Uralte Fassung (1): Twos - Di...

By MaraPaulie

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Achtung: Alte Fassung. Neue ebenfalls auf Account zu lesen. Nicht jedes Märchen beginnt mit »Es war einmal... More

Vorwort
Prolog
Kapitel 1 - Ticket der Freiheit
Kapitel 2 - Home Sweet Home
Kapitel 3 - Die Tallos
Kapitel 4 - Die verrückte Tanja
Kapitel 5 - Tränen aus Eis
Kapitel 6 - Verräter und Bruder
Kapitel 7 - Das Wintermädchen
Kapitel 8 - Die Herrscher der Gezeiten
Kapitel 9 - Grosser, böser Wolf
Kapitel 10 - Vom Märchen in rot
Kapitel 11 - Von Schnee im Haus und Rosen aus Feuer
Kapitel 12 - Erbe der Toten
Kapitel 13 - Von Verrückten und dem Labyrinth
Kapitel 14 - Der Bruder mit dem Schuppenkleid
Kapitel 15 - Des Winters Blut
Kapitel 16 - Der Junge, der mit der Sonne tanzt
Kapitel 17 - Augen ohne Liebe
Kapitel 18 - Die Völker aus den Büchern
Kapitel 19 - Trauriger Mörder, lass mich gehen
Kapitel 20 - Feuerraben
Kapitel 21 - Der Löwe und der Wolf
Kapitel 22 - Der Traum von Familie
Kapitel 23 - Der Pirat und die Prinzessin
Kapitel 24 - Von Barbaren und Märchen aus der Besenkammer
Kapitel 25 - Von toten Jungen und Mädchen aus Licht
Kapitel 26 - Der Lichterlord und die Antwort zum Hass
Kapitel 27 - Rote Raben und Bücher voller Schicksal
Kapitel 29 - Von Schläfern und Schlüsseln
Kapitel 30 - Geheimnis ohne Zeit
Kapitel 31 - Namen von Macht
Kapitel 32 - Zum Lied des irren Geigers der Dämon mit dem Teufel tanzt
Kapitel 33 - Vom Meer zu den Wolken
Kapitel 34 - Geschichten, die ein Vöglein zwitschert
Kapitel 35 - Sturmgläser, tanzende Piraten und Jungen, die vom Himmel fallen
Kapitel 36 - Klyuss' Kinder
Kapitel 37 - Blau wie der Mohn, grün wie die Hoffnung und rot wie Blut
Kapitel 38 - Das Schicksal der Verfluchten
Kapitel 39 - Gejagte der Vergangenheit
Kapitel 40 - Blut fremder Brüder
Kapitel 41 - Spiel der Könige
Kapitel 42 - Es jagt und tanzt der Geistesblitzt
Kapitel 43 - Die Wahrheit wurde von einem Lügner erschaffen
Kapitel 44 - Vom Mörder, der die schwarze Orchidee fand
Kapitel 45 - Von Herrschern mit dem Flammenhass und Helden kleiner Klingen
Kapitel 46 - Wer wir sind und was wir tun
Kapitel 47 - Einmal Monster, immer Monster
Kapitel 48 - Das Versprechen von niemals und immer
Kapitel 49 - Das Wort 'böse'
Kapitel 50 - Der Herzkasper
Kapitel 51 - Freund oder Feind, alt oder neu, beide bleiben ewig treu
Kapitel 52 - Das Gedicht des Todes
Kapitel 53 - Die Reise der Wahrheit und des Sinns hinter allem
Kapitel 54 - Von Geschwisterbanden und letzten Zeilen
Kapitel 55 - Der Tempel der Orakel
Kapitel 56 - Mondkind
Kapitel 57 - Die erste aller Schöpfungen
Kapitel 58 - Vom Intrigieren, Dechiffrieren, Konferieren und fiesen Viren
Kapitel 59 - Glücksjagd und Königsmord
Kapitel 60 - Schattenlicht und Bernsteingold
Kapitel 61 - In der Schwebe
Kapitel 62 - Patron und Paladin
Kapitel 63 - Von Luftschlössern und Monstern unterm Bett
Kapitel 64 - Deine wunderschönen Lügen
Kapitel 65 - Von Namen und Masken
Kapitel 66 - Das blinde Recht
Kapitel 67 - Das blinde Herz
Kapitel 68 - Das blinde Glück
Kapitel 69 - Verfluchtes Kind mit Gold gekürt
Kapitel 70 - Als niemand schlief
Kapitel 71 - Der Gewissenlose
Kapitel 72 - Phönix
Kapitel 73 - Ein Goldstück für deine Gedanken
Kapitel 74 - Kriegsherr Regen
Kapitel 75 - Der Herrscher über alle Macht
Kapitel 76 - Alles ist gut
Kapitel 77 - Die Feinde des Schicksals
Kapitel 78 - Und wenn sie nicht gestorben sind...
Kapitel 79 - Lucky Strike
Kapitel 80 - ...dann leben sie noch heute
Epilog
Authornotes
Charakterverzeichnis
Illustrationen

Kapitel 28 - Wer lauert in der Dunkelheit?

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By MaraPaulie


Kapitel 28

Wer lauert in der Dunkelheit?


~Mile~

»So singt man über den Baum der Toten, ihm die mut'gen Zwerge drohten. Sie arbeiteten hart, sie gruben tief, wo die Wurzel dieses Bösen schlief...«
Der Farn rauschte im Wind. Die Sonne ging gerade unter. Goldenes Licht liess das ganze Land noch märchenhafter wirken, als es tatsächlich war.
»... Sie hackten Holz, das Dunkle schmolz...«
Mile beobachtete den Schimmel, wie er im stolzen Galopp auf die Stadt zu jagte.
Die Stadt.
Aramesia.
Zusammen mit den Monarchen hatte er sich den Grundriss der Stadt genauestens angesehen. Doch in dem Licht der untergehenden Sonne, war sie noch eindrucksvoller, als auf dem Papier.
Der Grundriss der Stadt war rund. Die Stadtmauer war circa zwanzig Meter hoch. Aramesia sah aus wie eine Schüssel. Eine extrem überfüllte Schüssel. Wenn es im Mittelalter so was wie Hochhäuser gab, so fand man sie hier. Haus auf Haus auf Haus auf Haus. Es schien, als hätte man, nachdem es keinen Platz mehr am Schüsselboden der Stadt gegeben hatte, einfach die neuen Häuser auf die Alten drauf gebaut. Verbunden wurden die Hochhäuser mit Brücken.
Das Verkehrsnetz da drin muss der reinste Horror sein, schoss es Mile durch den Kopf.
»...Der Schreckensbaum, er brannte hell, die Toten war'n ein böser Traum...«
»Jetzt hör ma' auf zu singen, ey!«, kreischte Rosanna, die neben ihm kauerte. Der Zwerg ignorierte sie, liess seine Stimme zu einem tiefen Bass anschwellen, um dann wieder in die Alt Stimme hinaufzuklettern.
Mile störte der Zwergen Gesang nicht. Irgendwie gefiel ihm diese Atmosphäre.
Er stupste Rosanna in die Seite, legte den Finger auf die Lippen und schüttelte langsam den Kopf. Rosanna schnaubte genervt und klapperte mit ihren Wurfmessern.
Mile sah wieder auf die Stadt hinab.
Sie waren etwa zweihundert Meter von dem Monument menschlicher Architektur entfernt. Sie lagen im Gras. Hinter ihnen begann der Wald zu wuchern, vor ihnen breitete sich eine Hügelkette aus. Das Gras leuchtete in einem Saftigen Grün. Links, in weiter Ferne, erkannte man das Blau des Tränensees.
Wenn Mile sich konzentrierte, konnte er das Klappern der Hufe des Schimmels auf dem Kiespfad, der zur Stadt führte, hören.
»... So zog das Zwergenvolk von Dannen, alle Vögel von ihren Heldentaten sangen...«, brummte der Zwerg.
Er war ein stämmiger Kerl, wie es jeder Zwerg war. Sein fuchsroter Bart war so verfilzt, dass er ganz steif war. Er hatte eine dicke Nase, mit gewaltigen Nasenlöchern. Seine Stirn war so zerfurcht, als wäre man ihm mit einem Rächen durch die Haut gefahren.
»... Die Zwerge kehrten huldvoll Heim...«
Rosanna stöhnte demonstrativ laut und liess den Kopf ins weiche Gras sinken.
Der weisse Schimmel hatte die Stadt nun erreicht. Ein kleiner, blauer Punkt hüpfte von dem Rücken des Pferds und gleich darauf dröhnte das »Tröteröööt« eines Trompetenartigen Instruments.
»Der Bote ist jetzt am Stadttor angekommen!«, sagte Mile aufgeregt und sah zu Red hinüber, die links von ihm lag. Sie hatte ihn den ganzen letzten Monat nicht eines Blickes gewürdigt und Mile hatte sie gewähren lassen, hatte es wortlos akzeptiert.
Wenn er eins wusste, dann, dass man eine Frau weichkochen musste. Das hatte er von Sabrina gelernt. Wenn sie Streit hatten, spielte seine Schwester die beleidigte Leberwurst. Doch lange hielt sie das meist nicht aus. Irgendwann kam sie immer zu ihm zurück, um den Konflikt aus der Welt zu schaffen und sich mit ihm zu versöhnen. Wann immer er den ersten Schritt machen wollte, hatte sie ihm die kalte Schulter gezeigt.
Doch mit Red war es irgendwie anders. Wenn Sabrina schmollte, war das manchmal noch ganz lustig, wie sie versuchte, ihn mit demonstrativ verächtlichen Blicken einzuschüchtern. Doch Red schaffte es, durch ihn hindurch zu sehen. Sie behandelte ihn wirklich wie Luft. Das gefiel ihm nicht. Wie sollte er nur mit ihr umgehen?
Als er dann also an diesem Morgen aufgewacht war und noch immer keine fröhliche Red vor dem Zelt stand und ihm einen guten Morgen wünschte, hatte er beschlossen, etwas ändern zu müssen... Darum hatte er veranlasst, dass Red ihn heute begleiten musste. Ob sie wollte, oder nicht.
Man hatte ebenfalls beschlossen, einen Boten nach Aramesia zu schicken. Rein aus Prinzip. Der Bote solle die Nachricht überbringen, dass die Rebellen Anspruch auf Aramesia erhoben und die Stadt besetzen wollten. Es war klar, dass dieser Anspruch abgelehnt werden würde. Darum hatte man rund um die Stadt kleinere Truppen stationiert. Sobald es dunkel werde, würden diese kleinere Truppen in Aramesia einbrechen. Die Stadt hatte zwölf Tore. Postiert waren zwölf Truppen. War man erst einmal in der Stadt, würde der Widerstand schwach sein.
Niemand durfte aus Aramesia hinaus. Die Bewohner waren also Gefangene. Man würde die Übernahme begrüssen. Von den Bewohnern würde niemand kämpfen wollen. Sie mussten nur die Soldaten der Dunklen überwältigen.
»Endlich wieder frisches Blut!«, hörte Mile einen der Vampire hinter sich sagen. Ein anderer fauchte zustimmend.
Mile schauderte. In allen Truppen waren besonders viele Wesen des grauen Volkes postiert. Diese Wesen waren nun einmal geschaffen für die Nacht, für das Dunkle.
Der blaue Punkt - also der Bote - bewegte sich noch etwas weiter von seinem Pferd weg, dann blieb er stehen.
Nervös biss sich Mile auf die Lippe.
»Jetzt bin ich aber gespannt...«, brummte Rosanna neben ihm.
Mile hatte seine Truppen selbst ausgesucht. Denn sie würden das Haupttor angreifen. Rosanna war zwar eine giftige Furie, aber auch ein verdammt zäher Brocken und mit Messern konnte sie umgehen, als wären es bunte Bälle, mit denen man gefahrenlos jonglieren konnte.
Vampire waren zwar gruselig, aber auch stark, schnell und waren die Nacht gewöhnt. Die Zwerge waren kräftig und zäh. Werwölfe waren schnell, kräftig und treu. Und Red? Red war Red. Eine Künstlerin mit dem Schwert, eine wilde Wölfin, eine treue Freundin. Niemandem würde er sein Leben lieber in die Hände geben, als diesem Mädchen. Seinem Mädchen.
Er hatte nicht bemerkt, wie er sie angestarrt hatte. Es war ungewohnt, sie ohne ihren roten Umhang zu sehen.
Ihre Haare waren zu einem Knoten zurückgebunden, doch bereits jetzt hatten sich einige schwarze Strähnen gelöst und hingen ihr ins Gesicht. Ihr schlanker Körper wurde durch eine leichte Rüstung geschützt. „Leicht" im Sinne von „Nicht schwer", also nicht vollständig aus Metall sondern eine Mischung aus Leder und Metall. Brust und Rückenpanzer bestanden aus Stahl. Arm und Beinschienen waren aus dickem Leder, sehr wahrscheinlich aus der Haut eines Trolls gearbeitet. Sie hatte die Hände in das Gras gekrallt, als wäre sie krampfhaft darum bemüht, keinen Kreisch Anfall zu bekommen und durch den Wald zu rennen.
Als sie merkte, wie jemand sie beobachtete, drehte sie den Kopf.
Sie zuckte zusammen, unterbrach sofort den Blickkontakt zu ihm und wandte sich wieder ab. Sie biss sich auf die Lippe. Ihr Blick war gequält.
Miles Herz triefte vor Enttäuschung.
»Was zur...?!«, rief Rosanna neben ihm und sprang auf.
»Hey! Leg dich sofort wieder hin, oder willst du, dass unsere Tarnung auffliegt?!«, zischte er und klopfte gegen ihre - ebenfalls lederne - Beinschiene.
»Entschuldige mal, Herr Herrscher, aber Euer bemitleidenswerter Bote wurde gerade erschossen!«, zischte die Barbarentochter, warf sich jedoch wieder flach auf den Boden.
»Was?!«, fauchte einer der Vampire hinter ihm.
Fassungslos starrte Mile geradeaus. Der blaue Punkt - Schrägstrich - Bote... Er war nun ein länglicher Fleck auf dem breiten Kiesweg. Der Schimmel scheute, sein Wiehern drang zu ihnen durch, wie ein grauenvolles Echo.
Wieder schrie das Tier. Dann warf es den Kopf zurück und ging zu Boden.
»Und das Pferd haben sie jetzt auch noch abgemurkst«, sinnierte Rosanna scharfsinnig.
»Verdammte Scheisser!«, knurrte ein Werwolf in seiner Tiergestalt. Seine Augen leuchteten dunkelgrün und sehr wütend. Er knurrte.
Beinahe hätte Mile „Aus!" gerufen, besann sich jedoch noch rechtzeitig und sagte stattdessen: »Ruhig, Werwolf! Wir sind noch nicht dran! Jetzt greift erst die... die...«
»Die Truppe im Osten an. Danach geht die Reihenfolge im Uhrzeigersinn nach. Wenn sie bei uns angelangt ist, ändert sich die Reihenfolge und die Truppen im Norden werden aktiv«, vollendete Red seine Erklärung, ohne ihn an zu sehen.
»Danke«, nuschelte er verlegen.
Er dachte an den armen Kerl, der dort draussen lag. Der Bote. Ein Mensch, soweit er wusste. Ein Sterblicher. Er entstammte keinem Märchen. Also war er tot.
Einfach tot.
Mile schloss die Augen.
»Wie heisst ihr?«, fragte er.
»Wie meinst 'n das jetzt?«, schnaubte Rosanna. Sie lag auf dem Rücken und schnitzte teilnahmslos an einem Holzscheit herum.
»Nicht du! Ich meine die anderen. Du, Wolf!«, zischte er, drehte sich um und deutete auf den Werwolf mit den dunkelgrünen Augen. Sein Fell war hellgrau. Er hatte sich neben einem kleineren, kastanienbraunen Wolf zusammengekauert, den Blick auf die Stadt gerichtet. »Wie ist dein Name?«
Der Wolf schien zu zögern, das sagte Mile jedenfalls sein Gefühl. Doch dann sah der Wolf zu ihm auf und brummte: »Sol Frarch. Und das hier ist mein Sohn«, er nickte mit seinem grossen Wolfskopf in die Richtung des braunen Wolfs. Dieser nickte ihm zu und blinzelte ihn aus den gleichen dunkelgrünen Augen an, wie sein Vater sie hatte. »Minkuch«, sagte er ruhig und blinzelte nervös.
Mile nickte ernst und sah zu den drei Vampiren hinüber, die in etwas distanziert neben einem Busch kauerten. Sie trugen keine Rüstungen, sondern hatten sich sehr vornehm gekleidet, als gingen sie auf einen Ball. Waffen hatten die Fangzahnträger keine - Die brauchten sie auch nicht.
»Frederick de Monto«, brummte einer von ihnen knapp. Er steckte in einem schwarzen Frack. Die Frau neben ihm , strich leicht verlegen über ihre spitzenbesetzte Tunika, lächelte und zeigte dabei ihre spitzen Eckzähne, was jedoch nicht unfreundlich wirkte. »Ann-Susann, aber nenn mich einfach Anne«, flüsterte sie. Der dritte Vampir, der in einen dunkelblauen Anzug gekleidet war, sah jünger als seine Artgenossen aus. Seine Haare waren hellblond und seine Gesichtszüge fein. Er konnte kaum volljährig sein. »Fjore«, antwortete er ruhig. Mile konnte seinen Akzent nicht ganz einordnen, schätzte ihn jedoch auf Schwedisch.
Mile nickte auch ihnen zu. Er sprach die Minderjährigkeit des jungen Vampirs nicht an. Vermutlich war er älter als sie alle zusammen. Ausserdem war er selbst auch noch nicht achtzehn.
Der Zwerg sprach, bevor Mile ihn ansah.
»Brutch!«, donnerte er, ohne dabei besonders laut zu sein.
Mile konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er mochte die Zwerge.
Mile sah zu der Elfe. Natürlich war sie wunderschön. Ihre Haare waren weiss wie frisch gefallener Schnee. Die Gesichtszüge fein, wie gemalt. Ihre Augen waren Aschgrau. Abgesehen von Brust-und Rückenpanzer trug sie keinen Schutz. Nur ein blattgrünes Schild, auf das ein goldener Baum gemalt worden war.
»Sookie«, flüsterte sie. Ihre Stimme klang hell wie klar wie der Gesang einer Nachtigall.
Wieder nickte Mile.
»Ich möchte, dass ihr euch diese Namen merkt. Prägt euch diese Gesichter ein. Mit diesen Wesen werden wir Aramesia befreien.«
Alle nickten. Sogar Red. Er schaffte es, ihren Blick auf zu fangen. Er lächelte sie an. Red sah weg.
»Was zum Hunnenkönig ist da los?!«, fragte Rosanna neben ihm.
Er sah wieder auf die Stadt hinab.
Im Osten war ein Feuer ausgebrochen.
»Scheisse!«, rief er.
»Also ich werde jetzt da rein gehen!«, schnaubte die Barbarin. »Wenn du willst, dass so wenig Unschuldige ums Leben kommen, wie möglich, dann solltest du deinen Herrscher Arsch in Bewegung setzen und angreifen!«
Sie rappelte sich auf, steckte ihre Messer zu den anderen fünfzig zurück in den Gürtel, schnappte sich den Speer, den sie neben sich im Gras liegen gelassen hatte und wetzte los.
Mile fluchte und sprang ebenfalls auf.
»Na dann. Let's fetz!«, rief er, zog Kayat aus der Scheide und stürmte los.
Schon auf halbem Weg tanzte das Feuer in seiner Hand. Die Flammenzungen umschmeichelten seine Finger und knisterten voller Vorfreude. Damit würde er das Tor in die Luft sprengen. Das Feuer würde das Metall fressen und seine Truppe hindurchlassen.
Nun hatte die Rebellion endlich den ersten grossen Schritt gemacht.
Für die Freiheit, für das Gleichgewicht, für diese Welt.
Für seine Eltern.
Er war ein Vermächtnis.
Er war ein Herrscher.


