Uralte Fassung (1): Twos - Di...

By MaraPaulie

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Achtung: Alte Fassung. Neue ebenfalls auf Account zu lesen. Nicht jedes Märchen beginnt mit »Es war einmal... More

Vorwort
Prolog
Kapitel 1 - Ticket der Freiheit
Kapitel 2 - Home Sweet Home
Kapitel 3 - Die Tallos
Kapitel 4 - Die verrückte Tanja
Kapitel 5 - Tränen aus Eis
Kapitel 6 - Verräter und Bruder
Kapitel 7 - Das Wintermädchen
Kapitel 8 - Die Herrscher der Gezeiten
Kapitel 9 - Grosser, böser Wolf
Kapitel 10 - Vom Märchen in rot
Kapitel 11 - Von Schnee im Haus und Rosen aus Feuer
Kapitel 12 - Erbe der Toten
Kapitel 13 - Von Verrückten und dem Labyrinth
Kapitel 14 - Der Bruder mit dem Schuppenkleid
Kapitel 15 - Des Winters Blut
Kapitel 16 - Der Junge, der mit der Sonne tanzt
Kapitel 17 - Augen ohne Liebe
Kapitel 18 - Die Völker aus den Büchern
Kapitel 19 - Trauriger Mörder, lass mich gehen
Kapitel 20 - Feuerraben
Kapitel 21 - Der Löwe und der Wolf
Kapitel 22 - Der Traum von Familie
Kapitel 23 - Der Pirat und die Prinzessin
Kapitel 24 - Von Barbaren und Märchen aus der Besenkammer
Kapitel 25 - Von toten Jungen und Mädchen aus Licht
Kapitel 26 - Der Lichterlord und die Antwort zum Hass
Kapitel 27 - Rote Raben und Bücher voller Schicksal
Kapitel 28 - Wer lauert in der Dunkelheit?
Kapitel 29 - Von Schläfern und Schlüsseln
Kapitel 30 - Geheimnis ohne Zeit
Kapitel 31 - Namen von Macht
Kapitel 32 - Zum Lied des irren Geigers der Dämon mit dem Teufel tanzt
Kapitel 33 - Vom Meer zu den Wolken
Kapitel 34 - Geschichten, die ein Vöglein zwitschert
Kapitel 35 - Sturmgläser, tanzende Piraten und Jungen, die vom Himmel fallen
Kapitel 36 - Klyuss' Kinder
Kapitel 38 - Das Schicksal der Verfluchten
Kapitel 39 - Gejagte der Vergangenheit
Kapitel 40 - Blut fremder Brüder
Kapitel 41 - Spiel der Könige
Kapitel 42 - Es jagt und tanzt der Geistesblitzt
Kapitel 43 - Die Wahrheit wurde von einem Lügner erschaffen
Kapitel 44 - Vom Mörder, der die schwarze Orchidee fand
Kapitel 45 - Von Herrschern mit dem Flammenhass und Helden kleiner Klingen
Kapitel 46 - Wer wir sind und was wir tun
Kapitel 47 - Einmal Monster, immer Monster
Kapitel 48 - Das Versprechen von niemals und immer
Kapitel 49 - Das Wort 'böse'
Kapitel 50 - Der Herzkasper
Kapitel 51 - Freund oder Feind, alt oder neu, beide bleiben ewig treu
Kapitel 52 - Das Gedicht des Todes
Kapitel 53 - Die Reise der Wahrheit und des Sinns hinter allem
Kapitel 54 - Von Geschwisterbanden und letzten Zeilen
Kapitel 55 - Der Tempel der Orakel
Kapitel 56 - Mondkind
Kapitel 57 - Die erste aller Schöpfungen
Kapitel 58 - Vom Intrigieren, Dechiffrieren, Konferieren und fiesen Viren
Kapitel 59 - Glücksjagd und Königsmord
Kapitel 60 - Schattenlicht und Bernsteingold
Kapitel 61 - In der Schwebe
Kapitel 62 - Patron und Paladin
Kapitel 63 - Von Luftschlössern und Monstern unterm Bett
Kapitel 64 - Deine wunderschönen Lügen
Kapitel 65 - Von Namen und Masken
Kapitel 66 - Das blinde Recht
Kapitel 67 - Das blinde Herz
Kapitel 68 - Das blinde Glück
Kapitel 69 - Verfluchtes Kind mit Gold gekürt
Kapitel 70 - Als niemand schlief
Kapitel 71 - Der Gewissenlose
Kapitel 72 - Phönix
Kapitel 73 - Ein Goldstück für deine Gedanken
Kapitel 74 - Kriegsherr Regen
Kapitel 75 - Der Herrscher über alle Macht
Kapitel 76 - Alles ist gut
Kapitel 77 - Die Feinde des Schicksals
Kapitel 78 - Und wenn sie nicht gestorben sind...
Kapitel 79 - Lucky Strike
Kapitel 80 - ...dann leben sie noch heute
Epilog
Authornotes
Charakterverzeichnis
Illustrationen

Kapitel 37 - Blau wie der Mohn, grün wie die Hoffnung und rot wie Blut

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By MaraPaulie

Kapitel 37

Blau wie Mohn, grün wie Hoffnung und rot wie Blut


~Mile~

Mile zog das Buch „Die Herrscher der Gezeiten" unter seinem Kopfkissen hervor. Er blätterte darin herum, bis er etwas fand, das interessant klang.
Wie die Märchenwelt entstand", war der Titel des Kapitels. Mile begann zu lesen:

