Angst brannte in den Augen der beiden Kinder, als sie zu den bedrohlich aufragenden Wolkenkratzern hinaufsahen.
Eng aneinander gedrängt knieten sie auf dem Schotterstreifen vor der Mauer, die kahlgeschorenen Köpfe viel zu groß für die zierlichen Körper.
Sie waren höchstens zehn.
Der Wind, der mit ihnen durch die Schleuse gekommen war, roch beißend nach Desinfektionsmittel. Wie ironisch, dass über den Dächern der Stadt gerade der vielleicht schönste Sonnenuntergang jemals glühte, während man das Leben dieser beiden winzigen Menschen zerstörte.
Das Mädchen zog den weinenden Jungen näher an sich und ließ ihren leeren Blick schweifen.
Für sie war Cress nur ein Schatten an der dunklen Fassade, den das warme Abendlicht zeichnete.
Die junge Frau hatte innegehalten, als sie aus dem Tor gekommen waren, wie jeder andere Farblose in Sichtweite.
Übelkeit stieg in ihr auf, als sie das mutmaßliche Geschwisterpaar sah, das barfuß und in formlosen weißen Anzügen in den Geisterbezirk stolperte.
Die Diebin ließ sich auf das Fensterbrett sinken, von dem sie sich gerade noch abstoßen wollte und spürte, wie entsetzte Kälte durch ihre Venen jagte.
Was hatten diese beiden verbrochen, um diesseits der Mauer zu landen?
Der farblose Bezirk grüßte sie mit toten Wolkenkratzern, zwischen denen sich Diebe, Betrüger, Prostituierte, Mörder, Vergewaltiger und nicht zuletzt Cyborgs tummelten.
Cress Cye kannte diese beißende Angst in den Augen der neuen Farblosen. Die Art von Angst, wegen der man sich übergab und nicht mehr klar sehen konnte. Denn sie war nicht im Geisterbezirk geboren worden, wie Katena. Sie war zu einem Geist gemacht worden, wie diese beiden Kinder. Die Diebin konnte nicht anders, als Respekt für das kleine Mädchen zu empfinden, das die Tränen zurückdrängte und mit zitternden Lippen versuchte ihren Bruder zu beruhigen.
Sie waren auf eigenen Beinen aus der Schleuse marschiert. Vor Jahren war Cress selbst halb wahnsinnig gewesen vor Wut und Angst, hatte geweint und geschrien, obwohl sie zwei Jahre älter gewesen war, als diese beiden.
Sie bildete sich ein, den scharfen Schmerz noch einmal durch ihren Kiefer zucken zu spüren, als der Soldat sie fast bewusstlos geschlagen hatte, um von ihr loszukommen. Das CARED, Colourless Affairs and Reeducation Department, versuchte solche Szenen zu vermeiden, denn es wollte die Psyche seiner kostbaren Soldaten nicht unnötig belasten.
Es sollte wohl erleichtern, dass ein Kind in seinen sicheren Tod zu schicken selbst an den Härtesten unter ihnen nicht einfach vorbeiging.
Das kleine Mädchen vor der Mauer fuhr über den kahlen Kopf ihres Bruders und begann zu singen.
So leise, dass Cress es aus dieser Entfernung zuerst nicht hörte, bis der scharf riechende Wind ihre Worte zu ihr hinauf trug.
Von Sternen sang sie, von den Göttern aus Feuer und Silber, die der hohe Orden der edlen Dämmerung dieser Stadt gegeben hatte. Cress fragte sich, wie lange die Kleine sich noch an diese Unsterblichen klammern würde, die nichts gegen ihr Leid unternommen hatten. Denn wo Menschen litten, waren auch neue Götter erfahrungsmäßig nicht fern.
Doch nicht nur die Sekten des farblosen Bezirks hatten Interesse an jungen Geistern.
Junge Farblose waren Frischfleisch, völlig wehrlos während des Prozesses, der allgemein als die Passage bekannt war.
Cress lehnte sich minimal aus dem Fensterrahmen, in dem sie stand, und spähte durch Stromkabel und die aufkommende Düsternis in die bereits dunkle Schlucht der Straßen hinunter.
Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Geisterfänger der verschiedenen Sekten, Gangs, Bordelle und Gilden auftauchten, um die beiden neuen in Augenschein zu nehmen.
Auch Cress war für einen der Verbrecherfürsten des farblosen Bezirks hier. Ihre Beweggründe waren um nichts nobler, als die der anderen Geisterfänger, auch wenn sie sich damit tröstete, dass ihr Gönner vergleichsweise human mit seinen Rekruten umsprang.
„Wie jung sind sie?", fragte jemand hinter ihr.
„Zu jung", gab sie zurück, ohne sich umzudrehen, „Die Herzdame wird auch auftauchen, um sie in Augenschein zu nehmen. Wahrscheinlich ist sie schon hier."
Der Mann, der sich aus den Schatten löste, fluchte verhalten.
Wie Cress trug er schwarz, doch im Gegensatz zu ihr hatte er eine altmodische Schrotflinte über der Schulter und ein Schwert an seinem breiten Gürtel.