~Sabrina~

Wieso musste immer alles wehtun?
Ihr Rücken war so steif wie ein Bügelbrett. Ihre Oberschenkel taten so weh, dass sie kaum noch richtig gehen konnte.
»Du läufst wie 'ne Frau nach der Geburt ihrer Drillinge!«, kicherte Faritales.
»Reite du doch mal einen ganzen, verdammten Monat auf diesem bescheuerten Pferd!«, fauchte sie und liess sich ins Gras fallen.
»Sabrina? Ich muss mit dir sprechen...«, sagte die Stimme des Hutmachers über ihr.
Sie sah zu ihm auf.
»Wir sollten wachsam sein. In dieser Gegend wimmelt es nur so von Soldaten der Dunklen. Sie wollen die Elfen nervös machen, indem sie in den Wäldern rund um LaRuh ihre Monster herumstreifen lassen«, sagte er, ohne von der Zipfelmütze, die er gerade strickte, aufzusehen. Etwas irritiert nickte sie, wollte noch etwas erwidern, doch der Hutmacher lief schon wieder weiter. Er schien bedrückt zu sein... Ach was. Das musste einfach eine Nachwirkung der langen Reise sein...
»Tatze, Fetzen, Socke! Ihr sucht nach Feuerholz. Wendy, du und Bolle kümmert euch ums Essen. Brüder, wir gehen Jagen. Nebelfinger, du bleibst hier und übernimmst das Kommando. Blamier mich nicht, Bruderherz! Wir werden circa eine Stunde vor Sonnenuntergang zurück sein«, befahl Nimmertiger. Seine Stimme hallte über die ganze Lichtung.
Sie waren nun schon einen Monat lang unterwegs.
Die Verstossenen hatten sich über die Jahre mehrere Pferde zusammengeklaut. Fünfzehn Stück hatte sie gezählt. Starke und schöne Tiere. Die Verstossenen hatten sich gut um sie gekümmert...
Auf einmal bebte die Erde. Hastig rappelte Sabrina sich auf, um nicht von einem herunterfallenden Ast oder so was erschlagen zu werden.
Sabrina legte sich die Hände auf die Ohren und drehte sich um.
Die beiden Drachen landeten in sicherer Entfernung von dem kleinen Lager im Wald. Und das nicht sehr elegant. Es war ein furchtbarer Lärm. Holz knackte und knarzte. Es splitterte und Äste flogen durch die Luft.
Was sollten die Drachen auch tun? Sie hatten den Wald im Osten nun erreicht. Es war ein Mischwald. Sie waren zwar weit gekommen mit den Pferden, doch bis sie Virid'agru erreichen würden, würden noch einige Bäume ihr Ende unter den Körpern der geschuppten Riesen finden müssen. Die Drachen fanden keinen Platz auf dem sie landen konnten, also fand jeden Tag mindestens eine Bruchlandung statt.
Als die Erde aufgehört hatte zu beben, konnte Sabrina beobachten, wie ein Mädchen mit flammend roten Haaren von ihrem Drachen sprang.
»Wieso lässt du dir das eigentlich von diesem aufgeplustertem Gestaltenwandler gefallen?«
Hook war zu ihr herangetreten und legte ihr einen Arm um die Schulter.
»Nimmertiger ist ein Idiot, aber er hat seine Horde im Griff. Sie tun was er sagt. Solang er sich nicht gegen mich erhebt, ist mir egal, was er macht«, meinte sie Schulterzuckend.
Hooks Arm rutschte von ihrer Schulter und legte sich um ihre Hüfte.
»Falk! Ich habe gesagt, wir fangen von vorne an«, zischte sie und befreite sich sanft von ihm. Er verdrehte seufzend die Augen.
»Nimmertiger erhebt sich aber gegen dich«, meinte er nach einem Moment des Schweigens.
Sabrina runzelte die Stirn.
»Wie jetzt?«, fragte sie, nun hellhörig geworden.
»Na ja. Er schaut auf dich hinab, behandelt dich, als wärst du ein kleines wehrloses Mädchen. Ausserdem ist er ein blöder, arroganter Seesack...«
»Ich bin nicht wehrlos!«, unterbrach Sabrina ihn empört.
Hook schmunzelte. Er hob eine Augenbraue und baute sich vor ihr auf. Wieso waren immer alle viel grösser als sie?
»Na ja... Ein kleines Mädchen bist du schon...«, neckte er sie und tätschelte ihre Schulter.
Sie packte ihn am Handgelenk, wie sie vor Monaten mit Randall getan hatte und liess die Kälte kontrolliert in ihre Hand fliessen.
Hook grinste nur frech. »Autsch«, brummte er sarkastisch.
»Ich könnte dich in ein Piraten-Fischstäbchen verwandeln, das weisst du«, murmelte sie und liess ihn los.
»Das würdest du niemals tun.«
»Sicher?«
Hook schwieg. Dann meinte er nachdenklich: »Wenn du nicht als wehrloses, kleines Mädchen war genommen werden willst, dann zeig ihm doch, was du drauf hast!«
Sabrina runzelte die Stirn. »Und wie?«
»Na, schnapp dir deinen Bogen, renn dem Typen hinterher und hilf ihnen bei der Jagd!«, schlug er vor. Faritales nickte begeistert und machte es sich auf ihrer Schulter bequem.
Warum eigentlich nicht?
Sie lief zu dem Pferd, das die Waffen transportierte und riss eine der Satteltaschen auf. Sie zog Bogen und Kescher heraus und steckte sich für den Notfall noch ein langes, gebogenes Messer in den Gürtel. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste...
»Die Toten gieren, ihr Feuer geht aus. Falsche Raben reissen sich das Herz heraus.«
Sabrina sprang erschrocken auf. Faritales quiekte erschrocken.
Ein Mädchen sass auf dem Rücken des Pferdes. Violette Augen starrte sie an.
»Mondkind! Ich krieg noch 'nen Herzkasper wegen dir!«, rief sie und schwang sich den Köcher um die Schulter.
Dann besann sie sich und sah ihre Cousine stirnrunzelnd an.
»Was hast du da gerade gesagt? Wer reisst sich das... das Herz heraus?«, fragte sie vorsichtig.
Doch Mondkind schüttelte nur traurig den Kopf, legte einen Finger an die Lippen. »Psst!« Dann sprang sie vom Pferd und rannte auf Arillis zu, die gerade auf die Lichtung trat. Das Mädchen umarmte die Drachenreiterin und lief dann wieder weg.
Eril, der hinter Arillis her taumelte - Sie hatte ihm die Hände auf den Rücken gebunden und ihm einen Lumpen in den Mund gestopft. Vermutlich um sein erbärmliches Gejammer und seine endlosen Entschuldigungen nicht mehr hören zu müssen - sah seine Rothaarige Ex fragend an. Die sah ebenso verwirrt aus und zuckte einfach mit den Schultern.
»Arillis!«, rief Sabrina und lief auf die Reiterin zu. Die sah fragend auf. »Ja?«
Sabrina half ihr, den Elf an einen Baum zu binden. Eril warf ihr immer wieder flehende Blicke zu, doch Sabrina ignorierte ihn.
Die Wunde an seiner Wange sah ziemlich schmerzhaft aus, doch sie begann zu heilen. Eine grosse, rote Narbe würde trotzdem bleiben. Eine Narbe in Form eines Raben. Das Ganze war richtig poetisch...
»Arillis, ich werde die Raben auf der Jagd begleiten. Ich wäre froh, wenn du ein Auge auf die anderen haben könntest. In dieser Region des Waldes patrouillieren einige Soldaten der Dunklen. Das hat jedenfalls der Hutmacher gesagt.«
Sie nickte. »Ich werde einfach ein wenig um die Lichtung herumstreifen. Wenn ich etwas entdecke werde ich mir Hilfe bei den Verstossenen holen.«
Eril begann zu zappeln.
»Du hast hier gar nichts zu melden!«, schnauzte sie ihn an.
Der Elf schüttelte energisch den Kopf. »Mmpf! Smm mpf mammpfhmm!«, war das einzige, was er durch den Knebel zustande brachte.
»Hör auf, Eril! Du machs es nur noch schlimmer«, bat ihn Arillis traurig und umschlang die Brust mit den Armen.
Doch Eril schüttelte den Kopf, blickte Sabrina beinahe schon flehend an. »Lmmpf smm nmp mhmpf hmmpf. Smm mpf mammpfhmm!«
Arillis bückte sich zu ihm herab und redete leise auf ihn ein: »Wenn du dich benimmst, wird alles gut. Wir schaffen das, wir alle. Mach dir keine Sorgen.« Ihr Blick huschte an Sabrina hoch, sie lächelte entschuldigend. Dann beugte sie sich vor und flüsterte Eril etwas ins Spitzohr.
Sabrina schlugte die Galle, die sie jetzt nur zu gerne gespuckt hätte, runter. »Dann ist alles klar?«
Arillis lehnte sich zurück, nickte. Eril schüttelte den Kopf, knurrte und erdolchte sie mit Blicken.
»Aber jetzt mach ma' hinne! Deine Cousins machen sich schon auf die Socken!«, kreischte der Nachtmahr.
»Fari, du kommst nicht mit. Geh du und sag Nebelfinger Bescheid, dass ich weg bin...«, zischte sie und zeigte auf den Albino-Jungen, der etwas verloren in der Mitte der Lichtung stand und versuchte, die anderen verlorenen Jungs, die nicht auf Holzsuche waren, anzutreiben, den Platz in der Mitte der Lichtung zu einer geeigneten Feuerstelle zu präparieren.
Sabrina rannte los. Das Gezeter des Nachtmahrs ignorierte sie.
Sie lächelte Hook zu, der an einem Baum lehnte und ihr neckisch grinsend einen Kussmund zuwarf.
Nimmertiger und seine fünf Brüder begannen sich bereits über eine Route zu streiten, als sie zu ihnen stiess.
»Was willst den du hier?«, fragte Lichtfänger nicht einmal unfreundlich.
Sabrina lächelte ihn an. »Ich werde mit euch jagen gehen!«
»Weisst du denn, wie man jagt?«, fragte Federreiter. An seinem Ohrring hingen mehrere graubraune Federn.
Nein. Sie war in einer Grossstadt aufgewachsen, wo Fleisch aus der Metzgerei und Milch aus dem Tetrapack kam.
»Klar doch!«, rief sie und wedelte mit Ellon'da. So schwer konnte das doch nicht sein!
Nimmertiger lachte. »Na dann... Gehen wir was erschiessen, nicht wahr Prinzessin?«, säuselte er mit einem süffisanten Grinsen.
Arroganter Seesack!


