Mörder meiner Schwester.«
Peter Pan breitete die Arme aus und stiess sich vom Boden ab. Langsam schwebte er höher, bis nur noch seine Silhouette zu erkennen war.
Toll, dachte Sabrina. Nun würde sie Peters Geschichte wieder Tage verfolgen und ihr wie ein Stein auf dem Herzen liegen. Verfluchtes Mitgefühl.
Sabrina richtete sich auf.
Sie richtete ihren Blick zum Himmel, wo der »Ich hoffe, du wirst irgendwann Vergebung finden, Peter Pan. Vergebung für dich und Vergebung für die, die dir und denen, die du liebst und lieben solltest, Leid angetan haben...«
Dann holte sie tief, tief Luft und schwang ein Bein über den Rand des Krähennestes und ertastete mit dem Fuss ein Tau, auf dem sie ihr Gewicht verlagern konnte.
»Sabrina? Pass auf, wo du deine Füsse hinstellst! Das Eis, das du vorher auf die Taue gelegt hast, ist noch nicht geschmolzen! Pass auf, sonst rutschst du aus!«, dröhnte Hooks Stimme zu ihr hoch.
Irgendwie war es ja süss, wie er sich um sie sorgte. Aber momentan war sie zu deprimiert, um irgendetwas süss zu finden. Momentan fand sie alles nur viel zu kompliziert und nervig!
»Ja, Falk, ich bin nicht bescheuert!«
Ausserdem wusste sie noch immer nicht, wo Wendy war. Wenigstens schien es dem Mädchen einigermassen gut zu gehen. Trotzdem wollte sie sie finden. Da sie sich mit Tauen, Kompassen, sowie der Steuerung eines Schiffes etwa so gut auskannte, wie mit Astrophysik musste sie eine andere Möglichkeit finden, sich nützlich zu machen, denn den Matrosen würde sie nur im Weg stehen. Und diese Möglichkeit war jetzt Wendy...
Die Takelage hinunter zu steigen war nun einfach. Erstens war sie sauer auf die ganze Welt und zweitens war die Aussicht, bald wieder feste, stabile Planken unter den Füssen zu haben sehr motivierend.
»Konzentrier dich, Sabrina!«, rief Hook zu ihr hinauf.
»Ja, ich weiss!«, brüllte sie hinab. Um dem überfürsorglichen Piraten einen Bösen Blick zuzuwerfen, lehnte sie sich nach rechts und blickte hinab.
»Hook, ich mache das schon, du musst nicht dauernd...«
Es geschah, was geschehen musste...
Sie rutschte mit dem linken Fuss aus, worauf der rechte wegknickte, sie vornüberkippte und nun, sich mit einer Hand an einem Tau festkrallend, in der Luft baumelte.
Sie quiekte erschrocken und kniff die Augen fest zusammen, als es ihr das Handgelenk umdrehte.
»Falk! Hilfe!«, kreischte sie, als sie spürte, wie die Kraft in ihren Fingern schwand.
Man, das würde ja ein echt geniales Ende werden! Egal, was sie anstellte, immer waren die Möglichkeiten, die sich ihr boten, zu sterben so was von erbärmlich...
»Ich sagte doch, du...«
»Klappe und hilf mir, bevor ich...«
... falle...
Und so fiel sie...
Nicht sehr hoch, doch trotzdem genug, um sich einige Knochen, wenn nicht sogar das Genick, zu brechen.
Sabrina kniff die Augen fest, fest zu und machte sich auf den harten Aufprall gefasst.
Ob sie wohl ein Loch in das Oberdeck reissen würde? Dann musste man wenigstens nichtmehr dauernd diese ewigen Treppen benutzen, um aufs Zwischendeck zu gelangen. Aber die Holzsplitter würden sich bestimmt in ihr Fleisch graben. Oh, wie sie Spreissel hasste...
Die Luft riss an ihren Haaren. Die Strähnen peitschten ihr ins Gesicht.
Gleich würde es vorbei sein.
Gleich...
Und dann landete sie...
Es fühlte sich nicht sehr hart an. Eher... abgefedert... Da war kein Boden, der ihr Fleisch aufreissen oder ihre Knochen brechen könnte! Flog sie etwa noch immer?
»Augen auf, Prinzessin! Ihr seid zwar so schön, wie ein Schwan, aber das heisst leider noch lange nicht, dass Ihr auch genauso fliegen könnt, wisst Ihr?«
Sabrina riss die Augen auf.
Über ihr schwebte Falks Kopf. Er grinste sie an und warf ihr einen Kussmund zu.
»Oh, danke, Falk! Danke!«, rief sie erleichtert und liess den Kopf zurück sinken.
Vorsichtig stellte der Pirat sie wieder auf die Füsse.
»Ich sagte doch, du sollst dich konzentrieren!«, meinte er gönnerhaft. Sabrina streckte ihm zur Antwort die Zunge raus.
»Entzückend!«, seufzte er dramatisch und Sabrina musste lachen.
»Eisprinzessin? Habt Ihr Euch verletzt?«, fragte eine Stimme.
Sabrina drehte sich um.
Bree stand hinter ihr und musterte sie mit ihren verschiedenfarbigen Augen, um nach möglichen Verletzungen zu suchen.
»Alles in Ordnung, danke Bree«, meinte Sabrina und lächelte.
Bree nickte und wollte schon wieder gehen, da hielt Sabrina die Elfe doch noch auf.
»Halt, Entschuldigung Bree, aber könntest du mir bei etwas behilflich sein?«