Wie bereits bekannt ist, gab es im Laufe der Zeit bereits viele Generationen an Herrschern.
Wie viele es nun schon sind, ist jedoch unbekannt.
Es gibt die Theorie, dass die Urherrscher aus der Welt der sterblichen stammten. Sie waren Menschen. Zwei Männer und zwei Frauen.
Vermutlich sind diese Menschen auch der Schlüssel zur Evolution, der Schlüssel für die Lösung des grössten Rätsels der Menschheit.
Wer sind wir?
Der erste Mensch, oder deren erste Unterart, muss vor drei Millionen Jahren sterblicher Zeit entstanden sein. Wie lange es brauchte, bis diese Wesen in der Lage waren, ihre eigene Vorstellungskraft zu nutzen, kann man nur raten.
Doch wie vier Menschen vor all diesen Millionen Jahren zu Herrschern wurden, diese Antwort haben wir, näheres wird später noch genauestens erläutert.
Fest steht jedoch, dass die Urherrscher auch die Erschaffer der Märchenwelt sind. Die Urherrscher waren die Entdecker der Fantasie.
Begeistert und fasziniert von ihrer Entdeckung, verloren sie sich in ihrer eigenen Vorstellungskraft. Sie formten sich eine Welt allein mit der Kraft ihres Geistes.
Daraufhin begannen sie ihren Artgenossen von der Fantasie zu erzählen. Sie erzählten unglaubliche Geschichten. Spannende, traurige, lustige, ernste, dumme, tiefgründige, gruslige, romantische und dramatische Geschichten.
Diese Geschichten waren so gewaltig, so grossartig, dass die anderen Menschen selbst begannen, zu erfinden.
Irgendwann beschlossen die Urherrscher die sterbliche Welt zu verlassen, um nur noch in ihrer Fantasiewelt zu leben.
Ein ähnliches Phänomen kennen wir aus der Biographie der jungen Alice Kingsleigh, die sich des Öfteren in ihrer eigenen Fantasie verirrte und somit 1865 die Insel Wunderland erschuf. Auch sie ist Teil der Märchenwelt geworden, hat jedoch nicht die gleiche starke Verbindung mit dieser, wie die Herrscher.
Tatsächlich gelang es den Urherrschern sich vollständig mit der Märchenwelt zu verbinden und nun auch körperlich in ihr wandeln zu können.
So wurden sie zu den ersten Bewohnern Twos'.
Die vier Urherrscher waren begeistert von ihrer Erschaffung und bauten sie weiter aus.
Zusammen konnten sie mit ihrer Macht der Fantasie die sterbliche Welt von Twos' trennen.
Jeder trug einen kleinen Teil zur Welt bei.
Eine erschuf Virid'agru aus Blumen, Pilzen, Wiesen und Bäumen, grösser, älter und prächtiger als jemals zuvor. Ein anderer liess die Sonne auf die Erde brennen und erschuf die goldene Wüste Aurea. Der dritte liess mächtige Berge aus dem Boden wachsen und schuf so das Ondorgebirge. Die letzte der Vier liess das Wasser über das Land fliessen und erschuf die Meere.
So hatten sie sich ihr eigenes Paradies geschaffen.
Bald kam Leben in die Märchenwelt, denn immer mehr und mehr Menschen in der sterblichen Welt erfuhren von dem Wunder Fantasie. Auch sie erfanden Geschichten, Märchen, Legenden, Fabeln, Sagen, Kurzgeschichten, Gedichte und Balladen. Je mehr sie erzählten, je mehr sie erfanden, je mehr sie ihre Vorstellungskraft nutzten, wurden ihre Geschichten in der anderen Welt wahr.
Als die Urherrscher erkannten, dass sie nun nicht mehr die einzigen Wesen in dieser Welt waren, begannen sie Städte für die Wesen zu Bauen. Sie gaben den Kreaturen Namen und schenkten ihnen Sprachen.
Und nach vielen Jahren waren die Wesen zu ganzen Völkern herangewachsen.
Diese Wesen waren nun keine Wesen mehr, die durch eine erfundene Geschichte entstanden waren. Nun entwickelten sie sich unabhängig, wurden mehr und mehr.
Und wie immer wiederholt sich Geschichte, egal aus welcher Welt, die Vergangenheit ist uns näher als gedacht...
Die Völker begannen, sich zu bekriegen.
So viel Leid. So viel Krieg.
Die Urherrscher trauerten um ihr Paradies, welches sich immer mehr und mehr in ein Schlachtfeld verwandelte.
So griffen sie in das Geschehen ein. Sie beendeten das Kämpfen und forderten den Frieden, doch die Wesen wollten nicht hören.
»Nein«, riefen die Wesen. »Wir können nicht aufhören. Diese Welt hat niemanden, der über Recht und Unrecht entscheidet. Diese Welt kennt keinen Tod und kein Ende. Wir brauchen Gesetze, wir brauchen Regeln. Diese Welt ist ein Chaos aus Fantasie. Ein Netz aus Fäden, die die Köpfe wirrer Wesen spinnen. In dieser Welt geschehen Dinge, die wir nicht beeinflussen können. Wir brauchen in dieser Welt eine Macht, die uns wieder Kontrolle bringt. Herrscht das Chaos, ist kein Frieden möglich!«
»Aber«, riefen die Herrscher, »wer soll hier regieren? Wer besitzt die Macht, die Kontrolle, Regeln und das Recht zu bringen?«
Da antworteten die Wesen: »Ihr fragt? Ihr seid! Ihr habt die Macht zu erschaffen. Ihr seid ein Teil dieser Welt, also seid ihr unsere Herrscher!«
Und so war es abgemacht.
Man erbaute in der Mitte des Landes einen Palast, den Zeitpalast. Dort war das Zentrum der Macht, der Ort, wo die Herrscher lebten. Rund herum begannen sich Wesen unterschiedlichster Arten anzusiedeln. Es wuchs eine gigantische Stadt um den Palast, die darauf Tempus genannt wurde.
Die Urherrscher teilten die Macht untereinander auf.
Man stellte Regeln auf.
Regeln für die Wesen. Regeln für die Welt.
Regeln für den Tod. Regeln für das Leben.
Regeln für die Sonne. Regeln für die Monde.
Es waren Regeln für das Gleichgewicht der Welt.
Zuvor hatten alle vier Herrscher die gleichen Fähigkeiten gehabt. Nun teilte man diese auf.
Die Frau, die den Wald erschaffen hatte, wurde zur Herrscherin über das Leben, die Unendlichkeit, die Gesundheit, die Natur, die Gefühle, die Wünsche, die Energie, die Wahrheit, das Gute und den Frühling.
Der Mann, der die Wüste erschaffen hatte, wurde zum Herrscher über die Hitze, die Sonne, das Feuer, die Kraft, die Sinne, die Wahrnehmung und den Sommer.
Der Mann, der die Berge erschaffen hatte, wurde zu Herrscher über den Tod, das Ende aller Dinge, die Vergänglichkeit, die Dunkelheit, die Geister, das Verderben, das Böse und den Herbst.
Die Frau, die das Meer erschaffen hatte, wurde zur Herrscherin über die Kälte, die Monde, Eis und Schnee, die Träume, die Zeit, die Gedanken und den Winter.
Man nannte sie die Herrscher der Gezeiten. Die Glaskaiserin, der Lichterlord, der Kupferkönig und die Eisprinzessin.
Das einzige, für das die Herrscher keine Regeln aufstellen konnten, war für die Seelen der Wesen.
Da sie aus der Vorstellungskraft anderer Geschaffen waren, konnten sie nichts für ihre Seele. Sie konnten nichts dafür, dass sie gut oder böse waren.
Das Gute durfte das Böse nicht für seine Art bestrafen, denn auch das Böse hatte ein Recht auf Existenz. Aber auch das Böse durfte dem Guten nichts Schlechtes tun. Die Wesen mussten lernen, trotz ihrer Verschiedenheit miteinander zu leben. Ein Wesen, welches aus Fantasie bestand, konnte nicht getötet werden. Nur der Herrscher über den Tod konnte Leben auslöschen.
Die Herrscher hatten sich schnell an ihre neue Rolle gewöhnt.
Um sich ihre Arbeit ein wenig leichter zu machen, stellten sie die Götter, die in der Welt wandelten, in ihre Dienste. Diese existieren in so grosser Zahl, dass man sie nicht aufzuzählen vermag.
Ihre Fähigkeiten beeinflussten den Charakter der Herrscher stark und ihre Verschiedenheit machte es ihnen nicht leicht.
Der Herrscher über den Tod begann sich an der Herrscherin des Lebens zu nähren, denn er hatte gelernt, dass er das Leben anderer in sich aufnehmen konnte.
Der Herrscher der Hitze und die Herrscherin über die Kälte begannen sich immer öfters zu streiten.
Und wenn der Frühling kam, wollte der Winter noch nicht enden.
Der Sommer stahl dem Frühling seine Zeit.
Der Herbst kam mit aller Macht und genoss das Töten.
Der Winter war entsetzt, denn er musste seinen Schnee über Leichen betten.
So verstritten sich die Herrscher immer mehr.
Und dann verloren sie die Kontrolle.
Dem Kupferkönig war seine Macht zu Kopf gestiegen und er tötete, was er sah.
Die restlichen Herrscher erkannten die Katastrophe und handelten.
Sie nahmen dem Kupferkönig beinahe seine ganze Macht und verbannten ihn zurück in die sterbliche Welt. Die Glaskaiserin kam mit ihm, um über ihn zu wachen.
So blieben Lichterlord und Eisprinzessin alleine zurück.
Trotz allem schafften sie es niemals ihren Streit von Feuer und Eis zu vergessen.
Es war seit jeher ein Kampf.
Sommer gegen Winter.
Eis gegen Feuer.