~Mile~

»Aus dem Weg!«, brüllte er und holte aus.
Eine Feuerkugel von der Grösse eines Medizinballs flog durch die Luft.
Es gab einen gewaltigen Knall, als das Feuer auf das dicke Metalltor traf. Das Feuer frass sich durch das Metall, wie ein Wurm durch einen Apfel.
Ein Pfeil sauste knapp an seinem Ohr vorbei. Er fluchte.
»Kommt her! Schnell!«, schrie er
Anne, die Vampirfrau fauchte wütend, als eins der Geschosse sie traf und sich in ihr Fleisch grub. Sie eilte an seine Seite und riss sich noch auf dem Weg den Pfeil aus der Schulter. Die Wunde schloss sich in Sekundenschnelle. Faszinierend!
Auch die anderen rannten zu ihm.
Das Metalltor kippte, denn das geschmolzene Metall hatte sich aus den Angeln gelöst. Dahinter konnte man nun schon das nächste Tor sehen. Das Metall glänzte im Licht der Flammen.
Über ihnen schrien die Soldaten. Dort oben war sicher das totale Chaos ausgebrochen...
»Kommt ganz nah an mich heran!«, brüllte er. Seine Truppe folgte ihm. Alle pressten sich an ihn. Haare kitzelten ihn am Kinn. Er sah an sich und sah...
Red.
Sein Herz machte einen Satz.
Mile hob die Hände in die Höhe. Seine Hände begannen zu brennen. Er bewegte die Hände in einer kreisenden Bewegung. Ein Teller aus Flammen bildete sich über ihm, wurde breiter und breiter. Mit einer Hand hielt er den Teller in der Luft, mit der anderen liess er den nächsten Feuerball in seiner Hand wachsen.
Rund um sein Feuerdach herum, zischten Pfeile durch die Luft. Doch treffen konnte sie nun keiner der Geschosse. Die Pfeile verbrannten, bevor sie Schaden anrichten konnten.
Er warf das Feuer.
Es knallte erneut. Die zweite Tür wurde regelrecht weggeschleudert.
»Jetzt!«, schrie Fjore. Schneller als es ein menschliches Auge es hätte sehen können, flitzte der Vampir in die Rauchschwaden, die aus dem zerstörtem Dorf quollen. Die beiden anderen Vampire jagten hinterher. Die anderen folgten. Nur Red und er standen noch draussen und lauschten dem Geschrei. Mile riss sein Schild aus der Halterung an seinem Gurt. Das Teil war sowieso scheiss unbequem gewesen.
»Na los! Komm schon Mile!«, rief Red zu ihm herüber. Ihr Gesichtsausdruck war angespannt, verriet aber nichts.
Er kniff die Augen zu, damit der Staub ihn nicht für einen Moment blind werden liess.
Der Lärm wurde lauter und lauter und lauter...
»Mile! Pass auf!«, schrie Reds Stimme neben ihm.
Er spürte einen Luftzug, knapp vor seinem Gesicht flog etwas Kaltes vorbei.
Er riss die Augen auf. Ein Skelettkopf grinste ihn an.
»Verdammt!«, kreischte Red.
Der Schädel wurde zertrümmert, als Red ihr Schwert auf ihn niedersausen liess. Sie hatte ihm das Leben gerettet. Schon wieder.
Mile sah hinab. Ein Haufen Knochen lag dort. Über den ganzen Boden verteilt... Das konnte nicht nur von diesem einem... Skelettritter stammen.
»Das ist ja wie in Browsers Festung bei Super Mario...«, murmelte er nachdenklich vor sich hin. Nur das diese Ritter nicht wieder aufstehen...
Er sah zu Red auf, die mit erhobenem Schwert nervös um sich blickte.
»D-d-danke«, stammelte er.
Red nickte ihm zu. Ihr Gesichtsausdruck war unergründlich. Auch sie sah zu Boden und kickte einen Oberschenkelknochen weg. Klappernd flog er gegen die Überreste des Stadttors. »Das waren...«
»...Zombies?«, fragte er angewidert.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das hier sind... Grabestänzer, glaube ich. Tote, die aus ihren Gräbern geholt werden und mit einem Zauber wiederbelebt werden. Nun ja... Wiederbelebt ist das falsche Wort... Die Gebeine der Toten werden zu Marionetten gemacht«, erklärte Red. »Es ist ein unglaublich alter Zauber. Er wurde jedoch verboten. Von den Herrschern der... fünften Dynastie... glaube ich...«
»Dynastien? Himmel! Mir muss endlich jemand die ganze Geschichte über dieses Herrscherzeugs erklären!«, fluchte er.
Red lächelte. Oh, wie hatte er dieses Lächeln den ganzen letzten Monat doch vermisst!
»Ich bin sicher, sobald dieser Krieg vorbei ist, wirst du dir das nicht mehr wünschen...«
»Ich dachte, die Dunklen würden die Bewohner ihrer Stadt zwingen, zu kämpfen...«, meinte Mile nachdenklich.
Red nickte. »Anscheinend waren sie doch nicht bereit, das Risiko eines Aufstands einzugehen.«
Mile stöhnte. Dann fragte er: »Und was machen wir jetzt? Wir können doch nicht jedem Grabestänzer in dieser Stadt die Rübe einschlagen! Und was haben diese Fieslinge mit den Bewohnern der Stadt gemacht?«
»Rein Theoretisch müssen wir nur den Hexenmeister, der all diese Toten beschworen hat finden und dann dazu bringen, den Zauber aufzulösen.«
»Oder wir müssen ihn umbringen...«, meinte Mile düster.
Red nickte und meinte dann mit einem besorgtem Gesichtsausdruck: »Wir können nur hoffen, dass sie den Bewohnern nichts angetan haben.«
»Und woher wollen wir wissen, ob dieser Hexenmeister noch hier ist? Was, wenn er nur kurz hier war, den Fluch ausgesprochen hat, und dann wieder abgezischt ist?«, fragte Mile.
»Das kann nicht sein. Unsere Spione haben sich doch erst gestern noch uns gemeldet. Sie haben nichts von einem Hexenmeister oder von Grabestänzern erwähnt. Das heisst, der Hexenmeister muss zuvor hier gewesen sein...«
Ein Wolf heulte.
Mile und Red zuckten zusammen.
»Wo sind die anderen?«, rief er, als ihm auffiel, dass Red und er alleine auf den verwüsteten Hof standen. Auf einmal gab es einen lauten, dumpfen Knall. Die Erde bebte.
Wieder dröhnte das Geheul eines Wolfs durch die verwinkelten Gassen der Stadt. Ein weiterer Wolf fiel ein.
Und die Erde bebte weiter.
Wumm. Wumm. Wumm. Wumm.
»Was zum Henker ist das?«, schrie Mile über das Getöse hinweg.
Er sah zu Red. Sie hatte den Kopf schräg gelegt, als höre sie einer Stimme zu, die er nicht hören konnte.
»Red?«, fragte er.
Sie blinzelte, dann richtete sie ihren Blick wieder auf ihn. Sie war blass um die Nase geworden.
»Trolle. Es sind Trolle in der Stadt!«
»Woher weisst du das?«, fragte er verwirrt.
Red schmunzelte. Spitze Eckzähne blitzten im Licht der Sterne. Die Sonne war schon unter gegangen.
»Na ja... Das Wolfsheulen...«, dann schüttelte sie den Kopf. »Egal. Eine Wolfsache. Jedenfalls sind die anderen nach links gelaufen. Sie verfolgen noch eine Horde Grabestänzer. Wir sollen schon mal vorgehen. Die Wölfe werden später unsere Fährte aufnehmen. Sie werden uns finden.«
Mile runzelte die Stirn und lief neben Red her. »Du sprichst also... Werwölfisch?«, fragte Mile belustigt.
»Na ja... Ein kleiner Vorteil, wenn man Werwolfsblut in der Familie hat...«, flüsterte sie.
Die Gasse, durch die sie schlichen, war schmal. Ständig mussten sie stehen bleiben, lauschen, aufpassen, nicht ausversehen in einen Trupp Grabestänzer oder schlimmeres hinein zu laufen.
»Werwolfsblut?«, zischte Mile, als er es nicht mehr aushielt.
Red stöhnte. »Ja!«, zischte sie nachdrücklich.
»Wie das? Und warum...«
»Psst!«, zischte sie.
Mile horchte.
Die Gasse war nun breiter geworden. Alte Obstkisten standen aufgetürmt vor den Eingängen der Häuser, die sich dicht an dicht drängten. Doch das Obst in den Kisten stank. Es war verwest und ungeniessbar, als würde es schon Wochen dort herumstehen.
Er war so damit beschäftigt gewesen, sich über Red den Kopf zu zerbrechen, dass er kaum noch auf seine Umgebung geachtet hatte.
Typisch war das wiedermal.
Wumm. Wumm. Wummmm...
»Verdammte Sch...«, rief Mile. Der Troll! Der verdammte Troll!
»Halt die Klappe!«, rief Red, legte die Hand auf seinen Mund und drängte ihn in einen Haus Eingang. Da stand sie nun. Dicht an ihn gedrängt. Er konnte ihren Herzschlag hören, stellte er verwundert fest.
Badumm. Badumm. Badumm. Badumm.
Wumm. Wumm. Wummm. WUMM.
Der Troll war ganz in der Nähe. Mile konnte ihn riechen. Er stank nach Schweiss und Verdorbenem.
Mile spähte über Reds schwarzen Haarschopf hinweg in die Gasse. Ein grosses, grünes und behaartes Bein. Mehr erkannte Mile nicht.
»Ich riechen...«, brummte eine tiefe Stimme und schniefte. »Ich riechen kleines Menschelein. Und einen Hund. Und noch eines von den Menschelein... Nein, nur ein Menschelein... Nein... Nein... Was riechen ich?«
Red zitterte. Diese Trolle mussten echt üble Dinger sein, wenn Red so Angst vor ihnen hatte. Schützend legte er einen Arm um sie.
»Da ist nichts«, maulte eine Stimme, die klang, als würde dem Sprecher ein Männchen im Kehlkopf sitzen und Papier aneinander reiben. »Komm Troll. Wir gehen zurück. Die Rebellen müssen irgendwo andershingelaufen sein...«
Etwas schob sich vor den Trollfuss.
»Was zu Hölle ist das?«, hauchte Mile. Das Ding vor dem Trollfuss war eine Spielkarte. Ein Herzbube um genau zu sein. Eine Herzbube mit Armen und Beinen, einen Speer in der Hand haltend. Die Gliedmassen schienen aus Fleisch und Blut zu sein und sahen menschlich aus. Sie wuchsen aus dem wenige Zentimeter dickem Papier, das sich an den Stellen jedoch etwas verdickte.
»Habe geriecht!«, protestierte der Troll.
Eine gigantische Streitaxt sauste neben dem Spielkarten-Mann zu Boden. Der fluchte laut und schimpfte so lange auf den Troll ein, bis dieser ganz freiwillig zurück trabte, wo auch immer er hergekommen war. Das „Wumm", das er bei jedem Schritt verursachte wurde leiser.
Auch der Papier-Soldat folgte, nachdem er sich noch einmal gründlich umgesehen hatte. Mile schickte ein lautloses „Danke" für die gammligen Obstkisten gen Himmel, denn die schützten sie vor den Blicken des Soldaten.
Sie mussten so lange wie möglich unentdeckt bleiben. Ansonsten würden sie es niemals bis zu... Na ja... Wohin eigentlich?
Red zitterte noch immer. Er strich ihr über den Rücken. »Red, ich glaube die Typen sind weg...«, flüsterte er.
Sie machte einen Schritt zurück und atmete tief ein, als müsse sie sich zusammenreissen. Sie hörte auf zu zittern.
»Wieso hast du so eine schreckliche Angst vor Trollen?«, fragte Mile.
Red wandte sich ab und lief um das Loch im Boden, dass der Troll mit seiner Axt verursacht hatte, herum und schwieg.
»Red!«
»Ein Troll hat meine Grossmutter getötet, okay?«, rief sie.
Mile schluckte. Das hatte er nicht erwartet.
»Ich dachte, deine Grossmutter lebt noch. Ich dachte ein Wolf...«
»Du dachtest? Die Märchen deiner Welt sind nur zum Teil war! Sie können uns zwar beeinflussen, formen unseren Charakter bei jeder neuen Fassung etwas anders, aber den Lauf der Dinge können sie nicht verändern. Tote bleiben tot und was lebt, lebt! Hier spielen sich die Geschichten ab, die man in deiner Welt den Kindern vorliest. Mile, nichts ist hier einfach, nichts war, nichts, wie es scheint!
Der Wolf war mein Vater. Ein Werwolf. Mein Vater und ich wollten Grossmutter besuchen. Doch als wir bei ihrem Haus angekommen waren, war es vollkommen zerstört. Drei Trolle hatten aus Spass Grossmutters Haus zertrümmert. Mein Vater verwandelte sich in einen Wolf und kämpfte mit den Trollen. Es war ein aussichtsloser Kampf, doch er tat es, um mich zu retten. Er lenkte die Aufmerksamkeit der Trolle auf sich, damit ich fliehen konnte. Ich rannte durch den Wald, zurück zum Dorf. Im Dorf hatte niemand gewusst, was mein Vater war und ich war noch ein kleines Mädchen... Ich redete wirres Zeug. Von Wölfen und Monstern und meiner Grossmutter. Und die Dorfleute schickten Jäger los...«, stammelte Red. Die Tränen liefen ihre Wangen hinunter und spülten den Staub von ihrem Gesicht. Wie nasse Strahlen durchzogen die Tränen ihre Wangen und erschufen ein Muster. Ein Kunstwerk aus Staub, Blut, Tränen und Trauer...
»Sie haben die Trolle erschossen?«, fragte Mile zögernd und hoffnungsfroh. Es tat weh, seine Gefährtin so zu sehen. Sie wirkte so... zerbrochen...
Red schüttelte traurig den Kopf.
»Die Trolle flohen, als sie hörten, wie zwanzig bewaffnete Männer durch den Wald auf sie zu rannten. Sie liessen von meinem Vater ab und verschwanden im Unterholz. Sie waren weg.
Als die Jäger das Haus erreichten, sahen sie nur einen schwarzen, blutverschmierten Wolf auf dem Trümmerhaufen stehen. Also erschossen sie ihn... Und ich bin schuld! Ich hätte den Männern sagen können, dass da Trolle waren. Ich hätte meinen Vater retten können, hätte den Jägern sagen können, dass der Wolf harmlos ist, damit sie nicht auf ihn schiessen! Er ist tot, weil ich so dumm und ängstlich war!«
Mile schwieg. Er ging auf Red zu, wischte ihr die Tränen vom Gesicht - Wobei er den Schmutz auf ihrem Gesicht noch mehr vereitle - und wollte sie ihn den Arm nehmen, doch sie riss sich los.
»Herrjeh, Mile. Wir befinden uns hier Mitten in einer Schlacht und ich erzähle dir von meiner tragischen Familiengeschichte!«, rief sie lachend, doch sie spielt. Mile wusste, wie sehr sie diesen Teil ihrer Vergangenheit geprägt hatte.
Sie machte sich für den Tod ihres Vaters verantwortlich. Doch sie war damals doch nur ein kleines Mädchen gewesen!
Aber Red rannte schon wieder los.
»Wohin willst du denn eigentlich? Wo ist unser Ziel? Wo ist der Hexenmeister?«, rief er.
»Hexenmeister halten sich gerne an hochgelegenen Orten auf. Dort sind sie näher bei ihren Sternen, Planeten und Sonnen, aus denen sie ihre Energie ziehen. Wir müssen zu dem höchstem Gebäude der Stadt und das ist der Tempel in der Mitte der Stadt!«, rief sie. »Komm schon. Folgt mir, mein Lichterlord!«
Und Mile folgte ihr. Er würde ihr immer folgen...


