Unter Magiern: Feuerrot [Lese...

By Amachen

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Die Junghexe Florence fühlt sich am wohlsten, wenn sie von Kräutern und frischer Erde umgeben ist. Leider hil... More

Kapitel 2 - Der Preis ihres Lebens
Wohin ist der Rest?

Kapitel 1 - Es war einmal

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By Amachen


Leider komme ich im Moment nicht dazu, das nächste Kapitel von Eisblau zu Ende zu schreiben. Daher hier schon einmal für alles Fans und Ungeduldigen das erste Kapitel von Feuerrot. Ich freue mich über Kommentare und Anregungen. Denn genau wie Eisblau ist auch diese Geschichte nicht bereits fertig (abgesehen von den ersten Kapitel). 

Ich hoffe, ihr genießt das Lesen.

__________

Sie kamen bei Nacht. Niemand von uns konnte sie kommen sehen. Niemand konnte auch nur erahnen, dass sie kommen würden.

Ich erinnere mich noch genau daran, wie es war. Bevor sie kamen, ging es unserer kleinen Gemeinde gut. Wir sind nur ein kleines Dorf. Eines, in dem Magier und normale Menschen in Harmonie miteinander leben - lebten. Lasst mich ein wenig davon berichten, wie es einst war: Die Unmagischen wissen von uns und akzeptierten uns so wie wir sind. Viele versuchten sich sogar ein wenig an der Zauberei. Aber wer keine Magie in sich hat, kann nun mal nicht mehr als normale Heiltränke zu brauen. Bei meiner Großmutter im Kräuterladen haben zwei Menschen gearbeitet. Ihre Namen waren Sarina und Laire. Die beiden kannten sich besser mit Kräutern und nichtmagischen Tränken aus als manch eine Hexe. Ich habe gerne im Laden gesessen und ihnen dabei geholfen Hustensäfte oder andere natürliche Mittelchen zu brauen. Am liebsten habe ich versucht, verschiedene Teesorten zu mischen. Meistens war meine Testgruppe ganz angetan von dem, was ich da gebraut habe. Es kam nur wenige Male vor, dass meine Kreationen ungenießbar waren. Meine Mutter kann meine Begeisterung für die Magie und vor allem für die Kräuter nicht begreifen. Aber sie hat sich noch nie großartig fürs Zaubern interessiert. Irgendwann ist die Magie in ihr eingeschlafen, weil sie sie so konsequent ignoriert hat. Ich weiß nicht ob das stimmt, aber es ist das, was Oma mir gesagt hat, als ich sie eines Tages fragte, warum Mama nicht auch zaubert. Mein Papa konnte auch zaubern. Er war kein großer Magier, aber das wenige, was er mit seiner Magie zustande bringen konnte, das hat er mit Herz getan. Er war ein Beschwörer. Oftmals hat er mir einen kleinen Geist beschworen, mit dem ich spielen konnte oder der mich begleitet hat, wenn ich mal wieder in dem unser Dorf umgebenden Wald auf Kräutersuche gegangen bin. Aber wie gesagt, das war einmal. All diese Erlebnisse sind Erinnerungen. Sie gehören der Vergangenheit an - ebenso wie die Idylle unseres Dorfes.