Mile klappte das Buch zu.
Er hatte nun schon so viel Erstaunliches erfahren. Über ihn, seine Schwester, ihre Vorfahren, diese Welt...
Und das Buch hatte er noch lange nicht durchgelesen.
Wieso wusste niemand, was mit dem irren Kupferkönig und der Glaskaiserin passiert war? Warum hatte niemand nach ihnen gesucht? Lebten sie noch?
Mile schob seine Fragen bei Seite und das Buch unter sein Kopfkissen. Er schloss die Augen und versuchte zu schlafen.
Würde er jetzt anfangen zu träumen, würde Sabrina - die Herrscherin über die Träume und Gedanken - ihn sehen können?
Vielleicht...


~Sabrina~

Wenn man einmal einen Hass, einen furchtbaren, brennenden, unendlichen Hass, den wahren Hass gespürt hat, kann man jemals derselbe bleiben?

Kann man dieses dunkelste aller Gefühle jemals wieder loswerden?
Oder zerstört es einen?

»Medusa!«, keuchte Sabrina.
»Hexe!«, rief Hook und hustete Wasser. Trotzdem drehte er sich zu Medusa um und starrte sie mit solcher Abscheu, solchem Hass an, dass Sabrina erschrak.
»Seid gegrüsst, Captain«, lachte die Gorgone.
Ihre Stimme klang wie die einer Schlange. Glatt und zischend.
Medusas Haare wanden sich. Die dunkelgrünen Schuppen der Schlangen glitzerten.
Medusa wäre eine Schönheit. Ihre Haut hatte einen feinen Oliv-Tan. Sie war sehr schlank und kurvenreich gebaut. Ihre Beine waren lang und feminin. Ihr schlanker Hals lag zwischen geraden Schultern. Die Bewegungen ihres Körpers hatten eine solche Eleganz und Grazie wie das Meer selbst. Sie trug eine Rüstung aus Bronze, die an die des alten Griechenlands erinnerte. Vor allem der Brustpanzer war wunderschön verziert.
Ihr Gesicht war schmal. Sie hatte hohe Wangenknochen, volle silber-grüne Lippen und eine lange, flache Nase. Doch ihre Haare waren Nest aus sich windenden und schnappenden Schlangen, ihre Zähne waren die eines Haifischs, hinter ihren Ohren hatte sie Kiemen, zwischen den Fingern spannten Schwimmhäute und ihre Augen, die wunderschönen, leuchtend grüne Augen... waren gestohlen...
Das Wasser hatte sich zu einer Art Wassersäule geformt und sie in die Höhe gehoben. Ein Kind Klyuss'... Wie konnte diese Meeresgöttin nur ein Wesen wie Medusa unterstützen?
»Wieso bist du gekommen? Wir hatten eine Abmachung! Ich bewahre deinen Schlüssel für dich auf und du wirst niemals zurückkehren!«, schrie Hook und zog ein langes Messer aus seinem Stiefel.
»Ich bin hier, weil man mich gerufen hat, kleiner Mann. Ruft mich ein Mädchen auf hoher See um Hilfe, erwartet sie keine Jungfrau des Ozeans. Nein. Bittet das Mädchen um Klyuss' Hilfe, so komme ich. Ausserdem ist unser Pakt nichtig. Pirat, du hast dein Wort nicht halten können, nicht wahr? Dein Mädchen, die kleine Herrscherin hat den Schlüssel!«
»Ich wollte dich nicht rufen!«, rief Sabrina. So unauffällig wie sie konnte, langte sie langsam hinter sich, um Ellon'da und einen Pfeil aus ihrem Kescher zu ziehen.
»Wirst verletzen du mein Fleisch, wird dies haben einen Preis!«, zischte Medusa. Geräuschvoll knallte das Wasser gegen die Klippen und Medusas Schlangenhaare schnappten in Sabrinas Richtung.
Wütend liess Sabrina die Hände sinken. Stattdessen versuchte sie sich auf die Gedanken der Seehexe zu konzertieren.
»Verflucht... Kann nicht... Dumme Menschlein...«
Medusas Gedanken waren schwer zu lesen, denn sie waren so flink wie das Wasser und so glatt wie eine Schlange. Trotzdem hatte Sabrina etwas aufschnappen können und was sie gehört hatte, liess sie zusammenzucken.
»Verflucht?«, fragte Sabrina.
Medusa wirkte keinen Moment erstaunt oder verwirrt.
»Ein Kratzer und es wird Folgen haben. Je schlimmer euer Vergehen, desto schrecklicher wird eure Bestrafung sein!«, rief die Meereshexe mit einem bösartigen Haifischgrinsen.
»Was willst du. Sprich, oder ich schwöre ich werde dich töten, ich scheisse auf deine Verwünschungen und Flüche!«, knurrte Hook.
»Falk. Was ist, wenn sie uns helfen könnte?«, zischte Sabrina. Vielleicht hatte sie gerade einen Geistesblitz...
Hook wandte den Blick nicht von der Gorgone ab.
Er flüsterte: »Nein. Niemals. Als ich das letzte Mal gesehen habe, wie ein Mensch, den ich liebte, einen Pakt mit diesem Monster abgeschossen hat, starb dabei meine Schwester. Ich werde nicht zulassen, dass du den gleichen Fehler machst. Sieh der Hexe doch nur ins Gesicht! Das sind ihre Augen! Die Augen meiner Schwester!«
»Wir brauchen Bluem sėmee. Der blaue Mohn wächst ausschliesslich unter diesen Klippen in Unterwasserhöhlen«, unterbrach sie den Piraten laut.
»Nein!«, brüllte Hook, steckte das Messer in seinen Gürtel und packte sie an den Schulter. »Sabrina! Niemals!«
»Sie kann uns helfen!«
Er schüttelte sie. »Bist du wahnsinnig! Ich habe dir doch erzählt, was mit meiner Schwester geschehen ist!«
Sie riss sich von ihm los. Wieso sah er es nicht ein? Medusa war vielleicht die beste Chance, die sie bekommen würden!
Auf einmal mischte sich Medusa ein: »Wieso nennst du Arielle nicht beim Namen?«
Hook verharrte. »Was?«
Medusa lachte ihr zischendes Schlangenlachen. »Was denkt Ihr, Herrscherin?«
Sabrina presste die Lippen aufeinander und schwieg.
»Könnt Ihr es Euch nicht denken? Weil er sich für ihren Tod verantwortlich fühlt! Er denkt, er hätte sie getötet! Er hat seine Schwester geliebt! Nun, das kann man ihm wahrhaftig nicht vorwerfen, Arielle war ein wunderschönes Kind. Doch unser Pirat hier weiss, hätte er Arielle geliebt wie eine Schwester, wäre sie sicherlich noch am Leben. Doch der dumme Junge hat sich das Herz von ihr stehlen lassen. Arielle hat ihn niemals so geliebt, wie er sie. Nein, Arielle liebte diesen Wassermann, Nöck hiess er glaube ich... Und als unser süsser Pirat das erkannt hat, zersprang ihm das Herz. Er hat Arielle nicht geholfen, weil er zu beschäftigt damit war, die Scherben seines armseligen Herzens aufzusammeln. Darum nennt er sie nicht beim Namen. Arielle, seine Liebe ist tot. Arielle, seine Schwester wäre noch am Leben. Wäre sie. Sie wäre es. Doch sie ist tot. Darum nennt er sie nicht am Namen. Darum nennt er sie nur seine Schwester!«, schrie Medusa.
Hooks Gesichtszüge, gerade noch voller Wut und Verzweiflung, erschlafften. Sie wurden zu einer Maske der Neutralität, wie die einer alten Porzellanpuppe.
Sabrina trat näher an ihn heran und wollte ihn tröstend an der Hand nehmen, doch stattdessen schlossen sich ihre Finger um Metall.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie. Der Pirat schwieg. Er sah ihr nur traurig in die Augen.