~Sabrina~

Der Eber grunzte lautstark und versenkte seine Schnauze im schwarzen Schlamm. Seine Borsten waren von dem getrockneten, hellbraunen Dreck verkrustet. Seine Stosszähne waren ungewöhnlich gross und seine Ohren waren lang wie die eines Kaninchens. Und seine Hinterbeine waren dick und stark, denn es waren ebenfalls Kaninchenbeine. Sprungbeine... Das „Hammelschwein", wie ihre Cousins es nannten, sah aus, als hätte die Natur sich einen Scherz erlaubt. Sabrina musste sich jedenfalls zusammenreisen, um nicht zu kichern.
Wieder grunzte der... Hammeleber. Er sprang mit seinen langen Kaninchenbeinen weiter, wobei er jedes Mal laut pflatschend im Dreck landete. Der Schlamm spritzte auf alle Seiten und der Eber quiekte vor Freude.
Fast schon widerwillig hob sie den Bogen. Wenigstens würde der Hammeleber glücklich sterben. Sie musste nur richtig treffen. Das Tier sollte nicht leiden.
Sabrina spannte den Bogen. Sie zog die Sehne zurück, bis sie die Feder des Pfeils an der Wange kitzelte.
Ein Schrei hallte durch den Wald.
Der silberne Pfeil glitt von der matt leuchtenden Sehne.
Der Eber hob den Kopf, dann verschwand er in den Büschen.
Die Vögel stoben aus den Bäumen.
Sabrina schnellte hoch.
Der Schrei.
Er hatte schrecklich geklungen. Qualvoll. Voller Schmerz, Trauer und Panik.
Und sie spürte: Es war ein Todesschrei gewesen.
»Tja, Pech gehabt Cousinchen! Das nächste Mal klappt's bestimmt...«, lachte Nimmertiger. Er winkte einem seiner Brüder, er solle den verschossenen Pfeil holen gehen, der genau auf der Höhe, wo vorher der Eber gestanden hatte, in einem Baum steckte. Sie hätte getroffen. Mitten in die Stirn. Das Tier hätte nicht gelitten.
»Der Schrei...«, hauchte Sabrina tonlos.
»Sicher irgendein Tier. Anscheinend will dir das Schicksal einen Strich durch die Rechnung machen«, schmunzelte der Älteste der Rabenbrüder.
Doch Sabrina schüttelte den Kopf. Der Schrei war ihr durch Mark und Bein gegangen. Da war irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung.
»Nein... Ich weiss nicht, aber... aber ich spüre, da ist irgendetwas Schlimmes passiert!«
»Was soll denn passiert sein? Glaubst du, irgendwelche Monster der Dunklen sind in das Lager eingefallen und haben deinen tollen Piraten verschlungen?«, machte der Rabenjunge sich über sie lustig.
Sabrina zog sich das Herz zusammen. »Arillis!«, hauchte sie.
»Was ist?«, fragte Aschenauge, der ihren Pfeil aus dem Holz gezogen hatte und ihn ihr nun zurück in den Köcher steckte.
»War übrigens echt ein beindruckender Schuss. Du hättest den Eber echt... Hey, wo willst du denn hin?!«
Sie rannte.
Sie rannte, rannte zu Arillis.
Und sie betete. Betete zu ihren Eltern und allen Göttern dieser Welt.
Der Schrei war ein Todesschrei gewesen, da war sie sich sicher...

»Mann, Sabrina, was ist denn los?«, rief Nimmertiger. Er eilte hinter ihr her. Wieso eigentlich? Er verachtete sie doch, sah auf sie herab.
»Regenjäger hat ein Reh geschossen, es macht also nichts, dass du versagt hast!«, rief er gehässig.
Ah, deshalb. Er wollte sie demütigen.
»Arillis! Ich habe sie auf Patrouille geschickt! Der Schrei...«, erklärte sie trotzdem und drosselte ihr Tempo, damit er sie einholen konnte. Fast wäre sie gestolpert, denn die Sonne würde jeden Moment endgültig hinter den Wipfeln der hohen Tannen versinken. Ohne Licht würde es schwer werden, nicht über die tückischen Wurzeln zu stolpern. Gut, dass sie als Herrscherin auch im Dunkeln sehen konnte...
»Du glaubst, ihr ist etwas zugestossen?«, fragte ihr Cousin ernst. Es war das erste Mal, dass er mit ihr sprach, ohne diesen fiesen oder gehässigen Tonfall in der Stimme mitschwingen zu lassen.
»Ja, oh Himmel!«, schnaubte sie.
»Aber wenn du hier so herumrennst, verläufst du dich doch nur. Der Orientierungssinn deiner Mutter war genauso. Grottenschlecht!«, schmunzelte er.
»Oh Man... Ich glaub, ich hab mich schon verirrt...«
»Ach was. Komm mit, wir müssen... Aarg
»Nimmertiger?«
Sabrina blieb stehen und sah sich nach dem Latino um.
Er lag im Moos, krümmte und wand sich. Er stöhnte und ächzte. Knochen knackten, Nimmertiger verformte sich, wurde kleiner und kleiner. Seine Arme wurden zu Flügeln, die Beine zu Klauen. Federn fächerten über die Haut. Dann breitete sich das Schwarz seiner Pupillen aus und zwei Knopfaugen starrten zu ihr auf.
Nimmertiger, der Rabe krächzte und schlug mit den Flügeln.
Er flatterte hinauf und setzte sich auf ihre Schulter. Sabrina ignorierte den Schmerz, als die spitzen Krallen des Vogels in ihr Fleisch stachen.
Der Rabe krächzte und nickte heftig mit dem Köpfchen.
Sabrina schüttelte verständnislos den Kopf. Was wollte ihr gefiederter Cousin von ihr?
Wieder krächzte er. Hörte sie da so etwas wie Ungeduld in der rauen Vogelstimme?
Sie zuckte mit den Schultern. Nimmertiger tippte mit dem Schnabel an ihren Kopf. Er zupfte an ihren Haaren, als wolle er sie mit sich ziehen.
»Du willst, dass ich dir folge?«, fragte sie.
Krah. Krah.
Der Rabe wippte mit dem Kopf.
Er flatterte auf und schwang sich, laut krähend durch die Nachtluft. Einer nach dem anderen flatterten weitere fünf Raben in einigen Metern Entfernung hinterher. Nimmertigers Brüder hatten sich zu ihm gesellt. Zu sechst drehten sie Kreise über ihr, dann lösten sie sich aus dieser Form und flogen in einer Reihe in die gleiche Richtung. Wie ein schwarzer, gefiederter Pfeil am Himmel...
Sabrina folgte ihnen, so gut es ging. Der Wald war nicht allzu dicht, so kam sie schnell voran.
Bald sah sie das Licht. Mehrere Stimmen schrien durcheinander. Das Lager!
Das Feuer in der Mitte des Camps warf ein Schattenspiel auf den Waldboden. Doch eben diese Schatten liessen Sabrina vor Schreck zusammenzucken.
Die Schatten! Sie waren riesig, hatten scharfe Krallen und Zähne.
Das war kein lustiges Schattenspiel. Das war real! Das waren Monster.
Sie wurden angegriffen!


