Uralte Fassung (1): Twos - Di...

By MaraPaulie

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Achtung: Alte Fassung. Neue ebenfalls auf Account zu lesen. Nicht jedes Märchen beginnt mit »Es war einmal... More

Vorwort
Prolog
Kapitel 1 - Ticket der Freiheit
Kapitel 2 - Home Sweet Home
Kapitel 3 - Die Tallos
Kapitel 4 - Die verrückte Tanja
Kapitel 5 - Tränen aus Eis
Kapitel 6 - Verräter und Bruder
Kapitel 7 - Das Wintermädchen
Kapitel 8 - Die Herrscher der Gezeiten
Kapitel 9 - Grosser, böser Wolf
Kapitel 10 - Vom Märchen in rot
Kapitel 11 - Von Schnee im Haus und Rosen aus Feuer
Kapitel 13 - Von Verrückten und dem Labyrinth
Kapitel 14 - Der Bruder mit dem Schuppenkleid
Kapitel 15 - Des Winters Blut
Kapitel 16 - Der Junge, der mit der Sonne tanzt
Kapitel 17 - Augen ohne Liebe
Kapitel 18 - Die Völker aus den Büchern
Kapitel 19 - Trauriger Mörder, lass mich gehen
Kapitel 20 - Feuerraben
Kapitel 21 - Der Löwe und der Wolf
Kapitel 22 - Der Traum von Familie
Kapitel 23 - Der Pirat und die Prinzessin
Kapitel 24 - Von Barbaren und Märchen aus der Besenkammer
Kapitel 25 - Von toten Jungen und Mädchen aus Licht
Kapitel 26 - Der Lichterlord und die Antwort zum Hass
Kapitel 27 - Rote Raben und Bücher voller Schicksal
Kapitel 28 - Wer lauert in der Dunkelheit?
Kapitel 29 - Von Schläfern und Schlüsseln
Kapitel 30 - Geheimnis ohne Zeit
Kapitel 31 - Namen von Macht
Kapitel 32 - Zum Lied des irren Geigers der Dämon mit dem Teufel tanzt
Kapitel 33 - Vom Meer zu den Wolken
Kapitel 34 - Geschichten, die ein Vöglein zwitschert
Kapitel 35 - Sturmgläser, tanzende Piraten und Jungen, die vom Himmel fallen
Kapitel 36 - Klyuss' Kinder
Kapitel 37 - Blau wie der Mohn, grün wie die Hoffnung und rot wie Blut
Kapitel 38 - Das Schicksal der Verfluchten
Kapitel 39 - Gejagte der Vergangenheit
Kapitel 40 - Blut fremder Brüder
Kapitel 41 - Spiel der Könige
Kapitel 42 - Es jagt und tanzt der Geistesblitzt
Kapitel 43 - Die Wahrheit wurde von einem Lügner erschaffen
Kapitel 44 - Vom Mörder, der die schwarze Orchidee fand
Kapitel 45 - Von Herrschern mit dem Flammenhass und Helden kleiner Klingen
Kapitel 46 - Wer wir sind und was wir tun
Kapitel 47 - Einmal Monster, immer Monster
Kapitel 48 - Das Versprechen von niemals und immer
Kapitel 49 - Das Wort 'böse'
Kapitel 50 - Der Herzkasper
Kapitel 51 - Freund oder Feind, alt oder neu, beide bleiben ewig treu
Kapitel 52 - Das Gedicht des Todes
Kapitel 53 - Die Reise der Wahrheit und des Sinns hinter allem
Kapitel 54 - Von Geschwisterbanden und letzten Zeilen
Kapitel 55 - Der Tempel der Orakel
Kapitel 56 - Mondkind
Kapitel 57 - Die erste aller Schöpfungen
Kapitel 58 - Vom Intrigieren, Dechiffrieren, Konferieren und fiesen Viren
Kapitel 59 - Glücksjagd und Königsmord
Kapitel 60 - Schattenlicht und Bernsteingold
Kapitel 61 - In der Schwebe
Kapitel 62 - Patron und Paladin
Kapitel 63 - Von Luftschlössern und Monstern unterm Bett
Kapitel 64 - Deine wunderschönen Lügen
Kapitel 65 - Von Namen und Masken
Kapitel 66 - Das blinde Recht
Kapitel 67 - Das blinde Herz
Kapitel 68 - Das blinde Glück
Kapitel 69 - Verfluchtes Kind mit Gold gekürt
Kapitel 70 - Als niemand schlief
Kapitel 71 - Der Gewissenlose
Kapitel 72 - Phönix
Kapitel 73 - Ein Goldstück für deine Gedanken
Kapitel 74 - Kriegsherr Regen
Kapitel 75 - Der Herrscher über alle Macht
Kapitel 76 - Alles ist gut
Kapitel 77 - Die Feinde des Schicksals
Kapitel 78 - Und wenn sie nicht gestorben sind...
Kapitel 79 - Lucky Strike
Kapitel 80 - ...dann leben sie noch heute
Epilog
Authornotes
Charakterverzeichnis
Illustrationen