»Was ist jetzt mit unserem Pakt, Prinzessin? Ihr habt nach mir gerufen, ich bin gekommen. Worauf wartet ihr?«, säuselte Arielles Mörderin.
Sabrina drehte den Kopf.
Energisch rief sie: »Gut. Du hast mich gehört. Blauer Mohn. Und ich will Arielles Augen. Du Ehrlose besitzt nicht genug Anstand, ihre Augen zum Rest ihrer Gebeine ins Meer zu versenken, damit sie endlich Ruhe finden kann.«
Die Meereshexe lachte. »Kleines, bist du wirklich so naiv? Alles hat seinen Preis. Alles. Augen für Flossen. Der Tod für das Leben. Der Bruder nahm die Hand, der andre nahm die Schwester. Willst du meinen Preis, kleine Prinzessin?«
»Nein«, hauchte Hook. Sabrina wandte sich von Medusa ab und sah zu ihm auf.
Der Schmerz in seinen Augen zerriss ihr das Herz, doch trotzdem rief sie, ohne sich von dem traurigen Pirat abzuwenden: »Ich habe keine Wahl.«
Hook behielt seine Porzellan-Mimik bei, strich ihr nur über die Wange. »Ich weiss«, flüsterte er und legte seine Hand auf ihre, die noch immer seinen Haken umklammerte.
»Oh, wie ich es liebe, wenn Piraten verliebt sind. Immer ist es das Mädchen. Immer ist sie sein Verhängnis. Denn Klyuss hasst es, wenn ihre Meereskinder, egal ob Pirat, Seemann oder Schiffsbrüchiger, eine andere mehr lieben als sie. Klyuss ist sehr schnell eifersüchtig...«, säuselte Medusa.
Sabrina drehte sich zu der Gorgone um. »Was ist dein Preis?«
Sie klang erstaunlich ruhig, fand Sabrina, von sich selbst überrascht. Dabei hatte sie innerlich schreckliche Angst. Wollte Medusa ihre Augen? So wie bei Arielle?
Bevor Medusa antworten konnte, sah Sabrina es in ihren Gedanken.
Ein Kästchen. Es war aus schwarzem Stein, der mit der filigranen Prägung eines Baumes verziert war. Rubine waren hineinverarbeitet worden, die die Blätter des. Baumes darstellten.
»Ich will die Allmacht-Spieluhr«, kreischte Medusa und ihre Schlangen zischten im Chor.
Eine Spieluhr? Was sollte das?
»Was ist in dieser Spieluhr?«, fragte Sabrina misstrauisch. Irgendetwas war doch faul an der Sache...
»Keine Ahnung. Sie ist verschlossen und geöffnet hat sie noch niemals jemand«, lachte die Seehexe.
»Sie lügt«, schnaubte Hook, der langsam wieder zu sich kam. Seine Wut war verraucht, war einer bedrückenden Trauer gewichen, doch ganz hatte Medusa ihn nicht gebrochen. Sein Hass war noch immer da. »Sie weiss doch ganz genau, was in dieser Spieluhr drin ist, nicht wahr?«, knurrte Hook und trat neben Sabrina.
Medusa lächelte. »Du hast mich erwischt, Pirat. Ich vergass, du warst schon immer ein brillanter Lügen-Erkenner. Blackbeard muss ein grossartiger Lehrer gewesen sein. Wusstest du, dass er schon immer überzeugt war, dass du einer der grössten Piraten aller Zeiten werden würdest? Du hast die See im Blut, Falk James Jones Hook«, rief die Gorgone.
»Was ist in der Spieluhr?«, rief Sabrina. Sie wollte sich nicht von Medusa über den Tisch ziehen lassen. Sie versuchte Medusas Gedanken zu lesen, doch sie bekam nur Fetzen mit.
»... Weiss nicht... Herrscher... Macht...«
Wie eine Schlange wanden sich Medusas Gedanken. Sabrina bekam sie nicht zu fassen, egal wie sehr sie sich konzentrierte...
»Keine Angst, Prinzessin. Die Spieluhr ist verschlossen. Sie wurde noch niemals geöffnet. Und wisst Ihr auch wieso? Der Schlüssel ist verschollen und ohne Schlüssel kann man die Spieluhr nicht öffnen. Es wurde bereits oft versucht, jedoch nie geschafft. Falls also irgendetwas in dieser Spieluhr sein sollte, sagt mir, wie sollte ich etwas damit anfangen können, wenn ich nicht einmal die Büchse öffnen kann?«, fragte sie.
Sabrina musterte die Gorgone. Sie schien die Wahrheit zu sagen...
»Siehst du die Lüge in meinen Augen, junger Pirat?«, schnurrte Medusa und kam näher an ihren Felsen heran.
Mit viel Mühe gelang es Sabrina, dem Instinkt, zurück zu weichen, zu widerstehen, als Medusa auf gleicher Höhe zu ihnen, einen Meter entfernt im Wasser stand.
»Ich kann keine Lügen sehen. Aber ich kann riechen. Ihr stinkt nach Fisch, Gorgone!«, knurrte Hook.
Sabrina bewunderte den Piraten für seinen Mut. Wie gerne hätte sie dieser Meereshexe einmal so richtig die Meinung gegeigt!
»Ihr werdet die Spieluhr im Zeitpalast finden, falls ihr es soweit schafft, aber man soll den Tag bekanntlich nicht vor dem Abend loben...«, knurrte Medusa.
»Wieso hilfst du uns? Ich dachte, du stündest in den Diensten der Dunklen«, fragte Sabrina. Sie spürte, dass irgendetwas faul an der Sache war. Was verbarg die Seehexe?
Medusa schwenkte zu ihr herüber. Auf einmal schwebte das Gesicht der Gorgone so dicht vor ihrem, dass deren Schlangenhaare ihr locker ein Ohr abbeissen hätten können.
»Zweihundertvierzig Jahre hat diese Welt vor Kälte zittern müssen. Was glaubst du, wie es sich nun anfühlt, jetzt, da der Sommer wieder da ist? Und wenn jetzt erneut die Jahreszeit still steht, nur weil du und dein Bruder krepiert seid, dann wird niemand kommen, um die Hitze zu verscheuchen.«
»Dann hole mir den Mohn. Zwanzig Blüten. Du musst sie drei Zentimeter über dem Boden abschneiden. Und wehe dir, du vergisst Arielles Augen. Wobei wir gerade beim Thema sind... Deine eigenen lässt du dann natürlich geschlossen...«, meinte Sabrina kalt. Ihr Herz schlug so heftig wie das eines verängstigten Tieres.
Medusa lächelte. Von nahem waren ihre Zähne noch spitzer...
»Gut. Lasst mir einen Tag Zeit. Ihr werdet Eure Blumen bekommen. Und Eure Augen auch. Ich muss gestehen, ich vermisse es langsam, Wesen zu Stein erstarren zu lassen...«, seufzte Medusa, als spräche sie von einem Hobby, das sie schon lange nicht mehr ausgeübt hatte.
»Dann würde ich vorschlagen, du bringst uns zu unserem Schiff zurück«, knurrte Hook und legte Sabrina eine Hand auf die Schulter.
Die Meereshexe nahm wieder Abstand von ihr und Sabrina atmete auf. Lange hätte sie Medusas Blick nicht mehr standhalten können.
Die Gorgone lachte, was Sabrina gar nicht gefiel.
»Wenn ich euch zu eurem Schiff zurück bringe, wer verspricht mir dann, dass ihr morgen wiederkommt? Oder ob ihr bis morgen einen Weg findet, mich doch irgendwie zu töten. Nein, dieses Risiko werde ich nicht eingehen. Bis morgen. Selbe Zeit und natürlich auch selber Ort...«
»Wie bitte?!«, rief Sabrina.
»Ich wünsche euch beiden eine erholsame Nacht. Träumt süss! Aber bitte, keine Schweinereien auf diesem Felsen!«
Mit diesen Worten sank Medusa zurück in die See und war verschwunden. Ihr Lachen hallte noch lange in Sabrinas Geist nach...