~Mile~

»Ich werde dich aussaugen! Vielleicht werde ich ein paar Tropfen übrig lassen und sie in ein kleines Glasgefäss abfüllen und es mir um den Hals hängen.«
»Das glaube ich kaum!«, knurrte er und stiess mit Kayat zu. Das Schwert sauste durch die Luft und traf... nichts.
»Der Legende nach fliesst durch die Adern des Lichterlords kein Blut, sondern heisse Lava. Ich habe noch nie an Legenden geglaubt. Ich bin mir sicher, du wirst köstlich schmecken«, zischte es hinter ihm.
Er wirbelte herum. Wie konnte sich dieses Ungeheuer so schnell bewegen, wo es doch gerade noch vor im gestanden war?
Der Vampir lachte. Er war nicht annähernd so vornehm gekleidet wie Fjore, Anne oder Frederik. Er sah schlampig und ungepflegt für einen Vampir aus, das Blut, das seine Klamotten bedeckte, natürlich nicht mit inbegriffen. Blutverschmiert zu sein, schien bei denen wohl Mode zu sein... Er trug ein ausgeleiertes, braunes Hemd und eine zerfetzte Cordhose. Die Haare standen in alle Richtungen ab. Ein struppiger Vollbart untermalte das eckige Kinn.
»Sehen alle Vampire, die für die Dunklen kämpfen, so aus wie du? Wie Penner?«, fragte er, provozierend lächelnd.
Der Penner-Vampir fauchte und zeigte seine blutigen Eckzähne. Wie viele Leben hatte er damit schon genommen?
Aus den Augenwinkeln sah er, wie Red gegen einen Mann kämpfte, der zwei lange Fledermausflügel auf dem Rücken trug. Red hieb nach seinem Arm, doch der Kerl schwang sich in die Luft und spuckte auf sie herab. Hinter ihr schlich sich ein geschupptes Etwas an. Es sah aus wie eine Kreuzung aus Echse und Mensch.
Er wollte sie schon warnen, doch bevor er überhaupt den Mund öffnen konnte, war Red herumgeschnellt und schlug dem Vieh den Kopf ab.
Er wandte sich wieder seinem Vampir zu, doch der war weg. Stattdessen stand da...
»Rosanna?«, fragte er verwirrt. Die Barbarentochter grinste und warf ihr ein blutiges, eckiges Ding zu. Er fing es auf und ignorierte den Ekel, der in ihm aufkeimte, als ihm kaltes Blut ins Gesicht spritzte.
»Das ist ein Holzpflock. Altmodisch, aber für Vampire gibt's nichts Besseres.«
Sie grinste ihn an. »Du solltest dich im Kampf niemals ablenken lassen. Vor allem, wenn dein Gegner ein Vampir ist. Der Typ wollte dir schon an die Gurgel gehen, sei froh, dass wir euch gefunden haben«, rief sie lässig.
Mile sah zu Boden, wo der Vampir gerade zu Staub zerfiel. »Mit dem wäre ich alleine fertig geworden!«, maulte er.
»Ach und wie?«
Mile hielt den Holzpflock in die Höhe. Eine Stichflamme schoss aus derselben Hand hervor und der Pflock rieselte in Form winziger Ascheflöckchen zu Boden.
Rosanna grinste. »Guter Junge!«
»Der gute Junge soll sich jetzt bitte langsam in Bewegung setzen. Wenn wir hier noch länger herumstehen, werden wir schneller wieder unerwünschten Besuch bekommen, als du Hexen-Schnitzel sagen kannst!«, knurrte der graue Wolf, der nun auch wieder mit von der Partie war.
Mile lachte. »Danke«, rief er Rosanna zu und folgte dem Wolf.
Red gesellte sich zu ihm. Sie lächelte ihr wölfisches Lächeln.
»Ich habe gesehen, wie du den Echsenmann einen Kopf kürzer gemacht hast«, meinte er grinsend.
Red zwinkerte ihm zu.
Ihre Augen waren wild. Red, die Wölfin...
Fjore, der blonde Vampir gesellte sich zu ihm. »Wir müssen achtsamer sein. Die anderen elf Truppen bahnen sich wie wir ihren Weg zum Tempel. Die Dunklen sind nicht dumm und ihre Schergen sind es auch nicht. Sie wissen, was wir vorhaben und werden versuchen, den Tempel, in dem der Hexenmeister sich aufhält, zu verteidigen. Wir müssen unsere Kräfte einsparen. Die Herausforderung erwartet uns erst noch«, zischte er. Dann sprang er mit einem einzigen Satz auf das Dach eines Hauses, wo er regungslos in die Ferne blickte.
Red neben ihm nickte nachdenklich. »Fjore hat Recht. Der Tempel wird gut geschützt sein. Wenn wir den Hexenmeister besiegen wollen, müssen wir erst einmal in den Tempel hinein gelangen. Und dann müssen wir uns so weit nach oben schlagen, wie möglich. Auch der Hexenmeister wird gut geschützt werden...«, flüsterte sie.
Mile nickte zustimmend. Sie mussten sich etwas einfallen lassen. Und zwar schnell.
Sein Trupp bewegte sich beinahe lautlos durch die Strassen. Die Vampire glitten durch die Nacht, als wären sie ein Teil der Dunkelheit. Die Wölfe schlichen leichtfüssig auf ihren grossen Tatzen über den staubigen Pflasterstein. Die Elfe schien über den Boden zu schweben, so fliessend und elegant waren ihre Bewegungen. Selbst der Zwerg tapste auf leisen Sohlen, sich jeder Bewegung bewusst, durch die Stadt.
Mit etwas Glück würde sie auf keine Patrouille der Dunklen mehr stossen.
»Ist es noch weit bis zum Tempel?«, fragte Mile Fjore, als der, ohne auch das kleinste Geräusch zu verursachen, neben ihm landete.
Fjore schüttelte den Kopf. Seine silbernen Augen leuchteten im Dunklen wie die einer Katze.
»Es sind nur noch wenige Seitenstrassen, die es zu durchqueren gilt. Aber der Tempel wird von mindestens fünfzehn Trollen und etlichen Grabestänzern, Spielkarten-Soldaten, Werwölfen, Vampiren und anderen Monstern bewacht. Ungesehen werden wir nicht in den Tempel gelangen«, berichtete der Rebell.
Mile rümpfte die Nase. Das waren keine guten Neuigkeiten...
»Was ist mit den anderen Truppen?«, fragte er. »Sind sie ebenfalls auf dem Weg?«
Der Vampir legte den Kopf schief, als würde er lauschen. Er musste messerscharfe Ohren haben, denn wenige Sekunden darauf nickte er und flüsterte: »Zwei Strassen weiter ist ein Trupp in einen Kampf verwickelt. Es scheint der aus dem Osten zu sein...«
»Der Trupp von König Löwenherz!«, zischte Mile. »Wie stehen ihre Chancen? Schaffen sie es?«
Wieder lauschte Fjore in die Nacht hinein. Seine Augen weiteten sich. »Zwei Trolle und mindestens ein Kartensoldat...«
Das reichte Mile.
»Leute, Planänderung! Wir werden erst den Truppen vom Osttor unter die Arme greifen und dann mit ihnen zum Tempel vorrücken. Fjore, du führst uns!«
Der Vampir nickte und sauste durch die Dunkelheit. Der Trupp des Südtors folgte ihm.


~Sabrina~

Sie griff hinter sich und bekam den Pfeil zu fassen. Sie riss ihn aus dem Köcher und spannte die Sehne aus Licht. Ellon'da, der Bogen wog schwer in ihrer Hand. Sie peilte ihr Ziel an, dann liess sie den Pfeil los.
Er sirrte durch die Luft und trat sein Ziel. Ein lautes Brüllen, sie hörte wie ein schwerer Körper zu Boden ging.
Etwas schlug gegen ihre Hüfte. Sie flog durch die Luft und knallte gegen einen Baum. Benommen rieb sie sich den Schädel.
Ganz in ihrer Nähe knurrte etwas bedrohlich. Sie blickte auf und starrte in das Maul eines Moracks. Der Morack sah aus wie ein sehr fetter, sehr grosser und sehr hässlicher Mensch, mit schwarzen Zähnen und grünbrauner, von Warzen übersäten, Haut. Sein Mundgeruch stank so sehr, dass er jede Pflanze im Umkreis von drei Metern zum welken brachte.
Ihr wurde schlecht.
Sabrina wich zurück, bis sie mit dem Rücken an den Baumstamm stiess.
Das hässliche Monstrum schien über sie zu lachen. Es trat einen Schritt auf sie zu um sie mit dem Nächsten unter seinem verdreckten, widerwertig stinkenden Fuss zu zerquetschen.
Halt, dachte sie. Ich werde mich doch nicht von dieser käsefüssigen Missgeburt zerdrücken lassen, wie eine Fliege!
So liess sie die Kälte durch ihre Adern schiessen. Ein frostiger Wind schoss dem Morack entgegen, so dass jedes verfilzte Haar auf seinem Körper mit Eis überzogen wurde. Wieder lachte das Ungeheuer über sie und hob seine wulstige Faust.
Sabrina rappelte sich auf und hob die Hände schützend in die Luft. Der Morack brüllte. Sie schrie zurück.
Die Faust des Untiers krachte auf sie nieder...
Langsam und ganz vorsichtig öffnete sie die Augen.
Über ihr schwebte die geballte Faust des Moracks, der sie hatte erschlagen wollen.
Zu Eis erstarrt.
Eine dicke, durchsichtig Schicht gefrorenes Wasser bedeckte das Monstrum.
Vorsichtig löste sie die Hände von dem Eis und betrachtete den Morack.
Ein schwarzer Rabe landete auf dem Kopf des Viehs und begann, an der Stelle wo sich das Auge des Moracks befand, auf dem Eis herum zu hacken. Der Rabe sah zu ihr hinab und blinzelte sie an. Eines seiner Augen schimmerte silbern, woran sie ihren Cousin erkannte.
»Aschenauge, schaffst du es, dem Mistvieh das Gehirn aus dem Kopf zu picken, bevor das Eis schmilzt?«, fragte sie den Vogel. Der wippte mit dem Kopf, laut krähend, auf und ab, was sie als „Ja" übersetzte. Also schnappte sie sich Ellon'da, den sie bei ihrem Kampf verloren hatte und steckte ihn zu den Pfeilen in ihren Köcher.
Sie zog das gebogene Messer, das sie zum Glück mitgenommen hatte, aus dem Gürtel und stürmte Richtung Lager.