Kapitel 12 - Erbe der Toten

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By MaraPaulie

Kapitel 12

Erbe der Toten


~Sabrina~

»Halt! Halt! Steht wieder auf! Wir sind keine Herrscher!«, rief Mile erschrocken und fuchtelte aufgeregt mit den Armen herum.
»Und wie erklärst du dir dann das?«, fragte Red seltsam reserviert und deutete auf ihre schwarzen Haare, in denen noch immer ein paar Schneeflocken glitzerten.
»Wir haben in unserer Welt ein altes Buch gefunden. Darin fanden wir Legenden. Legenden von diesen... Herrschern der Gezeiten... Wie auch immer. Aber diese Legende ist ur-ur-uralt! Wie könnt ihr glauben, dass wir eure... Herrscher sind?«, fragte Sabrina verständnislos.
Red lachte freudlos. Sabrina bemerkte, wie sie Miles Blick auswich. Als hätte er sie enttäuscht. Auch wenn Sabrina Red nicht ausstehen konnte, wusste sie, das Mile etwas an ihr lag. Sie hatte es von Anfang an gespürt. So hatte Mile noch nie ein Mädchen angeschaut.
»Märchen altern nicht. Hier altert niemand. Ausser die Wesen, die nichts mit einem der Märchen zu tun haben...«, schnaubte Red.
»Aber was ist denn mit den alten Herrschern passiert?«, rief Mile verzweifelt, »Ihr habt gesagt, sie - also wir - währen zurückgekehrt.«
Vergeblich suchte er ihren Blick. Wieso war Red plötzlich so abweisend?
»Vor langer, langer Zeit, war diese Welt ein friedlicher und idyllischer Ort. Natürlich gab es in jedem Märchen irgendwelche Bösewichte. Böse Stiefmütter, Hexen, tyrannische Königinnen, Monster, Teufel, böse Drachen, Ungeheuer... Aber die hielten sich meist zurück. Sie lebten weit im Norden des Landes. Von dort hielten wir uns fern. Gut und Böse. Für immer getrennt wie es schien.
Doch eines hatten wir gemeinsam. Wir wurden alle von den gleichen Herrschern regiert«, erklärte der Doc.
»Den Herrschern der Gezeiten!«, stellte Mile fest.
»Genau. Sie waren gute Herrscher. Sie waren gerecht und klug. Weder die dunkle Seite der Märchen noch die unsere wurde in irgendeiner Weise bevorzugt oder vernachlässigt. Doch das war nicht ihre einzige Aufgabe. Sie waren für die Jahreszeiten verantwortlich. Nach dem Sommer übergab der Lichterlord seiner Gemahlin die Aufgabe, sich um die ihr zugehörige Jahreszeit zu kümmern. Dabei ging es nicht um einen Streit zwischen Sommer und Winter. Das ganze geschah in völliger Harmonie.
Dem Land und seinen Bewohnern ging es gut.
Dachten wir jedenfalls...«, erzählte Grumpy weiter.
»Was ist passiert?«, fragte Sabrina.
Sie hatte sich zu den Zwergen an den Tisch gesetzt. Ganz hinten, neben Sleepy und damit soweit vom Kamin weg, wie es möglich war.
Mile wollte es ihr gleichtun. Er überlegte, ob er sich neben Red setzen sollte, liess es dann jedoch lieber sein. Stattdessen setzte er sich neben Bashful, der, verlegen und scheu wie er war, etwas beiseite rückte.
»Was geschah? Nun das Böse tat, was es am besten kann. Böse sein!«, rief Happy und kicherte über die Ironie seiner Worte.
»Aber wieso? Dem Land ging es doch gut«, fragte Sabrina verwirrt.
»In allem Märchen geht es doch immer um das gleiche. Schönheit, Geld und Macht. Die mächtigsten unter allen Unholden setzten sich zusammen an den Tisch und begannen mit ihren finsteren Plänen. Rumpelstilzchen, jegliche böse Hexen und Zauberer, zum Beispiel die aus Hänsel und Gretel und Rapunzel, die böse Königin, die Erzfeindin von...«, Grumpy unterbrach den Doc, was ihm einen strengen Blick der anderen einbrachte. Doch Grumpy liess sich nicht einschüchtern.
»Nenne nicht ihren Namen. Nenn sie einfach...«, begann er.
»Schneeflittchen!«, kreischte Happy und kugelte sich vor Lachen auf dem Boden.
Grumpy grinste hämisch.
»Gut, Schneeflittchen.«
Red verdrehte demonstrativ die Augen.
»Ihr seid nach all den Jahren noch immer sauer auf Schneechen?«, fragte sie gelangweilt.