Er war kein Schatten wie sie, der leise zwischen Häusern umherschlich und Informationen und glitzernde Dinge stahl, ohne je gesehen zu werden. Während man sie leicht übersehen konnte, machten ihn seine Tattoos und sein knallroter Mohawk unverkennbar, auch wenn man sein Septum mit dem winzigen Herz daran dank der pechschwarzen Atemmaske nicht sehen konnte.
Kieran war ein Jäger, einer der die schmutzige Arbeit für den Gönner machte, dem sowohl Cress als auch er selbst diente. Und er war gut in dem, was er tat.
Der brutal aussehende Mann stützte die Ellenbogen auf das Fensterbrett, auf dem Cress stand, und spähte hinaus auf den Schotterstreifen, wo die Kinder immer noch saßen.
„Sie wird kommen, um sich das Mädchen zu holen", vermutete er düster, „Wir haben eine größere Chance, ihn zu bekommen."
Cress wusste, dass er Recht hatte. Wenn die Herzdame hier war, würde sie sich das vielversprechendere Kind schnappen, wenn nicht sogar beide. Sie wiegte den Kopf hin und her.
Es gefiel ihr ganz und gar nicht, dass Nana die Kleine mitnehmen würde. Denn das Leben in der Herzgilde war nicht schön, wie es der Name andeuten könnte. Viel mehr verbargen sich hinter dem Namen die Menschen, die blitzenden Stahl durch schlagende Herzen jagten.
Wenn Nana Rouge diejenige war, die dieses Mädchen entführte, würde dieses zur Mörderin werden und vielleicht zu einer der Assassinen werden, die selbst der Adel fürchtete.
„Hat er gesagt, nach was er sucht?", fragte Cress, während Bewegung in die Straßen unter ihnen kam. Auch Kieran folgte ihrem Blick.
„Nein."
Ihre eigenen Geisterfänger hatten Aufstellung genommen. Solange die Kinder gebadet in die letzten Strahlen der Sonne auf dem Schotterstreifen saßen, etwa hundert Meter von den verfallenen Hochhäusern entfernt, konnte jeder, der den Schutz der Gassen verließ, leicht von einem der Scharfschützen anvisiert werden. Entweder von den Soldaten des Königs, die Tag und Nacht die Mauer bewachten, die die Kronstadt von den Außenbezirken abgrenzte, oder von den Handlangern der anderen Verbrecherfürsten.
Ironischerweise waren die Kinder dort am sichersten, wo die meisten Gewehre auf sie zielten.
Cress hatte den Kopf schief gelegt und lauschte immer noch dem immer wieder stockenden Gesang, den der Wind herauftrug.
Eine Schande, dass die Kleine als Rote und nicht als Gelbe geboren worden war, dachte Cress. Nach ein paar Gesangsstunden hätte diese Stimme wie die einer der Künstler klingen können. Der Gedanke tat nicht so weh, wie sie erwartet hatte.
„Wie viele Leute haben wir?", fragte sie.
„Zehn Klingen."
Sie hob die Augenbrauen.
„Wir brauchen wohl wirklich Nachwuchs."
Er hatte sich inzwischen mit dem Rücken zum Geschehen an das Fensterbrett gelehnt und einen Schluck Wasser aus einer verbeulten Feldflasche genommen, die er ihr nicht anbot.
„Alle Gilden brauchen Nachwuchs", brummte er, „Vor allem die Herzgilde."
Immer noch bewegten sich die Kinder nicht, weswegen Cress es wagte, für einen Moment den Blick von ihnen abzuwenden.
„Was soll das heißen?"
„Hast du es noch nicht gehört?", fragte Keiran düster.
Cress schüttelte nur den Kopf.
„Sie haben einen gefangen. Der König hat Nanas goldenen Jungen erwischt."
Einen Moment lang starrte sie ihn an, bevor ihr Blick wieder nach draußen wanderte, scheinbar unbeteiligt.
Man könnte fast meinen, dass sie den Betroffenen gar nicht kannte.
„Dann wird sie alles daransetzen, beide zu bekommen."
„Ich dachte, du wärst die Erste, die es erfährt", sagte er, ohne auf ihren Ablenkungsversuche einzugehen. Cress war vollkommen auf die Kinder fixiert, die in der Dämmerung auf die Beine kamen und sich den Schotter von den Knien rieben.
„Anscheinend nicht", knurrte sie zurück.
Das Lied des Mädchens war verstummt, die Tränen des Jungen vorübergehend versiegt.
„Kanntest du ihn?"
Der Schatten biss die Zähne zusammen, bis es weh tat. Sie vertraute Kieran nicht genug, um mit ihm über solche Dinge zu sprechen. Sie würde sich später darum sorgen, wenn sie nicht mehr Gefahr lief in die Ungnade ihres Gönners zu fallen, weil sie keinen einzigen jungen Geist zurück in sein Hauptquartier gebracht hatte.
Anstatt zu antworten sprang Cress vom Fensterbrett auf das fleckige Laminat des Bodens.
„Sie kommen."
Wortlos verschwand Kieran die Treppen hinunter und Cress hinauf auf das Dach des Wolkenkratzers, während die Kinder langsam auf die düsteren Straßen zu schlichen, ohne zu wissen, was sie dort erwartete.