Die Verstossenen waren nicht aus der Übung gekommen. Zahllose Moracks waren in das Lager eingedrungen. Es war die reinste Schlacht...
Sie sah, wie der Hutmacher, bewaffnet mit zwei Schwertern, die er gleichzeitig schwang, tanzend durch das Lager rauschte. Dieser „Tanz" war im wahrsten Sinne des Wortes todbringend. Jeremy Topper drehte eine Pirouette, wobei er elegant zwei Monstern den Kopf abhackte.
Die verlorenen Jungs stürzten sich alle gleichzeitig auf einen besonders grossen Morack und bearbeiteten ihn mit ihren Messern. Ihr Opfer hatte keine Chance und ging jaulend und um sich schlagend zu Boden.
Der Meisterdieb bewegte sich so schnell und flink, dass die dummen Moracks kaum noch nachkamen.
Peter flog, über den Köpfen der Ungeheuer, und versuchte, ihnen mit seinem Messerchen die Kehle durchzuschneiden. Hinter ihm flatterten ihre fünf Feen, die sie aus Hooks „Lampe" gerettet hatte, und Tinker Belle. Kämpfen konnten die sechs zwar nicht, aber die Schimpfwörter, die sie den Monstern an den Kopf schleuderten, waren beinahe so angsteinflössend, wie jeder Kettensägen schwingender Psychokiller.
Irgendjemand hatte Eril von seinem Baum los gebunden und nun kämpfte der Elf mit einem langen Beidhänder gegen zwei Moracks gleichzeitig. Sein Drache stand am Rande der Lichtung und versuchte, einen der Monster mit den Zähnen zu fassen zu bekommen, ohne einen der eigenen Leute zu verletzen.
Sabrinas Herz begann eine Spur ruhiger zu schlagen, als sie Hook entdeckte.
Der Captain ohne Schiff hatte eine altmodische Pistole gezogen und feuerte auf einen kleinen Morack, während er auf einem grösseren ritt. Er sass auf den Schultern des Viehs, hatte die langen Beine um den Hals des Monsters geschlungen und seinen Haken in dessen linkes Auge gebohrt. Auf Falks Schulter sass der weisse Rabe Nebelfinger, der ja noch immer am Flügel verletzt war.
Am Rande der Lichtung lag die Leiche von einem der Ungeheuer. Ein Pfeil hatte sich direkt durch sein Auge in sein Hirn gebohrt. Es war einer von ihren eigenen Pfeilen, stellte Sabrina irgendwie stolz fest. Welches Mädchen in ihrem Alter konnte schliesslich von sich behaupten, einen waschechten Morack umgebracht zu haben?
Auf einmal entdeckte sie eine Bewegung hinter dem toten Monster.
Eine Eiskugel wuchs in ihrer Hand. Sie stürmte auf den toten Fleischhaufen zu.
»Halt! Nicht!«, zischte es.
Sabrina liess den Arm sinken.
»Wendy?«
»Und Faritales und Mondkind«, flüsterte es.
»Was ist passiert? Geht es euch gut? Habt ihr Arillis gesehen? Ich hoffe...«
»Hinter dir!«, fiel ihr der Nachtmahr ins Wort.
Sofort fuhr Sabrina herum. Eines dieser hässlichen Dinger hatte sie entdeckt. Es raste auf sie zu, doch Sabrina war schneller. Wie beim Bowling warf sie die Eiskugel, die sie noch immer in der Hand hielt.
»Strike!«, schrie der Dämon, als der Morack stolperte und zu Boden stürzte. Bewusstlos blieb er liegen. Sabrina rannte zu ihm und schnitt ihm die Kehle durch. Dunkles Blut sprudelte aus dem Körper und ergoss sich über ihre Hand, die sie nicht schnell genug zurückgezogen hatte. Sie würgte und taumelte rückwärts, wo sie über die andere Morack-Leiche stolperte und im Dreck landete.
Wendy half ihr hoch. Die arme zitterte vor Angst. Mondkind sah sie mit einer nüchternen Ernsthaftigkeit an, die so gar nicht zu ihrem kindlichen Aussehen passte. Der Nachtmahr fiel ihr, sobald sie wieder aufrecht stand, um den Hals.
»Erschiess die Moracks lieber. Das macht nicht so 'ne Sauerei«, schnorrte er fröhlich.
Sabrina wischte das Blut an ihrer Hose ab. Die Übelkeit legte sich langsam wieder. Besorgt sah sie hinüber zu der Lichtung. Sie musste ihren Freunden helfen!
»Habt ihr Arillis gesehen?«, fragte sie noch einmal.
»Nein, nicht seit dem du sie auf Patrouille geschickt hast...«, meinte Faritales und setzte sich auf ihre Schulter.
»Verdammt!«, zischte sie und begann, über die Leiche zu klettern, um sich wieder in die Schlacht zu stürzen.
»Wenn du willst, können wir nach ihr suchen gehen...«, meinte Wendy.
Sabrina hielt inne und runzelte die Stirn. »Ganz sicher? Was wenn im Wald noch mehr von diesen Wesen lauern? Peter würde mich in Stücke reisse, wenn dir...«
»Peter hat nicht über mich zu bestimmen!«, fauchte Wendy.
»Und was ist mit Mondkind?«
Das kleine Mädchen mit den Amethyst-Augen kicherte leise. Dann sah sie zu Sabrina hinauf und fragte: »Sei ehrlich. Hast du wirklich Angst, dass mir etwas geschehen könnte? Wehe denen, die auch nur einen Finger gegen mich erheben.«
Sabrina musste beinahe lachen. Ja, wirklich. Irgendetwas sagte ihr, sie müsse keine Angst um Mondkind haben...
Also nickte Sabrina, zog jedoch das noch immer blutverschmierte Messer aus ihrem Gürtel und wollte es Wendy reichen, doch die deutete auf ihre Hüfte, wo ein Dolch hing. »Bin schon bewaffnet«, flüsterte sie und zwinkerte ihr zu. Wendy schien nicht ganz so wehrlos zu sein, wie sie aussah. Logisch eigentlich. Sie lebte schliesslich schon seit unzähligen Jahren mit einer Horde Jungs zusammen, die wilder waren, als so mancher Barbar.
»Passt auf euch auf!«, zischte Sabrina den beiden Mädchen hinterher.
»Pass du auf dich auf! Der Tod lauert in der Dunkelheit«, kam es leise zurück.


~Mile~

Der weisse Löwe hatte sich fest in die Schulter des Trolls verbissen. Der brüllte und schlug nach seinem Angreifer. Zudem beschoss ihn ein Elf mit seinen Pfeilen, was ihn noch mehr in den Wahnsinn trieb. Er sah beinahe schon aus, wie ein Igel, so viele Pfeile steckten schon in seiner grünen, mit Warzen übersäten Haut. Ein Vampir versuchte, ihn zu Fall zu bringen, indem er auf die Beine des Trolls einschlug, doch er wurde mit einem Tritt des grünen Riesens gegen eine Hauswand geschleudert. Dort blieb er liegen.
Der andere Troll war in einer misslicheren Lage. Er hatte zwei Wölfe, drei Zwerge und einen anderen Vampir am Hals. Die Zwerge hackten mit ihren Streitäxten auf seine Füsse ein, die Wölfe bissen ihm in den Hintern und der Vampir stach ihm mit blosser Hand die Augen aus.
Jedoch wuselten mindestens drei Karten-Soldaten zwischen den Beinen der Trolle umher und versuchten, die Rebellen von den Trollen zu zerren.
Ein weiterer Karten-Soldat schlich sich gerade zu dem bewusstlosen Vampir hin, der zuvor von dem Troll durch die Luft gekickt worden war. Der Karten Mann (er war eine leicht zerknitterte Herz-Acht) hob seinen Holzspeer, um ihn in die Brust des Blutsaugers zu bohren, als er auf einmal in Flammen aufging. Es dauerte kaum zehn Sekunden und er war nichts mehr, als ein Häuflein Asche.
»Papier«, rief Mile lässig. »Das ist doch kein würdiger Gegner für den Lord des Lichts!«
Die restlichen Spielkarten, Herz-Zwei, Sieben und Vier, nahmen bei dem Anblick der Stichflamme, die aus Miles Hand geschossen war, die Beine in die Hand.
»Feiglinge!«, jaulte ihnen Sol hinterher, drehte sich zu Mile um und erstarrte. »Hinter...«
Mile wirbelte herum. Ein Speer raste auf ihn zu, er konnte gerade noch schützend die Arme hoch reissen, doch irgendetwas sprang dem Wurfgeschoss entgegen.
»Den schnapp ich mir!«, knurrte Sol und sprang die zurückgebliebene Spielkarte, die den Speer geworfen hatte, an.
Frederick lag auf dem Boden. Mit schmerzverzerrtem Gesicht zog er sich den Speer, der seine linke Schulter durchbohrt hatte, heraus. »Das war knapp. Hätte es mein Herz getroffen, wäre es aus mit mir«, murmelte der Vampir, während er seiner Wunde beim Heilen zusah. »Hochmut kommt vor dem Fall. Nichts für Ungut, Mylord, doch Ihr habt noch viel zu lernen. Unsterblichkeit hin oder her.«
Mile nickte und half seinem Retter auf die Beine. »Ich danke Euch!«, meinte Mile und schluckte trocken. Das hätte tatsächlich übel enden können. Der Vampir schien sich jedoch schon wieder erholt zu haben.
»Und jetzt küssen!«, stichelte Rosanna und lachte.
Mile verdrehte die Augen. »Also gut, weiter geht's! Anne, Frederick, ihr verfolgt die geflohenen Karten-Soldaten. Sie dürfen uns nicht verraten!«, wies er die Vampire an.
»So weit wird es nicht kommen!«, fauchte Frederick düster lachend und wetzte mit Anne los.
»Der Rest hilft Löwenherz' Truppe!«
Gesagt, getan.
Sofort stürzte sich die Truppe auf die Trolle.
Red wollte bereits mit erhobenem Schwert hinter den anderen her jagen, doch Mile hielt sie fest.
»Geh und kümmere dich um den verletzten Vampir!«, flüsterte er.
»Nur weil diese Biester am Tod meines Vaters und meiner Grossmutter schuld sind, heisst das noch lange nicht, dass ich zu grosse Angst habe, gegen sie zu kämpfen!«, knurrte Red ihn an. Ihre Eckzähne blitzten.
»Darum geht es nicht!«, log er. »Bitte, kümmere dich einfach um ihn!«
Reds blick wurde sanfter, jedoch nicht weniger trotzig. Sie schnaubte, gab sich geschlagen und lief zu dem Vampir, der gerade wieder zu Bewusstsein kam.
Mile stürzte sich nun auch ins Getümmel.
»Lass mich durch!«, rief er einem Zwerg zu, der triumphierend einen Trollzeh in die Höhe hob. Mit einem fröhlichen »Endlich ab, des Drecksding!«, trat er zur Seite und machte Mile den Weg frei. Mile steckte Kayat in seine Lederscheide und klemmte sein Schild an den Gürtel.
Der Trollfuss sah aus, als hätte ein Fakir ihn mit seinem Brett bearbeitet. Der Troll machte auch dementsprechend ein Theater, brüllte und schrie vor Schmerz, ging aber nicht zu Boden. Noch nicht...
»Gleich ist es vorbei!«, versprach er mehr sich selbst, als dem armen Troll und liess seine Hände Feuer fangen. Er trat näher an das dürre und behaarte Trollbein heran und presste seine glühenden Handflächen fest an dessen Wade.
Der Troll heulte wie ein kleines Kind, knickte ein und schlug dann der Länge nach hin. Die Rebellen stoben auseinander, wie die Hühner vor dem fallenden Baum.
»Achtung!«, schrie Fjore, der sich in den Rücken des Viehs gekrallt hatte.
Die Zwerge rannten sofort zu dem Kopf des Untiers, doch Mile war noch schneller. Mit seinen langen Beinen legte er die Strecke doppelt so schnell hin, als die Zwerge mit ihren kurzen Stummelbeinchen.
»Halt!«, brüllte er und warf eine Feuerkugel in die Luft, die jedoch sofort verpuffte.
Er stellte sich vor den riesigen und hässlichen Grind des Trolls und fragte dann: »Ergibst du dich?«
Die grossen, gelben Fischaugen des Trolls sahen verständnislos zu ihm auf.
»Er-gibst. Du. Dich?«, fragte er, dieses Mal lauter, jede Silbe betonend.
»Vergiss es, der ist dümmer als ein Sack Stroh!«, johlte einer der drei Zwerge, die zuvor auf den Fuss des Trolls eingehackt hatten.
Mile sah den Zwerg nicht an, während er sprach. »Und doch kann man Stroh zu Gold spinnen. Gerade ihr, die ihr doch in dieser Welt aufgewachsen seid, solltet das doch wissen. Lasst mich alleine mit dem Troll. Kümmert ihr euch um den anderen, helft Löwenherz!«
Die Zwerge zogen murrend ab, stürzten sich dann jedoch freudig auf den nächsten armen Trollfuss.
Red, deren Vampir bereits wieder kampfbereit war, stellte sich neben ihn.
»Die Zwerge haben nicht Unrecht. Trolle dienen nur denen, die ihnen am meisten bieten, oder denen, die stärker sind als sie«, meinte sie.
Mile schüttelte den Kopf. Er konnte das nicht glauben.
Er drehte sich zu Red um.
Er machte den Mund auf, um ihr zu widersprechen, als Red plötzlich wegflog. Der Troll hatte sie am Fuss gepackt und zog sie zu sich heran. Er hatte es geschafft, sich auf die Knie zu setzen und hob Red langsam zu sich hinauf.
»Riechen komisch, kleines Menschlein. Nach Hund!«, brummte er und leckte sich über die wulstigen, dunkelgrünen Lippen.
»Mile!«, schrie sie. Sie hieb nach den Fingern des Trolls und erwischte tatsächlich einen Finger. Der Troll brüllte und liess sie los. Red fiel drei Meter tief, schlug unsanft auf und rollte über den aufgesprungenen Pflasterstein.
»Red!«, brüllte er, doch seine Freundin, hob nur abwehrend die Hand.
Der Troll liess sich auf alle Viere hinab und glotzte auf Red hinab. »Runtergefallen!«, stellte das Monstrum fest und streckte seine Hand aus, um sie endgültig einzufangen und zu fressen. Von einer Enthauptung konnte sich eine Märchenfigur erholen, wenn auch erst nach hundert Jahren. Mile wollte sich gar nicht vorstellen, wie lange es dauerte, wenn man von einem Troll gefressen wurde.
»Wage es nicht!«, brüllte er und warf mit Feuer nach dem Troll. Der Troll quiekte entsetzt, taumelte rückwärts und prallte gegen seinen Artgenossen. Beide Trolle fielen. Sie krachten in ein Haus. Mile sah, wie König Löwenherz im letzten Moment in die Luft sprang und mit seinen schneeweissen Schwingen in Sicherheit flatterte. Die Trolle wurden jedoch unter dem Schutt und Gestein begraben.
Mile rannte zu Red, um ihr auf zu helfen.
»Geht es?«, fragte er.
Sie stützte sich auf ihn, nickte aber tapfer.
»Natürlich. So leicht wirst du mich nicht los«, beteuerte sie. »Ist nur eine Beule. Keine Sorge.«
Mile spürte einen Luftzug. Er wandte sich um und begegnete dem Blick des weissen, geflügelten Löwen.
»König Löwenherz«
»Mein Herrscher. Ich danke euch für eure Rettung«, brummte der König der Animanoren.
Mile nickte. »Aber auch wir brauchen eure Hilfe, König Löwenherz. Wir vermuten, dass ein Hexenmeister für all diese Grabestänzer verantwortlich ist. Können wir ihn aufhalten, werden die Truppen der Dunklen vollkommen unkontrolliert in der Stadt umherirren und es wird ein leichtes sein, sie zu überwältigen.«
Der geflügelte Löwe nickte.
»Was müssen wir tun?«, fragte er und leckte sich das Trollblut von den Schnurrhaaren.
»Wir müssen zum Dach des Tempels, um den Hexenmeister auf zu halten!«
Löwenherz lachte sein tiefes Löwenlachen.
»Wenn es nur das ist. Steigt auf, mein Lichterlord!«
Mile drehte sich zu Red um. »Und meine Gefährtin?«, fragte er vorsichtig.
Er schnurrte. »Zwei kann ich tragen, mehr jedoch nicht.«
Mile nickte.
Er wandte sich wieder seiner und Löwenherz' Truppe zu. Gerade gesellten sich Anne und Frederick wieder zu den anderen. »Ihr habt die Karten-Soldaten erwischt?«, fragte er. Anne leckte sich etwas Blut von der Unterlippe. Ihre Augen waren pechschwarz. »Frisches Blut schmeckt immer gut«, säuselte sie. Frederick fügte lachend hinzu: »Auch wenn es von einer Spielkare stammt und ein wenig... nach Karton schmeckt...«
Mile nickte den Vampiren zu. Sein Magen rebellierte, doch er behielt sich im Griff, schluckte und rief dann an alle Rebellen gewandt: »Red, König Löwenherz und ich werden sich von uns trennen. Ihr werdet die anderen Rebellentruppen, die hier in der Stadt verteilt sind, aufsuchen und ihnen etwas unter die Arme greifen. Ihr werdet euch alle versammeln und dann gemeinsam den Tempel angreifen. Solange ich weg bin, wird Fjore«, er deutete auf den blonden Vampir, »das Kommando übernehmen. Ihr werdet ihm folgen!«
Die Rebellen nickten und Fjore sprach: »Es ist mir eine Ehre.«
»So sei es!«, brummte Löwenherz.
Der weisse Löwe legte sich auf den Boden und legte die Flügel an.
»Setzt euch auf meinen Rücken und klemmt eure Beine um meinen Hals. Genau, so. Mile, mein Junge, du hältst dich an meiner Mähne fest und du, Red, schlingst die Arme um die Brust deines Herrschers. Haltet euch gut fest!«
Das taten sie. Und der Löwe hob ab in den Himmel. Vorbei an Aramesias Hochhäusern, über die Dächer aus roten Schindeln hinweg, durch den Rauch des Feuers in die sternenklare Nacht hinein.
Wie ein bedrohlicher Berg aus Granit und Buntglas erhob sich der Tempel über der Stadt. Irgendwo unter dieser glänzenden Kuppel aus farbenfrohem Glas versteckte sich der Hexenmeister, der die Toten befehligte. Hinter ihm begann Red die letzte Strophe des Zwergenlieds zu singen, das der Zwerg Brutch gesungen hatte, als sie auf die Ankunft des Boten gewartet hatten. »... Die Zwerge kehrten huldvoll Heim, allein ihr Volk kennt diesen Reim. So singet ihn, ihr tapferen Krieger, verkündet eure Zwergenlieder, denn ein Held kann jeder sein, absolut egal wie klein...«