Die Zwerge zuckten zusammen.
»Was ist denn passiert?«, fragte Mile belustigt.
»Dieses Miststück hat und einfach sitzen lassen! Wir haben uns um sie so liebevoll gekümmert und kaum taucht irgendwo ein schöner Prinz auf, ist sie auf und davon!«, fluchte Sneezy, wobei seine Stimme seltsam dumpf klang, da seine Nase verstopft war. Bei jedem Wort zog er die N's und M's seltsam lang.
»Ach... So 'n undankbares Miststück!«, murmelte Sleepy und begann gleich darauf wieder lauthals zu schnarchen.
»Die Märchen, wie ihr sie kennt, sind schon lang passe«, seufzte Red.
»Aber wo sind denn die Herrscher nun? Was ist mit ihnen passiert?«, fragte Sabrina um wieder auf das ursprüngliche Thema zurück zu kommen.
»Nun, wie gesagt alle grossen Köpfe des Bösen taten sich zusammen. Darunter auch eine Verwandte von dir, Eisprinzessin. Die Schneekönigin«, erklärte der Doc.
Sabrina runzelte die Stirn.
Na toll...
»Jedenfalls trommelten sie jedes Fitzelchen Böse aus der Märchenwelt zusammen. Sie schafften es, eine ganze Armee auf die Beine zu stellen.
Und heute vor etwa hundertfünfundfünfzig Jahren griffen sie an. Das ganze traf uns völlig unvorbereitet. Plötzlich standen sie einfach vor dem Zeitpalast«
»Sie haben sie getötet?«, fragte Mile ungläubig.
Die Zwerge lachten.
»Töten? Das funktioniert hier nicht so mit den sterben...«, kicherte Happy übermütig.
»Um eine Märchenfigur zu töten, musst du sie in die sterbliche Welt bringen. Wenn du mir hier ein Messer in das Herz rammen würdest, würde das zwar höllisch wehtun, aber sobald du es wieder herausziehen würdest, würde es anfangen zu heilen. Natürlich würde sich die Wunde nicht von heute auf morgen schleissen, aber sie würde heilen!«, knurrte Grumpy und stiess sich ein imaginäres Messer in die Brust.
»Und in der sterblichen Welt wärst du dann tot?«, fragte Mile.
»Mausetot. Und nicht nur ich. All meine Brüder, die böse Königin, Schnee... Schneeflittchen und dieser Lackaffe von Prinz!«, knurrte Grumpy und grinste hämisch.
»Unser Märchen würde ausgelöscht werden. Hier und in der sterblichen Welt.«
Der Doc nickte und ergänzte: »Was uns nur zu Gute kommt. Das ist der einzige Grund, weshalb wir noch leben. Die Dunklen Herrscher hätten uns ansonsten schon längst in die sterbliche Welt verschleppen lassen, um uns dort blutrünstig zu ermorden!«
Sabrina lief ein eisiger Schauer über den Rücken.
»Wenn diese... Bösen Typen die Herrscher hier nicht getötet haben, was dann?«, fragte sie.
»Gar nichts!«, grinste Happy, »Wir haben sie gerettet!«
»Genau! Dornröschen hatte kurz davor ihren dreihundertdreiunfünfzigmillionsten Hochzeitstag gefeiert. Wir Zwerge waren angestellt, um die Überbleibsel der Party zu beseitigen. Als der Zeitpalast angegriffen wurde, wussten wir sofort, was wir zu tun hatten. Wir schnappten uns unsere Spitzhacken und eilten in die Gemächer der Herrscher. Es wurde der Rat der Weisen einberufen, ein Club aus verschrumpelten Hexen, Magiern und so weiter. Wir erklärten denen unser Vorhaben und die stimmten zu!«, erklärte Bashful, der wohl endlich genug Mut gefasst hatte, um den Mund auf zu machen.
»Der Rat der Weisen! Ein Club aus... Bashful! Du solltest mit etwas mehr Respekt von diesen ehrwürdigen Herrschaften sprechen!«, belehrte ihn Doc.
»Ihr müsst wissen, wir Zwerge haben Jahrzehnte damit zugebracht, unsere Welt unterirdisch zu vernetzen. Jedes Lebewesen, das sich in unser Tunnelsystem hineinwagt, kommt nicht mehr lebend heraus. Nur Zwerge finden sich dort zurecht!«, erklärte Doc mit vor Stolz geschwellter Brust.
»Dann habt ihr sie durch die Tunnel in Sicherheit gebracht?«, fragte Sabrina hoffnungsvoll.
Die Mienen der Zwerge verdüsterten sich.
»Wir dachten es...