Eines Nachts gab es eine laute Explosion. Eine, die die Erde zum Erschüttern brachte und das ganze Dorf aus den Federn riss. Ich war damals gerade sechzehn. Für einen Magier wie mich ist das kein Alter. Großmutter hat gesagt, dass ich noch älter werden könnte als sie. Zu dem Zeitpunkt war sie schon hundertdrei Jahre alt. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es ist so lange zu leben. Der älteste Magier, von dem sie je gehört hat, wurde dreihundert Jahre alt. Das ist eine unvorstellbar lange Zeit. Aber zurück zu meiner Erzählung. Die Explosion scheuchte also das ganze Dorf auf. Meine Eltern waren unter den Ersten, die nach draußen auf die Straße liefen. Ich habe mich damit begnügt, aus dem Fenster zu sehen. Es war Jahresbeginn und dementsprechend noch recht kühl draußen. Kurzum: Ich war einfach zu faul, mich umzuziehen. Draußen kniete mein Vater sich kurz hin und beschwor einen Erdgeist, der mein Zimmer bewachen sollte. Ich erinnere mich noch gut an seinen mahnend-liebevollen Blick, als er ein letztes Mal zu mir aufgesehen hatte. Das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Sie haben ihn getötet. Meine Mutter hat mir später berichtet, dass er einer der Ersten war, die sich ihnen entgegen gestellt haben. Dafür hatte er mit seinem Leben gezahlt. Für mich war er ein Held. Sie sehen das natürlich anders. Für sie war er einer jener Hirnlosen, die ihr Leben für niedere Menschen gaben. Ja, ihr habt richtig gelesen. Niedere Menschen. In ihren Augen sollten wir Magier über die Menschen herrschen. Ich finde es absurd, denn niemand ist mehr wert, nur weil er oder sie über gewisse Eigenschaften oder Talente verfügt. Doch wie gesagt, das ist meine Meinung und die zählt hier leider nicht. Irgendwie haben sie von unserem Dorf erfahren und beschlossen, dass hier der beste Ort war, ihren Welteroberungsplan in die Tat umzusetzen. Die erste große Explosion war nur eine von vielen. In jener Nacht haben sie einen Großteil der Menschen zusammengetrieben und sie in die baufälligen Häuser am Dorfrand gesperrt. Sie haben nicht alle getötet, sondern nur die, die sich ihnen in den Weg gestellt oder sie beleidigt haben. Wer klug genug war, den Mund zu halten, wurde am Leben gelassen. Mein Vater, so heldenhaft sein Tod auch war, war in der Situation weniger klug - genau wie einige andere Magier. Sie erklärten ihn zu einem Verräter. Das hatte zur Folge, dass wir ihn nicht begraben durften. Er wurde einfach in eine Grube geworfen, mit all den anderen Opfern jener Nacht.

Danach änderte sich das Leben im Dorf dramatisch. Sie besetzten die Häuser, die ihnen gefielen und begannen, uns alle zu terrorisieren. Sie rekrutierten Magier für ihre Sache und versklavten die Menschen, sowie deren Sympathisanten. Es gab nur eine Handvoll, die sich ihnen anschloss. Ein gewisses Maß an Idiotie muss wohl in meinen Genen vorhanden sein, denn... ihr könnt sicherlich erraten, welche Seite ich gewählt habe. Von meiner Mutter kann ich diesen Anteil nicht geerbt haben, denn sie war clever genug, sich für die "richtige" Seite zu entscheiden. Dank ihres genetischen Materials wird sie nicht wie ein Mensch behandelt. Sie hat sich einen von ihnen geschnappt und erwartet demnächst mein kleines Geschwisterchen. Auch mich wird dieses Schicksal einmal ereilen, denn mein "reines" Blut dürfe nicht verschwendet werden. Einmal war ich bei einem ihrer Kupplertreffen anwesend. Ich musste ihren Anführern Getränke servieren. Zuerst wurde ich ignoriert, aber als sie das schwarze Armband sahen, das mich als Magierin ausweist, konnte ich mich vor ihren durchbohrenden Blicken nicht mehr retten. Aber bevor ich mich einem von denen freiwillig ausliefere, friert die Hölle zu. Die haben meinen Vater umgebracht! Und meine Mutter, dieses treulose Stück hat nichts Besseres zu tun als die Beine für einen von ihnen breit zu machen!

Wütend balle ich meine Hand zur Faust. Wann immer ich daran denke, könnte ich ausrasten. Mit der Hand schlage ich auf das Fensterbrett. Dabei rutscht das schwarze Armband ein kleines Stückchen meinen Arm hinauf. Hasserfüllt starre ich es an. Diese dummen Bänder haben sie jedem von uns angehängt, sobald sie uns "sortiert" hatten, wie sie es nannten. Menschen trugen ein rotes Armband. Magier mit schwächerem Magieanteil bekamen violette Bänder und alle von einem mittleren Niveau an aufwärts haben schwarze bekommen. Aber das war nicht das einzige, was sie getan hatten. Alle Roten und Violetten lebten in einem Teil des Dorfes, das seit ihrer Invasion als Ghetto gilt. Dort sieht es nicht anders aus, abgesehen von den nun ramponierten Häusern. Die Schäden kommen aber nicht von den dort Lebenden, sondern von ihnen und ihren Anhängern, die immer wieder in unser Dorf kommen und meinen, es wäre lustig, dort ihre vandalistische Seite auszuleben. Drecksäcke!

"Florence!", schallt plötzlich eine raue männliche Stimme durchs Haus.