~Sabrina~

Pfeil um Pfeil grub sich in stinkendes, rosa Morackfleisch.
»Jetzt! Schiess ihm ins Maul!«, brüllte Hook und riss dem Vieh mit seinem Haken das Maul so weit auf, dass ein halbes Duzend Melonen darin Platz gefunden hätten.
Erneut spannte sie die Sehne aus Licht und der Silberpfeil schoss durch die Luft. Er grub sich in den Gaumen des Ungeheuers, welches sogleich umkippte.
Hook liess seinen Haken los, um nicht mit auf den Boden zu knallen und landete stattdessen neben ihr.
»Ein weiterer Grund, wieso ich lieber auf ewig siebzehn bleibe, als den Haken gegen meine Hand einzutauschen. So kann ich wenigstens selbst entscheiden, wann ich den Haken loslasse. Könnte ich das nicht, würde ich jetzt genauso zerrmatscht aussehen, wie unser Freund dort drüben...«, knurrte er und lief zu dem toten Morack hinüber, um seinen Haken aus dem Fleisch des Toten zu ziehen. Ihren Pfeil brachte er ihr auch gleich mit. Zwar würden ihr der Legende nach mit diesen magischen Waffen ihrer Mutter niemals die Pfeile ausgehen, aber man musste den Zauber ja nicht gleich überstrapazieren...
Angewidert wandte sie sich ab. Das war nun der fünfte Morack, an dessen Tod sie nun schuld war.
Falk bemerkte ihren Stimmungswandel und kam zu ihr herüber. Er trat dabei in eine Pfütze aus Blut und fluchte leise.
»Ich bewundere ja Euer Mitgefühl, Prinzessin, aber ich versichere Euch, diese Tugend müsst Ihr nicht bei diesen Monstern verschwenden«, säuselte er und zupfte ein Stofftaschentuch aus der Tasche seines Samt-Mantels, mit dem er das Blut von seinem Haken wischte.
»Falk, ich glaube nicht, dass es Mitgefühl ist, wohl eher... meine moralische Grundeinstellung, wie auch immer. Es ist nicht fehl am Platz! Wie kann ich für das Gleichgewicht von Gut und Böse kämpfen und nebenbei diese Wesen einfach so... abschlachten? So grausam?«, fragte sie leise und spannte ihren Bogen erneut, um den Morack, der gerade Peter und den Meisterdieb in der Zange hatte, abzuschiessen.
»Ihr wisst noch gar nicht, was grausam ist, Prinzessin...«, trällerte er und tat so, als zwirbelte er seinen nicht vorhandenen Schnurrbart.
»Warst du denn schon mal grausam?«, fragte sie ihn und liess den Pfeil los, der sich zwanzig Meter weiter in Monsterfleisch grub.
Hook schwieg eine Weile. Dann meinte er leise und sehr ernst: »Ja, das war ich. Sabrina, ich will, dass dir das bewusst wird. Ich bin kein Junge, der auf die falsche Spur geraten ist. Ich war ein Monster und was ich verbrochen habe, lässt sich niemals wieder gut machen. Ich bin ein Pirat, vergiss das nie!«
Ein Pirat.
»Wieso bist du mit mir gekommen?«, fragte sie und feuerte einen neuen Pfeil ab. Hook lud seine Pistole nach, die aussah, als hätte er sie aus einem „Fluch der Karibik-Film" gemopst.
»Das habe ich dir doch schon erklärt«, meinte er grimmig. Klick! - Die Pistole war geladen. »Du bist die Erste, die glaubt, ich könnte mich ändern. Die Seiten wechseln, sozusagen. Was ich getan habe, all meine Verbrechen, nichts davon könnte ich jemals wieder gut machen. Ich habe Leben beendet, zerstört und zur Hölle gemacht. Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen, aber die Zukunft ist noch nicht geschrieben. Ich kann etwas verändern, ich kann jetzt etwas bewirken!«
»Aber wenn du... zu den Guten gehören wolltest... Wieso hast du erst jetzt wirklich etwas dafür getan?«, fragte sie. Der Morack war nun so wütend, dass ihn jemand, den er nicht sehen konnte, mit Pfeilen beschoss, dass er nun nur noch wild um sich schlug. So war es für Sabrina schwer, ihn zu treffen, doch der schlaue Peter und der flinke Meisterdieb hatten so leichtes Spiel und Peter bohrte ihm einen Speer in die Brust.
»Wie denn? Ich habe doch selbst nicht mehr daran geglaubt, dass sich etwas ändern könnte. Du hast mich aufgeweckt und... Ich weiss nicht... Du hast irgendetwas in mir bewirkt. Vielleicht bin ich nicht verloren. Wenn mich jemand retten kann, dann du. Ich muss mich ändern, das ist meine letzte Chance, sonst werde ich endgültig meine Seele verlieren und der Teufel vergisst nicht. Er wird mich holen. Aber vielleicht lässt er sich austricksen, der Teufel...«, lachte er und liess seine Donnerbüchse sprechen. Die Kugel traf einen Morack genau in der Brust, der knickte ein und fiel in den ewigen Schlaf...
»Hör schon auf! Dein Herz ist nicht schwarz. Du hast nur verlernt, schöne Dinge zu fühlen. Man muss es dir wieder beibringen. Ich glaube nämlich, dass in deinem Herz ein Kern aus Gold steckt«, widersprach sie ihm im Flüsterton. Sie schlich sich an ein anderes Ungetüm an, das der Hutmacher gerade bekämpfte. Jeremy Topper war wohl zweifellos ein Meister im Kampf, doch dieses Mal hatte er sich übernommen, denn er war in einen Kampf mit drei weiteren der Viecher verwickelt Wo kamen diese Dinger nur immer her?
Sabrina formte lautlos eine Eiskugel in ihrer Hand. Sie leuchtete bläulich in der Nacht. Sabrina holte aus und warf die Kugel. Sie zersprang klirrend am Hinterkopf des Monsters. Der Morack drehte sich um und wollte sie in Grund und Boden stampfen, doch Sabrina wich geschickt aus. Sabrina rannte um ihren Gegner herum, bis sie hinter ihm stand. Der schwerfällige Morack konnte sich nicht schnell genug drehen. Sie liess spitze Eiszapfen aus ihren Fingern wachsen, dann sprang sie dem Ungeheuer auf den Rücken. Sie grub das spitze Eis tief in die Haut des Moracks und der jaulte auf. Er schlug nach ihr, kam aber nicht nah genug an sie heran.
»Hook! Jetzt!«, schrie sie und Falk setzte sich in Bewegung.
Er holte Anlauf und sprang hoch, den Degen mit beiden Händen umklammert, über seinem Kopf haltend. Das lange, spitze Metall grub sich tief in die Brust des Moracks. Das Monster Kippte zur Seite.
Der sechste Morack...
Hinter ihr schlitzte der Hutmacher dem zweiten Morack die Kehle auf und dem Dritten wurde von Peter mit einer Streitaxt der Schädel gespalten.
Okay, das schien sogar Hook zu viel zu sein, denn er wandte sich mit vor Ekel verzogenem Gesicht ab.
Sabrina trat grinsend zu ihm.
»Das ist sogar zu viel für dich, stimmt's?«, fragte sie frech.
Hook sah sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an. Auf einmal lächelte er sein schief-spöttisches Lächeln und ihr wurde warm.
»Was du vorher gesagt hast...«, meinte er und blickte nach oben, als müsse er nachdenken. Dann sah er wieder zu ihr hinab. »Damit bin ich nicht ganz einverstanden...«
»W... Wie jetzt genau?«, fragte sie leicht abwesend.
»Tja, von wegen, ich hätte verlernt, schöne Dinge zu fühlen...«, er machte genüsslich eine Pause. »Ich finde, ich weiss, wie man so etwas fühlt...«
Er beugte sich hinab und küsste sie.
»Sind jetzt so ziemlich alle tot. Ihr habt echt gute... Hoppla!«
Sabrina riss sich los. Hook lachte.
»Ihr habt doch gesagt, ihr wollt kein Schifflein schaukeln!«, gackerte der Dämon. Natürlich hatte Faritales sie erwischt...
»Halt bloss die Klappe du feiges Huhn!«, maulte sie. »Du blöder Feigling hast dich gleich wieder aus dem Staub gemacht, als die Sache wieder brenzlig wurde!«
Beleidigt flatterte der Dämon weg, um die Feen zu ärgern.
»Und du hörst auf, so blöd zu lachen! Du hast versprochen, damit aufzuhören!«, schimpfte sie den Piraten.
»Womit den, Prinzesschen?«, fragte Falk mit einer Unschuldsmine.
»Das weisst du ganz genau!«, fauchte sie und warf ihm einen bösen Blick zu.
»Ach komm schon! Vor einem Monat hast du doch gar nicht genug von meinen Lippen haben können. Dieser scheiss Elf ist nicht ich!«, maulte der Pirat und wedelte mit seinem Haken.
Apropos...
Sabrina sah sich um. Werder Erils Drache, noch er selbst war zu sehen. »Hat jemand den Verräter gesehen?«, rief sie.
Die verstossenen, die gerade dabei waren, einen Scheiterhaufen aufzubauen, um die Leichen der Moracks zu verbrennen, sahen sich suchend um.
»Nein«, schrie Blabla, einer der verlorenen Jungs. »Dafür habe ich das hier gefunden...« Der Junge zerrte an dem Körper des Moracks, den Sabrina erschossen hatte, bevor sie gegen einen Baum geschleudert worden war. Sofort eilten einige seiner Brüder zu ihm, um zu helfen. Ächzend und stöhnend schafften sie es, den Fleischklops von Monster ein wenig zu bewegen, doch es reichte, um zu offenbaren, was Blabla gemeint hatte.
Ein schwarzes, längliches etwas kam darunter zum Vorschein.
»Wartet!«, rief Sabrina und kam auf die Jungs zu. Sie stand vor dem Leichnam, bückte sich hinab und berührte den Boden. Eis floss über den Boden, bedeckte das zertrampelte, blutbefleckte Gras.
»Versucht es jetzt nochmal«, meinte sie, stolz lächelnd.
Die Brüder glotzten das Eis an, dann nickten sie.
»Tja, eine Eisprinzessin in Aktion erlebt man nicht alle Tage!«, johlte der Nachtmahr. Anscheinend hatte er keine Lust mehr, die Feen zu ärgern. Jedenfalls setzte er sich fröhlich wie eh und je auf ihre Schulter.
Nun rutschte der Morack schon fast ganz von alleine. Und das Ding, auf dem er gelegen war, konnten nun alle sehen.
Eine schwarze Fahnenstange, an der ein ebenso schwarzer Stoff hing. Niemand traute sich, das Ding anzufassen, als sei es verflucht. Alle ausser Sabrina. Sie lief auf das Ding zu und breitete den Stoff über dem Boden aus. In der Mitte der schwarzen Flagge prangte eine blutrote Sieben.
»Was ist das?«, fragte Sabrina in das Schweigen der anderen hinein.
»Das Wappen der sieben Dunklen«, antwortete Hook.
»Nun steht es wenigstens fest. Das hier war kein... Rudel Moracks, das durch den Wald gestreift ist. Das war ein Trupp der Dunklen...«, stellte der Hutmacher fest.
Krah! Krah!
Sabrina blickte hinauf in den Himmel. Sechs schwarze Raben drehten ihre Kreise über ihr. Dann schwenkten sie ab und flogen Richtung Osten.
»Wir werden hier rasten. Hook, Jeremy und Peter, ihr begleitet mich. Der Rest geht schlafen. Esst die Vorräte, die noch übrig sind. Vergesst nicht, eine Wache aufzustellen. Wir werden bald zurück sein.«
Mit diesen Worten drehte Sabrina sich um und verschwand im Unterholz. Kurz darauf hörte sie hinter sich Zweige brechen. Hook, Jeremy und Peter folgten ihr also.
Wohin wollten sie die Raben führen?
Die Ahnung, die sie hatte, lag ihr schwerer im Magen, als ein doppelter Burrito es jemals geschafft hätte.