Wir hofften, die Herrscher würden in Sicherheit sein, wenn wir sie dorthin bringen würden, wo die Dunklen sie niemals vermuten würden!«, knurrte Grumpy und senkte den Blick.
Sabrina schwante Übles.
»In die Welt der Sterblichen!«, hauchte sie und sah ihren Bruder an. Auch er ahnte es.
»Wir schickten sie durch das Portal. Es war kein Zufall, dass sie genau an diesem Tag angegriffen hatten. Das Portal öffnet sich nur einmal pro Jahr. Und zwar immer in der Winterzeit. Die Herrscher traten hindurch.
Seit dem herrscht der ewige Winter. Das kommt eurer Schwester, der Schneekönigin nur zu Gute. Ihre Macht steigt, wie die eure, wenn es kalt ist, Eisprinzessin.
Die Herrscher waren lange Zeit in Sicherheit. Niemand von den Dunklen ahnte auch nur im Geringsten, wo sie waren. Nur wenige der Rebellen wurden eingeweiht.
Doch in der Märchenwelt herrschte das Chaos. Zwar waren die Herrscher in Sicherheit, doch die Dunklen hatten die Macht an sich gerissen. Sie unterwarfen den Süden und versklavten die Märchengestalten, die dort lebten. Nur ein kleiner Teil der Welt konnte sich zu Wehr setzen. Dies sind noch heute die Rebellen«, erzählte Grumpy weiter.
Doc schenkte sich noch etwas Zwergenschnaps ein, dann übernahm er die Erzählung: »Auch wir gehörten zu den Damaligen Rebellen. Immer wieder wurden die Rebellengrüppchen angegriffen, doch sie schafften es nie, die Rebellen vollständig auszurotten. Märchengestalten wurden gefangen und versklavt. Andere unterwarfen sich und schlossen sich den Dunklen an.
So kam es, dass damals unser lieber Kumpane Pinocchio gefangen wurde...«
»Ich hab doch schon immer gesagt, dem Kerl sollte man die bescheuerte Nase abschneiden!«, knurrte Grumpy missmutig doch Doc beachtete ihn nicht: »Er war ein lieber Kerl und mit der Zeit hatte er die Sache mit dem Lügen ganz gut im Griff. Er war ein Wahrer Künstler darin, Dinge so zu sagen, dass sie nicht als gelogen bezeichnet werden konnten, doch gegen die Folterknechte und Zaubertricks der Dunklen hatte er keine Chance. So fanden die Dunklen heraus, wo sich die Herrscher aufhielten. Sie schickten die finstersten Wesen der Märchenwelt, um die Herrscher zu ermorden.
In dieser Zeit gelang es den Rebellen, diesen Teil der Welt wieder zurück zu erobern. Wir wussten, die Herrscher waren verloren, aber wir wollten nicht zulassen, dass ihre Mörder wieder heim kamen. Darum stellen wir nun jedes Jahr, wenn sich das Portal öffnet einen Wächter davor«, endete der Doc und sah Sabrina und Mile ernst an.
»Doch nun seid ihr zurückgekommen! Wie seid ihr den Nekromanern entkommen? Wieso seht ihr immer noch so jung aus. Wir haben immer gedacht, die sterbliche Welt lässt uns altern!«, jubelte Happy und starrte die Geschwister neugierig an.
Sabrina starrte noch immer ihren Bruder an.
»Mile... Mile denkst du, dass... Mom und Dad...«, sie brachte den Satz nicht zu Ende.
Mile biss sich auf die Lippe.
»Vielleicht... Es könnte sein... Warte kurz!«, stammelte Mile.
Einer Eingebung folgend drehte er sich zu den Zwergen um. Er vermied, es Red in die Augen zu sehen, doch trotzdem wurde er rot bei seinen Worten, auch wenn er dabei nicht an sie dachte.
»Wenn eine Märchenfigur in der sterblichen Welt... Könnten Märchenfiguren in der sterblichen Welt ein Kind bekommen?«, fragte Mile. Vor Aufregung quollen ihm kleine Rauchfähnchen aus den Ohren zu steigen und seine Haare leuchteten, sodass sie aussah, als stünden sie in Flammen.
Red starrte seinen Kopf an, leicht irritiert von seinem... Hitzigen Wesen und antwortete zaghaft: »Kann schon sein... Ich weiß es nicht. Es spricht eigentlich nichts dagegen...«
Mile sprang auf. Er rannte zu Sabrina hin und grabschte nach ihrem Hals.
Sabrina wich erschrocken zurück und schoss reflexartig mit einer Eiskugel nach ihm. Das Training hatte sich gelohnt...