~Mile~

Das Holz knarrte. Immer die gleiche Diele.
Drei Schritte. Das Knarzen. Drei Schritte. Das Knarzen.
»Drosselbart!«, brüllte Azzarro. »Verdammter Sohn eines Wollhaargnus. Ich schwöre bei den kriegerischen Seelen meiner Ahnen, wenn Ihr Euer Gesäss jetzt nicht gleich sofort auf Euren Stuhl pflanzt, würdet Ihr Euch wünschen, Ihr hättet auf mich gehört. Setzt Euch, oder ich verpasse Euch eine dritte Arschbacke.«
Drei Schritte.
»Entschuldigt, Häuptling Azzarro. Jeder hat seine eigene Art, mit der Unruhe umzugehen...«, beschwichtigte der König und fuhr sich über den Bart.
Das Knarzen.
Mile liess nervös sein Feuer von einer Hand in die andere kriechen. Auch er war nervös.
»Diese Typen können doch nicht zu blöd sein, ein paar Trolle zu grillen...«, murmelte König Orion, der gerade seine Streitaxt schärfte.
Red hatte sich neben ihm in ihren Umhang gekuschelt, den Kopf auf die Tischplatte gelegt und schlief. Einige schwarze Haarsträhnen waren ihr ins Gesicht gefallen und kitzelten sie an der Nase. Sie nieste und öffnete die Augen.
»Mile. Mile! Sind sie...«, murmelte sie verschlafen.
Er schüttelte den Kopf und knurrte: »Nein. Leider noch nicht...«
Red richtete sich auf. »Sie sollten doch schon mittags zurückkehren...«
Mile nickte. »Ich weiss...«
Die Drachen waren noch nicht zurückgekehrt. Sie hätten nur über die Trolle hinweg fliegen und die Erde brennen lassen sollen. Es wäre ein schmerzhafter, aber schneller Tod gewesen. Der Feuertod...
Doch was eine geschätzte Reise von einem Tag gewesen wäre, war nun zu einem und einem halben Tag geworden. Eine kurze Zeit für einen Fussmarsch, doch eine viel zu lange für einen Drachen.
Nun warteten die Monarchen voller Unruhe auf die Ankunft der Drachen und deren Reiter, denn die Drachen gehörten zu den stärksten Verbündeten der Rebellen. Ohne sie wäre der Sieg über die Dunklen nicht mehr, als ein Hirngespinst.
»Ich bitte euch, Männer. Beruhigt euch. Kein Troll kann einen Drachen töten, geschweige denn eine ganze Horde...«, meinte die Elfenkönigin, die wie immer einen kühlen Kopf behielt.
»Aber wie ist es dann möglich, dass die Drachen sich derartig verspäten?«, fragte Mile und liess das Feuer erlöschen.
Die Königin hob den Kopf und sah Mile ernst an.
»Ich weiss es nicht, junger Lord.«
Mile schluckte. Wenn nicht einmal Amiėle wusste, was den Drachen zugestossen sein könnte, konnten sie es sich überhaupt noch leisten, hier zu sitzen und zu hoffen? Ohne diese Drachen waren sie nichts. Sie würden sterben.