Der wütende Ausruf lässt mich erschrocken zusammenzucken. Ich löse meine Augen von dem Anblick des Waldes und erhebe mich von meinem Stuhl. Während ich mich der Tür zuwende, streift mein Blick mein altes Jugendzimmer, das nun mehr als mein Gefängnis dient. Von der einst altersgemäßen Einrichtung ist nicht viel übrig geblieben. Vieles haben sie einfach mitgenommen, weil sie es in einem anderen Haus brauchten. Verblieben sind eine Kommode meines ehemaligen Kleiderschranks, mein Bett exklusive Nachttisch, ein kleiner Tisch und ein Stuhl. Meinen geliebten Flauscheteppich haben sie mir ebenfalls genommen. Alles in allem sieht mein Zimmer nur noch kahl und traurig aus. Jeder Funke Leben ist aus ihm gewichen - aus ihm und aus mir.

"Florence! Beeil dich, Cameron wartet nicht ewig." Dieses Mal klingt die Stimme schon wesentlich ungeduldiger.

Mit hängendem Kopf schlurfe ich zur Tür und die Treppe hinunter. Am Fuße steht ein eher kleiner Mann mit Hakennase und Ziegenbart. Der Millimeterhaarschnitt wertet sein Aussehen nicht unbedingt auf.

"Was hast du so lange dort oben gemacht?", schnauzt er mich nicht gerade freundlich an.

Meine Antwort besteht aus einem Schulterzucken. Ich habe mal wieder geträumt. Das passiert mir häufiger.

"Mach, dass du in den Wald kommst. Hier hast du eine Liste der Tränke, die du brauen sollst. Cameron begleitet dich."

Begleiten war ihr beschönigender Ausdruck für bewachen. "Ich muss zuerst im Laden vorbei und sehen, was noch dort ist", entgegne ich schnippisch und reiße ihm den Zettel mit der Liste aus der Hand.

Torben wirft mir einen bitterbösen Blick zu, hält aber zum Glück die Klappe. Ich kann seine Blicke in meinem Rücken brennen spüren, während ich auf die Haustür zuhalte und mein Elternhaus verlasse. Vor der Tür wartet ein schlaksiger Mann mit finsterem Blick. Er hat lange braune Haare, die an einigen Stellen schon anfangen zu verfilzen. Wie Torben, so trägt auch Cameron dunkle erdige Farben. Nicht nur, dass sie allesamt Verrückte sind, sie haben sogar einen eigenen Kult entwickelt. Die erdigen Töne sind den Handlangern vorbehalten, Dunkelblau, -rot und Grau sind für diejenigen mit ein wenig Befehlsgewalt und die Anführer tragen Schwarz. Wir Frauen dürfen tragen, was wir wollen. Allerdings wird es nicht gerne gesehen, wenn die Verheirateten andere Farben tragen als ihr Angetrauter. Ganz schön sexistisch, was? Nun ja, von solchen Hirnen prähistorischen Ausmaßes kann man wohl nicht allzu viel erwarten.

Ohne Cameron eines Blickes zu würdigen, stapfe ich zum Laden meiner Großmutter. Den haben sie zum Glück nicht auseinander genommen. Meine Großmutter ist die einzige, die sich wirklich mit Tränken auskennt. Sie und ich. Ihr Wissen ist im Laufe der Jahre auf mich abgefärbt. Zu meiner immensen Befriedigung kennt sich niemand von ihnen so gut mit Tränken aus wie wir beide. Das ist einer der Gründe, weshalb sie mich zwei Jahre lang in Ruhe gelassen haben. Allerdings bezweifle ich, dass das noch lange anhalten wird. Die Blicke der Anführer kommen mir wieder in den Sinn. Ugh, die waren so widerlich! Niemals werde ich einen von ihnen in meine Nähe lassen! Das wäre Verrat.

Vor dem Laden angekommen, klopfe ich einmal kurz an. Meine Großmutter bewohnt mittlerweile das Hinterzimmer. Früher wurden dort diverse Kräuter zum Trocknen gelagert. Doch seit sie ihr Häuschen beschlagnahmt haben, hat sie sonst nirgendwo eine Bleibe. Sie haben keine Verwendung mehr für sie. Einzig und allein ihre Erfahrung im Umgang mit Tränken hält sie am Leben. Zum Kinderkriegen ist sie zu alt und zu krank. Anschließen will sie sich ihnen nicht. Als sie drohten, ihren Laden zu zerstören, hat sie zugestimmt, sich aus der "Politik" herauszuhalten und sich auf ihr Geschäft zu konzentrieren.