~Mile~

»Oh, Shit! Mile! Entschuldigung, aber du hast mich total erschreckt!«, rief sie und kniete sich vor ihren Bruder.
»Und du willst nicht die Eisprinzessin sein?«, giftete Red, als Sabrina sich über ihren stöhnenden Bruder beugte. Sabrina ignorierte sie.
»Wow! Sabrina! Du hast es echt drauf!«, ächzte Mile und richtete sich auf.
»Was sollte das eigentlich?«, fragte Sabrina nun mehr verärgert, als besorgt.
»Hast du noch das Medaillon? Das, mit den...«
»... Bildern von... ihnen?«, beendete Sabrina den Satz ihres Bruders.
Mile nickte.
Natürlich trug sie es. Sie trug es immer.
Wortlos zog Sabrina das schwere Schmuckstück aus ihrem Ausschnitt, zog es vorsichtig über den Kopf und legte es vorsichtig in Miles ausgestreckte Hand.
Das Medaillon lag kalt und schwer in seiner Hand.
An einer langen silbernen Kette hing ein runder Anhänger.
Es war ein Mond. Um genau zu sein eine Mondsichel. So gross wie ein Hühnerei und aus massivem Silber. In die Sichel waren sechs kleine Saphire eingelassen, die einen Bogen beschrieben. An den Spitzen der Sichel sassen die Scharniere.
Es war kein sonderlich bequemes Schmuckstück, aber es war das einzige, was Sabrina von ihren Eltern hatte.
Sie hatte es zu ihrem vierten Geburtstag bekommen. Auch Mile besass so ein Schmuckstück. Ein goldener Kompass, der mit sechs leuchtenden Rubinen besetzt war. Auf dem Deckel prangte eine Sonne.
Mile schob den Nagel seines Daumens in den äusseren Bogen des Mondes und klappte ihn auf.
Nun sah das Schmuckstück aus wie ein ganzer Mond, mit einem Loch in der Mitte.
Auf beiden Seiten im Inneren der Sichel, waren Fotos geklebt.
Das eine zeigte Ignatz Beltran, das andere seine Frau Eira Beltran.
Er sah seinem Vater so ähnlich. Alle sagten das.
»Feuerhaar und Waldaugen! Das sind meine Jungs!«, hatte seine Mutter immer gesagt.
Eira Beltran war dafür das genaue Ebenbild seiner Schwester. Das dunkelblonde Haar, die eisblauen Augen, die schmale Nase und die fein geschwungenen Lippen. Und natürlich die weisse Haut. Sie sah Sabrina so ähnlich!
Und doch waren sie irgendwie anders! Eiras Lächeln fehlten die tiefen Grübchen, die Sabrina wohl von ihrem Vater geerbt hatte. Doch dafür hatte ihre Mutter Lachfältchen an den Augenwinkeln.
Mile hatte, worüber er sehr froh war, die Zähne seiner Mutter geerbt, denn sein Vater hatte Hasenzähne. Dafür hatte er seine Segelohren abgekriegt.