~Sabrina~

»Du hättest dich niemals auf sie einlassen dürfen, Sabrina.«
Es war das erste Mal seit Stunden, dass Hook etwas sagte. Sie hatten gestritten und gleich würden sie erneut damit anfangen, denn auch mit ihre vorherigen Auseinandersetzungen hatten mit diesen Worten begonnen...
»Ich schwöre, Falk, wenn du jetzt noch mal damit anfängst, schreie ich!«, knurrte sie. Daraufhin schwieg Hook.
Gut, dachte Sabrina grimmig und lehnte sich gegen den schwarzen Fels.
Alles tat weh. Rücken, Gliedmassen, einfach alles.
Sie hatte höchstens drei Stunden Schlaf gehabt, denn der verdammte Fels war unsäglich hart und rau und die Gischt hatte ihr immer wieder ins Gesicht gespritzt und sie geweckt. Und nun war sie gereizt. Es war wie in einem mit Wasserstoff gefülltem Raum. Ein Funke und sie würde in die Luft gehen.
»Wie lange noch, bis Medusa wieder auftaucht?«, fragte sie nachdem sie sich eine Weile angeschwiegen hatten.
Hook sah zum Himmel, wo die beiden Monde am Himmel standen. »Welchen Mitternachtsmond hättest du denn gerne?«, fragte Falk etwas frustriert.
»Den gleichen wie gestern...«, schnaubte Sabrina.
Hook lachte leise. »Wie es aussieht verspätet sich diese Seekuh von Gorgone...«
»Nenne mich noch ein weiteres Mal so und ich werfe deine jämmerlichen Blümchen ins Wasser, Pirat!«
Sabrina fuhr herum. Sie hatte die Gorgone nicht kommen hören. Wie auch, dieses Monster kam aus dem Wasser und das so lautlos wie ein Geist.
Sabrina und Falk richteten sich auf.
»Hast du, was wir wollen?«, knurrte Hook.
»Sieh ihr nicht in die Augen!«, zischte Sabrina ihm zu.
Er zwinkerte ihr zu. Grosskotz...
»Streckt die Hand aus, Prinzessin«, rief Medusa zu ihnen herüber.
Falk zog sein Messer.
»Keine Angst, Pirat. Ich werde deiner Herzensdame schon nichts antun...«, murmelte die Gorgone. Ihre Stimme klang nahe.
Sabrina tat wie geheissen und streckte die Hand aus.
Etwas schweres, eckiges berührte ihre Finger und sie griff danach.
Ein Kästchen, schlicht aus Holz gebaut, lag nun in ihrer Hand.
Sie öffnete es und sah hinein.
Die schönsten, blauen Blumen lagen darin. Zwanzig Blüten. Azurblaue Blüten und silberne Stängel und Staubblätter. Und dazwischen lagen zwei Augen. Grün wie die Blätter, die im Frühling aus den Ästen der Bäume sprossen. Grün, wie die Hoffnung. Grün, wie Arielles Augen.
»Du hast, was du wolltest?«, schnurrte Medusa, dicht vor ihrem Gesicht.
»Ja.«
»Gut«, rief Hook und holte mit dem Messer aus.
»Falk!«


~Mile~

»Sie sind da! Sie sind wieder da!«
»Die Drachen! Sie sind zurück!«
Mile spitzte die Ohren, konnte hören, wie die Wesen draussen über den Pflasterstein rannten. Er hörte ihre Schritte und Rufe.
Er stand auf.
»Mile? Was ist?«, fragte Red.
»Sie sind wieder da!«
»Woher wisst Ihr das?«, fragte König Orion.
Mile zeigte zum Fenster. »Könnt Ihr sie nicht hören? Die Leute rennen zu den Drachenställen. Die Drachen sind zurück gekehrt!«
»Wie es scheint ist unser wandelnder Kerzen-König etwas übermüdet. Es ist doch recht spät für einen kleinen Jungen, wie ihn...«, kicherte Rosanna, die sich mittlerweile auch zu ihnen gesellt hatte.
Die Barbarentochter war ihm aus dem Weg gegangen. Seit er ihre Wahrnehmung unabsichtlich beeinflusst und sie geglaubt hatte, ihr würde gleich ein Balken auf den Kopf knallen, hatte Mile sie kaum noch gesehen. Natürlich, ab und zu bei den Sitzungen des Rates, doch ansonsten schien sie kaum noch seine Wege zu kreuzen. Nicht, dass er ihre ständigen Sticheleien vermisste, nein, er war eher etwas erschrocken, dass dieser Unfall Rosanna so mitgenommen hatte...
»Nein, sie sind wieder da!«, rief Mile und stapfte zur Tür.
Er wollte gerade die Klinke hinunterdrücken, da sprang ihm die Türe entgegen.
»Sie kommen! Sie kommen!«, rief Dopey, der tollpatschige Zwerg und knallte auf den Boden.
»Ich glaube, ich habe gerade ein Déjà-vu...«, murmelte Red.
Mile half dem Zwerg auf, der noch immer keuchte von seinem Sprint. Man hatte Dopey als Wachmann auf den Stadtmauern eingeteilt. Zwar hatte der Zwerg zwei linke Füsse, aber seine Augen waren die eines Adlers...
Mile drehte sich zu den Monarchen um. Er lächelte stolz.
Der Rat sah ihn staunend an. Anscheinend musste Mile langsam wirklich ganz aussergewöhnlich scharfe Sinne entwickeln...
»Dein Vater war berühmt für seine scharfen Sinne. Du scheinst sein Gehör geerbt zu haben, mein Junge...«, murmelte ihm Drosselbart zu, als hätte er Miles Gedanken gelesen.
Drosselbart schritt an Mile vorbei durch die Tür. Als Anführer der Rebellen war es seine Aufgabe, die Drachen wieder zu begrüssen und sich wegen der Umstände der Reise zu erkundigen.
Mile sah zu Red. Die Rote nickte ihm müde zu.
Also folgte Mile dem König.
Die restlichen Monarchen blieben an Ort und Stelle.