Vorsichtig öffne ich die Tür. Prompt schlägt mir der Geruchsmix unzähliger Kräuter entgegen. Ich liebe diesen Duft. In den letzten zwei Jahren hat er mich immer wieder beruhigt. Nicht zuletzt wegen der beruhigenden Wirkung einiger Kräuter. Überraschenderweise ist es hier drinnen noch stockdunkel. Nanu, sollte Großmutter nicht bereits auf sein? Sie verkauft noch immer ihre Kräuter. Oftmals lässt sie den Menschen und Violetten heimlich ihre Mixturen zukommen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass einige ihr deswegen ihr Überleben zu verdanken haben. Aber ob das hier wirklich so ein lebenswertes Leben ist, ist zu bezweifeln. Durch unsere Lage sind wir relativ abgeschottet und seit SIE hier sind, ist es hoffnungslos. Keiner von uns bekommt die Nahrungsmittellieferanten oder Postboten zu Gesicht. Es gibt einfach keinen Weg nach draußen.

"Großmutter?"

Ich will gerade nach hinten gehen, da werde ich unsanft zurückgerissen. Cameron starrt mich finster an. "Du bist nicht hier, um nach alten Leuten zu sehen. Sieh zu, dass du die Dinge auf deiner Liste sammelst."

Am liebsten würde ich ihm jetzt den Kopf abhacken und ihn dorthin stecken, wo die Sonne niemals scheint. Leider ist er ein Mann und damit stärker als ich. Mit den Zähnen knirschend kontrolliere ich, welche Kräuter ich noch besorgen muss. Zu meiner Verwunderung befinden sich fast ausschließlich Kräutertränke auf der Liste. Nur einer der Tränke ist magisch. Alle anderen dienen eher zur Beruhigung. Eigenartig. Was sie wohl damit wollen? Schulterzuckend hake ich die Kräuter ab, die noch vorhanden sind. Das ist nicht mein Problem.

Im Wald muss ich nicht lange suchen. Sobald ich Großmutters Gewächshaus geplündert habe, gehe ich zu drei meiner Standardstellen und sammle dort die restlichen Pflanzen ein. Noch nie zuvor hatte ich es so eilig, wieder zurück ins Dorf zu kommen. Die Unsicherheit nagt an mir. Was ist bloß mit meiner Großmutter los? Warum ist sie nicht im Laden? Cameron macht irgendeine dumme Bemerkung, die ich geflissentlich ignoriere. Mich über seine Dummheit aufzuregen, gehört nun nicht gerade zu meinen Prioritäten.

Vor dem Laden werde ich noch einmal rüde zurück gerissen. "Du hast bis heute Abend Zeit. Stell keine Dummheiten an, vor der Tür stehen gleich Wachen." Mit dem Kopf ruckt er zu den beiden Gorillas, die mich mit ihren Blicken fixieren.

Genervt verdrehe ich die Augen. Ich weiß selbst, dass Fliehen zwecklos ist. Was in den letzten zwei Jahren nicht geklappt hat, wird jetzt nicht plötzlich funktionieren. Ohne ein weiteres Wort betrete ich den Laden. Zuallererst öffne ich die Vorhänge, um Licht in den Laden zu lassen. Anschließend betrete ich das Hinterzimmer. Meine Großmutter liegt noch immer im Bett. Sie sieht seltsam bleich aus. Schweiß belagert ihre Stirn und ihre Lider flattern wild hin und her. Erschrocken eile ich zu ihr. Oh, bitte nicht! Sie ist die einzige, die mir geblieben ist! Einer ausgewachsenen Panikattacke nahe, fühle ich ihren Puls und ihre Temperatur. Ich bin kein Arzt. Der einzige, den wir hatten, war menschlich. Weiter brauche ich wohl nicht auf das Thema einzugehen. Alles, was ich diagnostizieren kann, ist ein Fieber. Mit zitternden Händen eile ich in den Laden und krame dort nach ihrer Fiebertinktur. Mit ein wenig Wasser flöße ich sie ihr ein. Sämtliche Versuche, sie aufzuwecken, sind schief gegangen. Ängstlich hocke ich neben ihr. Wenn sie wirklich krank ist, kann ich ihr nicht helfen. Manche Krankheiten kann ein Körper einfach nicht selbstständig heilen. Da braucht er Hilfe. Aber was soll ich tun? Sie werden ihr ganz sicher nicht helfen, denn meine Großmutter ist nahezu wertlos. Blutlinie und Wissen sind vielleicht gut genug, um sie nicht zu töten, aber ein Arzt würde Kosten verursachen. Kosten, die niemand von uns begleichen kann. Und ich habe leider auch nichts, was ich ihnen bieten kann. Alles, was ich zu geben habe, nehmen sie sich schon. Irgendwie muss ich ja zusehen, dass ich überlebe.