~Mile~

Der Löwe kreiste über der Kuppel. Das Glas schien von innen zu Leuchten, wie eine riesige, bunte Glühbirne.
»Wie wollen wir da rein?«, brüllte Red gegen den eisigen Wind, der hier in luftiger Höhe tobte. Kalt war ihr nicht. Dafür hatte Mile gesorgt, indem er seinen Rückenpanzer, gegen den sie lehnte, erhitzt hatte.
»Wenn wir auf der Kuppel landen, werden sie es doch bemerken. Schliesslich hockt dieser irre Zauberer gleich darunter!«, schrie er.
König Löwenherz brüllte: »So oder so, sie werden uns bemerken! Also, ich würde sagen: Ab durch die Mitte!«
»Halt, ihr meint, wir...«, stammelte Mile, doch weiter kam Mile nicht.
Der Löwe setzte zum Sturzflug an. Das Buntglas kam rasend schnell näher.
»Verdammt!«, schrie Mile und streckte seine linke Hand aus. Eine Feuerwelle fuhr auf das Glas zu und riss ein grosses Loch hinein. Dann krallte sich Mile in das Fell des Löwen und vergrub sein Gesicht in dessen weisser Mähne.
Sie fielen durch das Loch. Löwenherz landete auf allen vieren und brüllte erstmal furchteinflössend.
Mile rappelte sich auf und versuchte das Schwindelgefühl zu bekämpfen, dass diese Bruchlandung ausgelöst hatte.
Die Kuppel war über ihnen. Jedenfalls der Rest davon. Der Boden war aus schwarzen Granitplatten und übersät von glitzernden Glassplittern. Rechts von ihnen war eine Holzklappe im Boden eingelassen. Der Eingang, wie Mile vermutete. In der Mitte dieser runden Plattform, die von einer Buntglas-Kuppel eingeschlossen war, stand eine Feuerschale. Und davor sass er. Der Hexenmeister...
Ein junger Mann. Seine Haut war dunkel wie Schokolade. Die Haare hatte er sich abrasiert. Er trug eine Kutte aus gelber Seide. Er sass im Schneidersitz vor dem Feuer. Seine Lippen bewegten sich, als ob er betete.
Mile legte vorsichtig die Hand auf den Griff seines Schwerts.
»Hallo? Hexenmeister!«, rief er.
»Er hat das Brüllen eines geflügelten Löwen nicht gehört, da wird er wohl kaum auf dein Rufen hören«, flüsterte Red.
»Und wieso flüsterst du dann?«, fragte Mile.
Red zuckte die Schultern.
»Er scheint... in einer Art Trance versunken zu sein...«, stellte Löwenherz fest. Die Raubkatze hob eine Pranke, um den Hexer zu berühren...
»Halt, was wenn...«
Doch es war zu späht.
Löwenherz berührte den Mann an der Schulter. Der sprang wie von der Tarantel gestochen auf.
Der Mann schrie, stolperte über den Löwen und kippte um.
»Halt! Wir werden ihnen nichts tun! Nur lösen sie diesen Zauber auf!«, rief Mile. »Haltet ihn fest, Löwenherz!«
Der Löwe setzte sich kurzerhand auf den Hexer drauf.
So geht's auch, dachte Mile.
Er stellte sich über den Hexer, sah ihm ins Gesicht und keuchte erschrocken auf. Der Mann war tot...
Er zeigte jedenfalls nicht das kleinste Lebenszeichen.
»Hallo? Hallo?«, rief Mile und tätschelte dem Mann die Wange.
Re trat hinter ihn.
»Was ist denn das passiert?«, fragte sie und kniete neben ihm nieder. Sie fühlte den Puls des Mannes und schüttelte den Kopf.
»Er... er ist tot!«, sagte sie fassungslos.
Löwenherz stand von dem Toten auf und ging um ihn herum.
»Ich habe nichts getan, ich schwöre es!«, brummte er.
»Ich glaube, an diesem Tod hat niemand von uns Schuld...«, meinte Red erschrocken. Sie deutete auf den Hals des Mannes. Mile drehte den Kopf des Toten.
»Was ist das? Eine Rune?«, fragte er.
Löwenherz knurrte: »Das habe ich schon einmal gesehen. Es ist so eine Art Selbstzerstörer. Die Rune muss sich aktiviert haben, als ich ihn berühr habe...«
Mile schüttelte den Kopf. »Wieso sollte sich das jemand antun?«, fragte er.
»Damit man nicht... Nicht redet. Vielleicht hat er sich diese Rune gar nicht selbst aufgemalt. Das könnte jemand anderes gewesen sein«, gab Red zu bedenken.
»Also hat dieser Mann all diese Grabestänzer heraufbeschworen. Und dann musste er sterben, damit wir keine Informationen von ihm bekommen?«, zischte Mile fassungslos.
»Sieht so aus...«, knurrte Löwenherz.
Ein Knarzen liess die drei aufblicken. Die Holzklappe wurde hochgehoben und ein Kopf tauchte auf.
»Na, habt ihr mich vermisst?«, fragte Rosanna grinsend.
»Wie bist du denn hier hoch gekommen?«, fragte Mile.
»Ich weiss auch nicht. Ich hab die Treppe genommen?«
»Ha. Ha. Sehr witzig!«, schnaubte Red.
Rosanna kicherte. Dann meinte sie ernst: »Na ja, die ganzen Trolle und Soldaten sind auf einmal alle abgehauen. Sind, als hätte jemand alle zurück gerufen, losgerannt. Von einem Moment auf den anderen. Das war krass!«
»Mit der Aktivierung der Selbstzerstörungsrune muss auch eine Art Warn-oder Rückzugssignal aktiviert worden sein!«, rief Red. Mile nickte. Dann stand er auf.
»Wir haben Aramesia eingenommen!«, verkündete er. In seiner Vorstellung hatte sich dieser Moment irgendwie... Besser angefühlt...
»Ach und noch was. Ich glaube, das könnte dich interessieren, MyLord...«, sagte Rosanna, spöttisch grinsend.
»Und was?«, fragte Mile.
»Sie haben die Bewohner der Stadt gefunden. Sie waren alle eingesperrt. In den Katakomben Stadt.«
»Na und? Geht es allen gut?«, fragte Mile aufgeregt.
Rosanna zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung! Die schlafen alle! Anscheinend lässt Königin Damaris grüssen.«
Mile verstand nicht. »Wie jetzt. Wieso weckt ihr sie nicht auf?«
Nun mischte auch Red sich ein. »Sie schlafen, Mile. Sie schlafen wie Dornröschen!«

~Sabrina~

»Oh nein!«, rief sie.
Oh nein!
Sie lag auf dem Boden, die Haare breiteten sich um ihren Kopf aus, wie ein roter Heiligenschein. Ihr Körper war seltsam verdreht. Das Gesicht hatte sie den Sternen zugewandt. Sie sah seltsam zufrieden aus...
»Ist sie... Sie ist doch nicht...«, stammelte sie.
Mondkind stand auf und umarmte sie. »Wer lauert in der Dunkelheit?«, flüsterte die Kleine. Geistesabwesend strich sie über den Kopf ihrer Cousine.
»Ich habe sie auf Patrouille geschickt. Sie muss auf die Moracks getroffen sein... Oh Himmel...«, schluchzte sie.
»Wir müssen sie begraben...«, sagte Hook leise und nahm sie in den Arm.
Sabrina würde dieses Bild wohl niemals wieder vergessen können.
Arillis, wie sie dalag. Kalt. Tot.
»Kein Blut. Sie ist schnell gestorben. Genickbruch vermute ich...«, meinte der Hutmacher bedrückt.
»Wir haben sie so gefunden...«, meinte Wendy traurig. »Die Raben sind uns gefolgt. Sie haben euch gleich zu uns geführt, nachdem wir sie fanden...«
»Arillis!«
Oh nein. Oh Himmel nein!
Eril eilte durch das Dickicht. Sein Gesicht war so weiss wie frisch gefallener Schnee.
Er fiel auf die Knie. Schluchzte und heulte.
»Nein! Nein!«, schrie er.
»Wo ist ihr Drache?«, fragte Hook Wendy, die aufgestanden war, um zu ihnen herüber zu kommen.
»Er liegt zwanzig Meter von hier entfernt zwischen den Bäumen. Als Arillis erschlagen wurde, muss Tircha auch gleich tot umgefallen sein...«, antwortete sie.
Sabrina schluckte. Sie sah zu Arseel auf, der den Kopf in stiller Trauer auf seine breite Drachenbrust gepresst hatte.
»Das ist deine Schuld! Deine Schuld, Sabrina!«, kreischte Eril und zweigte auf sie. »Du hast sie alleine auf Patrouille geschickt! Wie konntest du nur?«
»Es tut mir so leid, Eril! Ich...«
»Halt dein beschissenes Maul!«, rief er.
Schluchzend stand er auf, hob Arillis' leblosen Körper hoch und trug sie zu seinem Drachen. Er legte Arillis Leiche auf Arseels Rücken und stieg auf.
»Ich werde dir das heimzahlen, Sabrina Beltran. Ich werde Rache üben! Du wirst leiden, Eisprinzessin!«
Arseel schwang sich in die Luft. Er hob Tircha, die rote Drachendame hoch und flog mit dieser schweren Last Richtung Norden. Dabei war der tote Drache grösser als er selbst. Doch Arseel war ein starker Drache. Sabrina hatte keinen Zweifel daran, dass er es schaffen würde.
»Du lässt sie ziehen?«, fragte Peter beklommen.
Sabrina schwieg. Langsam drehte sie sich um und wanderte allein zurück zum Lager.
Eril hatte heute alles verloren, was ihm wirklich am Herzen lag. Jetzt hatte er nur noch den geschuppten Graf. Den geschuppten Graf und die Rache, die er ihr geschworen hatte...
Ihr Herz schien zu zerspringen.
Sie hörte Mondkinds Stimme im Ohr, wie die Kleine sang: »Die Toten gieren, ihr Feuer geht aus. Falsche Raben reissen sich das Herz heraus.«

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An diesem Kapitel habe ich lange gearbeitet. Ich hoffe, es gefällt euch.
Viel Spass beim Lesen und gebt, wann immer ihr wollt, euren Senf dazu ;P

Liebe Grüsse,

Eure Dreamtravel

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