Flankiert von einem Würdenträger und einer Leibgarde, bestehend aus einem Werwolf, drei Vampiren, einem Menschen und Katmo, dem gestiefelten Kater, eilten sie durch Aramesias Gassen.
»Schön Euch zu sehen, Mylord«, maunzte der Kater, während er über den Pflasterstein hastete.
»Auch mir ist es eine Ehre«, lachte Mile. Der Kater strahlte.
»Mir scheint, als hättet Ihr einen Fan«, flüsterte ihm Drosselbart zu und Mile grinste.
Katmo schien seinen Job wirklich sehr ernst zu nehmen. Eine Leibgarde des Lichterlords zu sein, liess sein Nackenfell aufstehen. Süss...
Immer mehr Leute aller Wesensarten drängten sich durch die Strassen. Alle wollten sie die Drachen begrüssen, die tapferen Krieger die den Trolltrupp ganz alleine besiegt hatten. Doch alle machten sofort Platz, als sie sahen, dass König Drosselbart und der Lichterlord auf dem Weg waren.
Schliesslich hatten sie sich durch die Massen gekämpft und standen vor den Ställen. Riesige Gebäude mit Eingängen, grösser als das Haupttor der Stadt.
Die meisten der Drachen hatten sich bereits wieder in ihre Stallungen zurückgezogen. Die, die trotzdem zu gross waren, hatten es sich ausserhalb der Stadtmauern bequem gemacht. Unglaublich, aber wahr. Einige der Drachen waren tatsächlich zu gross für die Stallungen...
Nur einer der geschuppten Giganten stand auf dem Hof. Der Platz war gross genug, damit das Ungetüm sich frei bewegen konnte, doch durch all die Wesen, die hier nun umher standen, um die zurück gekehrten Helden zu bewundern, schien der Drache nun doch sehr eingeengt.
Der Drache war weiss. Ikarus' Drache...
»Aus dem Weg! Macht Platz für den Lichterlord und König Drosselbart!«, rief der Würdenträger hinter Mile und blies in seine Fanfare.
Der Lärmpegel sank, denn die Wesen wollen wissen, was die Rebellenführer zu sagen hatten. Die Meute wich zur Seite und gab den Blick auf Ikarus frei, der heftig mit zwei weiteren Drachenreitern diskutierte.
»Prinz Ikarus!«, begrüsste Drosselbart den Prinzen.
Ikarus drehte sich um. Sein Gesicht war ernst. Mile war alarmiert. Was war hier los?
Respektvoll verbeugten sich die anderen Drachenreiter und machten sich aus dem Staub.
»Hallo Ikarus, wie ist es euch auf Eurer Reise ergangen?«, erkundigte sich Drosselbart.
Ikarus lächelte. Mile fiel auf, dass er nun keinen Gips mehr trug. Konnten seine Verletzungen wirklich alle schon verheilt sein?
»Sehr angenehm, mein König. Doch ich habe wichtige Neuigkeiten und möchte meine Zeit nicht mit Smalltalk verplempern.«
Mile runzelte die Stirn. »Was ist geschehen?«, fragte er den Engel.
Ikarus sah zu seinem Drachen auf und winkte ihm zu. Dieser liess seinen Kopf, der die Grösse eines Lastwagens hatte, hinabsinken, öffnete seinen Kiefer und etwas fiel Drosselbart und Mile vor die Füsse.
Ein kleiner Mann, triefend vom Speichel des Drachens, ansonsten jedenfalls unversehrt. Er trug einen braunen Umhang und eine Lederhose. Seine Haare waren braun. Er hatte ein rundes Gesicht und eine knollige Nase. Seine Ohren waren ziemlich gross.
Der kleine Mann schimpfte ganz fürchterlich und versuchte sich aufzusetzen, doch Ikarus stiess ihn mit dem Fuss wieder zu Boden. In dem Gesicht des Engels spiegelte sich die Abscheu.
»Wer ist das?«, fragte Mile und kniete sich zu dem Mann hinunter um zu sehen, ob er verletzt war.
»Das«, knurrte Drosselbart, »ist Feivel der Rattenfänger von Hameln, der im dreizehnten Jahrhundert sterblicher Zeit hunderte von Kinder aus ihren Dörfern entführt hat. Und all das mit einer einfachen Flöte aus Holz.«
Mile richtete sich auf.
»Wie bitte?«, fragte er und starrte den kleinen Kerl an, der noch immer nicht aufgehört hatte, zu schimpfen.
»Ja. Und dieser Kerl hier, wird uns helfen, die Dunklen zu besiegen!«, rief Ikarus und lachte.
Der Rattenfänger von Hameln. Nicht zu fassen...