Ihre Eltern sahen aus wie aus einem Katalog oder aus einer Paarship-Werbung. Dabei war sein Vater Architekt und seine Mutter Psychiaterin gewesen.
Architekt und Psychiaterin. Keine Herrscher!
Mile blinzelte die Tränen weg, die sich in seinen Augen gesammelt hatten und stand auf.
Er holte tief Luft und fragte sehr ernst: »Sind das die Herrscher der Gezeiten. Der Lichterlord und die Eisprinzessin?«
Acht Augenpaare starrten einen Moment lang die Bilder in dem Medaillon an.
Obwohl er es besser wusste, konnte Mile nicht anders als zu hoffen.
Sabrina trat neben ihn und ergriff seine Hand. Mile ignorierte die schmerzende Kälte, die von ihrer Haut ausging. Die Berührung war tröstend.
Doc nahm Mile das Schmuckstück aus der Hand. Er strich vorsichtig über die Gesichter ihrer Eltern.
Red starrte erst die Fotos, dann Mile an. Ihre Mimik war ein Wechselspiel aus Freude, Scham, Verwirrung und tiefer, bodenloser Traurigkeit.
Doc hob den Blick vom Medaillon.
»Es tut mir Leid um eure Eltern. Sie waren grossartige Menschen. Jahrelang dachten wir, sie hätten uns für immer verlassen, ohne uns etwas zu hinterlassen. Wir dachten, für unsere Welt gäbe es keine Hoffnung mehr. Doch wir lagen falsch. Ihr beide seid die Kinder unserer Herrscher. Ich bitte euch, uns anzuschliessen. Mit eurer Hilfe könnten wir diese Welt retten!«
Die Hoffnung der Geschwister zerbrach in tausend Stücke.
Ihre Eltern waren tot! Natürlich war ihnen immer klar gewesen, dass ihre Eltern nie wieder zurückkommen würden. Aber es hatte immer Hoffnung gegeben. Bisher waren ihre Eltern verschwunden! Und nun hatten sie Gewissheit.
»Nein!«, schrie Sabrina den Zwerg an. »Ich will nichts beherrschen!«
»Ihr müsst! Ihr habt die Gaben eurer Eltern. Bisher hatten wir keine Chance, gegen die Dunklen anzutreten! Ihr seid unsere einzige Chance!«, rief Grumpy wütend.
Mile nickte. »Sie hätten es so gewollt!«, flüsterte er und sah seine Schwester an, die noch immer trotzig die Arme vor der Brust verschränkt hatte.
Sabrina schniefte. Langsam nickte auch sie.
»Was werden wir tun?«, knurrte Mile und heisse Entschlossenheit wallte in ihm auf.
Der Doc grinste.
»Wir statten dem Rebellenführer einen Besuch ab! Morgen reisen wir zu König Drosselbarts Schloss!«

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