~Mile~

»Und wo sollen wir suchen?«, fragte Red, nachdem die Türe hinter ihnen wieder ins nichtmehr vorhandene Schloss gefallen war.
Ratlos sah Mile sich in der riesigen Halle um. Wo sollten sie anfangen zu suchen? Wer weiss, wie viele Geheimgänge, Zimmer und tausend Verstecke es in diesem Tempel gab?
»Wir könnten uns aufteilen«, schlug der Kater vor, doch Mile schüttelte den Kopf.
»Ich traue diesem Rattenfänger alles zu. Wenn wir uns aufteilen, sind wir leichter zu überwältigen.«
Red nickte und stimmte Mile zu: »Er hat recht. Wir müssen zusammenbleiben! Am besten, wir...«
»Halt! Seid mal kurz still!«, zischte Mile und hob eine Hand.
Er hatte etwas gehört.
Eine Melodie, schwermütig und traurig, hallte durch das Gebäude.
»Hört ihr das?«, hauchte Mile und lauschte der Musik.
»Hört ihr was?«, fragte der Katmo verwirrt.
»Na, die Musik...«
Red legte ihm eine Hand auf die Brust und fragte leise: »Mile, was hörst du? Und woher kommt es?«
Mile lauschte angestrengt, dann antwortete er: »Ich höre eine Melodie. Gespielt von einer Flöte... Ich... ich glaube, es kommt von oben...«
»Da sieht man mal wieder, wie es sich lohnt ein übernatürliches Gehör zu haben...«, murmelte Katmo verträumt.
»Von oben... Du glaubst doch nicht, dass... Oh, nein. Ich hatte gehofft, diesen Ort nie wieder betreten zu müssen«, seufzte Red und fuhr sich durch das rebenschwarze Haar.
»Ich weiss«, meinte Mile. »Aber ich schätze, dem Schicksal und unserem Rattenfreund ist das egal.«
Katmo kratzte sich hinter dem Ohr.
»Und«, murmelte er ratlos, »welchen Ort meint Ihr jetzt?«
Mile legte den Kopf in den Nacken und starrte an die Gewölbedecke, die mit grausigen Kriegszehnen und Gräueltaten des "Stillen Gottes" übersäht waren, als könne er durch den Stein hindurchsehen.
»Jetzt geht es wieder hinauf in den Turm, wo der Hexenmeister bei der Schlacht um Aramesia sein Ende fand...«


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HAPPY NEW YEAR!

Auf ein tolles Jahr 2014!

Leute, Leute, heute, heute hab ich für euch ein neues Kapitel.

Es zieht sich zwar ein bisschen in die Länge, aber ich hoffe, ihr haltet durch.

Ich weiss, ihr habt sicher gehofft, Mile und Sabrina werden in diesem Kapitel endlich wieder zusammentreffen, doch ich muss euch enttäuschen. Irgendwie hat es noch nicht geklappt, aber ich will versuchen, die Beiden in Kapitel 41 wieder zusammenzuführen!

Nun uploade ich dieses Kapitel und mache sofort mit dem Schreiben weiter!

Ich habe, wie ihr seht, ein Musikvideo zu diesem Kapitel gepostet.

I see fire - Ed Sheeran aber der Kygo Remix. Geht saumässig ab^^ Richtig schön zum relaxen^^

Das Lied ist so ein Ohrwurm und ist grad mein liebster Hit^^

Gewidmet ist dieses Kapitel Ronnibonni, die so süss ist, meine Kapitel votet, kommentiert und mein Buch weiterempfiehlt, was mich sehr freut^^

Bis bald, man liest sich ;*
Eure Dreamtravel

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