~Sabrina~

»Falk!«, schrie sie.
»Augen zu!«, brüllte der Pirat neben ihr.
Sabrina kniff die Lider zu.
Im nächsten Moment zischte es ganz fürchterlich. Die Schlangen auf Medusas Kopf spielten verrückt...
»Falk, was...?«
Ein Kreischen. Ohrenbetäubend laut und ganz nah an ihrem Gesicht.
Ein schleimiges Geräusch.
Eine heisse Flüssigkeit spritzte ihr ins Gesicht.
Dann war es für einen Moment ruhig.
Plötzlich ein dumpfer Schlag, dann ein Platschen.
Stille.
Endlich Stille.
Nur das Rauschen des Meeres, ihr eigener, heftiger Atem und Hooks keuchen an ihrem Ohr.
Langsam öffnete sie die Augen wieder.
»Nein...«
Vor ihrem Gesicht schwebte Medusas Kopf.
Eine Hand hatte sich in die Schlangenhaare gekrallt, die nun schlapp nach unten hingen, wie Spaghetti. Der Mund der Seehexe war weit aufgerissen und entblösste die Reihen spitzer Zähne. Die Lider hatte Medusa weit aufgerissen. Aus leeren, schwarzen Fischaugen starrte Medusa sie an...
»Ich hatte doch gesagt, ich halte nichts von Flüchen. Ausserdem hatte ich einst geschworen, Arielles Tod zu rächen. Ich hatte geschworen, Medusa zu töten. Und Captain Falk James Jones Hook hält immer sein Wort.«
Sabrina konnte den Blick von dem abgehackten Kopf nicht abwenden.
»Es ist wirklich schade, dass man diese Bestie nicht für immer umbringen kann. Doch solange der Kopf vom Rumpf getrennt ist, wird sie so schnell nicht mehr lebendig.«
Er liess den Arm sinken und Sabrina konnte sich wieder aus ihrer Starre befreien.
Stattdessen richtete sich ihr Blick nun auf den Körper des Monstern, der im Wasser trieb. Es blubberte und er versank.
Sabrina strich sich über das Gesicht, doch nun waren ihre Hände rot. Rot vom Blut Medusas.
»Wie konntest du...«, hauchte sie und starrte ihre Finger an.
So rot.
So rot.
»Sie war ein Monster!«, rief Hook.
»Sie hat uns gerade geholfen!«, schrie Sabrina.
»Das war keine Hilfe. Das war ein Handel!«, knurrte der Pirat und zog seinen Mantel aus, damit er den Kopf der Gorgone in das Leder wickeln konnte.
Sabrina konnte nur starr zusehen.
Der Schock sass ihr tief in den Knochen.
»Komm schon, Sabrina. Ich musste sie töten. Ausserdem kann sie doch gar nicht sterben. Irgendwann im nächsten Jahrtausend wird der Kopf nachwachsen. Doch jetzt lass uns einfach auf das Schiff zurückkehren!«, versuchte er sie zu beruhigen.
Der Pirat langte in seine Hosentasche und holte das Sturmglas heraus.
»Du hattest es die ganze Zeit bei dir?«, rief Sabrina.
Hook gab ihr keine Antwort.
»Verflucht hör auf, mich zu ignorieren, du grässlicher Pirat!«
Falk zuckte zusammen, gab ihr jedoch keine Antwort. Er schraubte Stumm an dem Sturmglas herum.
»Der Wind sollte die Jolly Roger jetzt genau zu uns bringen. Gleich haben wir es geschafft...«, murmelte er.
»Wieso?«, rief sie erneut.
Falk sah sie an. Seine Augen waren voller Trauer, zeigten aber keine Reue.
»Sabrina. Ich musste das tun. Nun hat der Teufel eine Seele. Nun bin ich frei. Ich habe meine Schuld beglichen. Jedenfalls einen Teil davon. Versuche es doch zu verstehen. Bitte!«
Sie sah ihn lange an.
Konnte sie ich verstehen? Sie wusste es selbst nicht.
»Sabrina...«
»Ich weiss es nicht!«, rief sie. Etwas leiser fuhr sie fort: »Falk, ich weiss nicht, ob ich dich verstehen kann. Ich muss darüber nachdenken. Vielleicht werde ich irgendwann verstehen. Irgendwann. Doch jetzt kann ich nicht.«
Falk nickte. Betrübt sah er zu Boden.
»Falk...«
»Ja?«
»Was war der Preis?«
Verwirrt sah er auf.
»Der Fluch. Was war die Strafe? Du hast ihr den Kopf abgeschlagen. Was ist die Strafe dafür? Sie hatte uns verflucht!«
Der Pirat lächelte müde. Er hob seinen Haken und liess das Metall im Licht des Mondes glänzen.
»Der Preis ist meine Hand, Sabrina. Immer ist es meine Hand. Und dieses Mal habe ich sie für immer verloren. Ab heute werde ich niemals wieder zwei Hände haben. Ab heute bin ich auf ewig der Pirat mit der Hakenhand. Ich bin Captain Hook.«
Sabrina gaben die Knie nach. Sie liess sich zu Boden sinken und lehnte den Kopf an den kühlen Felsen.
Der Preis war Hooks Hand. Nun würde er für immer einen Haken an der Hand tragen müssen.
Und sie? War sie ebenso ein Preis?
Sie hatte gerade eben gesehen, wie Hook kaltblütig gemordet hatte. Nun gut, Medusa war wirklich ein Monster. Ausserdem hatte die Gorgone seine Schwester getötet...
Trotzdem... Sie hatte es vielleicht einfach nicht wahr haben wollen, doch Falk war ein Pirat. Dies war nicht das erste Leben, welches er genommen hatte. Das Blut von tausenden klebte an... seinem Haken.
Konnte sie ihn trotzdem lieben?
Medusa war ein Monster. Vielleicht hätte sie die Gorgone, wäre sie in Hooks Lage, ebenfalls getötet.
Nein, es war nicht das Problem, dass er Medusa getötet hatte, es war nicht das Problem, dass er früher schon so oft getötet hatte. Nein.
Was sie so sehr verschreckte, war, dass er es vor ihr getan hatte. Er hatte das geplant.
Natürlich hatte er nicht geplant, anstatt einer Meerjungfrau auf Medusa zu treffen, aber er hatte es geplant, Medusa zu töten.
Er hatte das Sturmglas dabei gehabt und es ihr verschwiegen. Der Pirat hatte gewartet, nein, er hatte gelauert wie eine Raubkatze. Er hatte darauf gelauert, dass Medusa näher kam und als Sabrina bestätigt hatte, dass sie Mohn und Augen hatten, da hatte er ihr mit diesem langen, widerlichen Messer den Kopf abgeschlagen.
Hook hatte sie benutzt um zu töten.
Am Horizont graute der Morgen.
Ein schwarzer Fleck kam weit in der Ferne auf sie zu. Grösser und grösser wurde er.
Die Jolly Roger war auf dem Weg...


------------------------

Hallo Leute!


Hier ist Kapitel 37. Da ich im Moment ein niesendes, hustendes Häufchen Elend bin, hatte ich genug Zeit, zum Schreiben.
Echt, ich bin saumässig erkältet... Ich klinge wie ein Chewbacca mit Hustenanfällen xD
Ich hoffe, euch geht es gut. Bleibt gesund und munter ;P

Was glaubt ihr? Kann Sabrina dem Piraten verzeihen? Oder übertreibt unsere Dramaqueen mal wieder etwas?
Und was wird aus Feivel? Wo sind die Kinder, die der Rattenfänger vor all den Jahren entführt hatte? Und wie soll er den Rebellen helfen können, die Dunklen zu besiegen?
Wer Antworten auf diese Fragen will, der muss sich leider noch etwas gedulden ;P

Gewidmet ist das Kapitel Psychodani. DANKE FÜR DEINE VOTES! :D

Viel Spass :D

Liebe Grüsse,
Eure Dreamtravel

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