Meine Großmutter gibt ein schwaches Stöhnen von sich. Scheiße! Hektisch sehe ich mich um. Mir bleibt keine andere Wahl. Nahezu kopflos stürme ich nach draußen. Kaum bin ich vor der Tür, erscheinen die Gorillas vor mir.

"Geh wieder rein!" Einer von ihnen packt mich grob am Arm.

"Nein!" Wütend trete ich nach ihm. Ich weiß nicht, ob ich mich glücklich schimpfen soll oder nicht. Einerseits ist es gut, dass er mich dank meines Treffers loslässt, andererseits ist ein wütender Gorilla, der um seine Kronjuwelen trauert nicht gerade auf die leichte Schulter zu nehmen. In der Situation selbst bleibt mir keine Zeit zum Nachdenken. Ich ergreife die Situation beim Schopf und renne so schnell ich kann auf das Haus der Verantwortlichen zu. Ich muss es dorthin schaffen!

Ich bin fast da. Mein Atem geht schwer und meine Knie drohen nachzugeben. Ich bin nur noch eine Handbreit von den Treppen entfernt, da werde ich zu Boden gerungen. Der Aufprall presst sämtliche Luft aus meinem Körper. Uff, ist der schwer. Was zur Hölle stimmt nicht mit ihm? Ist er etwa heimlich ein verfluchter Rugby-Spieler?

"Du kommst wieder mit, kleine Kröte. Erledige gefälligst deinen Job!"

Unsanft packt er mich am Kragen und schleift mich zurück zum Laden. Entschlossen vergrabe ich meine Fersen im Boden. Ich ermorde ihn mit meinem Blick, dann hole ich tief Luft und schreie so laut ich kann um Hilfe. Vor etwa einem Jahr hätte man das noch ignoriert. Bis dahin hatten nämlich noch viele versucht zu fliehen. Jetzt hingegen lag die Sache ein wenig anders. Schon nach fünf Minuten, in denen der Gorilla mit den intakten Kronjuwelen semi-erfolgreich versucht, mich von dem Platz zu zerren, fliegt die Tür zum Haus auf.

"Was ist hier los?", verlangt eine herrische Stimme zu wissen.

Augenblicklich lässt der Gorilla mich los. Ich habe nicht damit gerechnet und stolpere prompt zu Boden. Wütend starre ich den Mistkerl vor mir an. Ein Räuspern lenkt meine Aufmerksamkeit jedoch auf die allesamt in Schwarz gekleideten Anführer. Zu meiner Verwunderung befindet sich ein mir unbekanntes Gesicht in ihrer Begleitung. Der Fremde trägt dunkelblaue Jeans und einen langen schwarzen Mantel. Mehr kann ich von ihm nicht sehen, denn einer der Anführer stellt sich vor mich und packt mich am Kinn. Sein Griff ist schmerzhaft. So gerne ich ihm auch meine Meinung ins Gesicht gesagt hätte, es wäre unklug und eher kontraproduktiv. Also mime ich artig die Unterwürfige und vermeide es, ihn anzusehen.

"Warum veranstaltest du hier ein solches Theater, Mädchen? Wir hatten dir eine Aufgabe erteilt."

Entschieden reiße ich mich von ihm los. "Meine Großmutter braucht einen Arzt."

"Und warum sollten wir ihr einen Arzt holen? Sie ist alt."

Damit habe ich gerechnet. Dennoch muss ich meine Augen schließen und einmal tief durchatmen. Ich darf jetzt nicht klein beigeben, ich muss hart bleiben und kämpfen. Es geht hier um Großmutters Leben. "Ich kann nicht arbeiten, wenn die Sorge um sie mich umbringt. Mein Leben bedeutet mir nichts, wenn ich sie verliere. Ihr könnt also entweder nach einem Arzt schicken und ihr bekommt eure Tränke oder ich weigere mich und ihr geht leer aus."

Der Mann vor mir lacht dreckig. "Und warum denkst du, bist du für uns unersetzlich?"

"Weil niemand von euch so gute Tränke braut wie ich." Das Selbstbewusstsein, das aus meiner Stimme spricht, grenzt schon fast an Arroganz. Mist, ich hätte das weniger abschätzig sagen sollen. Jetzt werden sie sich ganz bestimmt nicht darauf einlassen.

Einen Moment lang ist es still, dann wird mal wieder unsanft nach mir gegriffen. Diese Grobiane! Einer der Anführer zieht mich am Arm auf die Beine. "In Ordnung. Wir schicken nach einem Arzt, damit er sich deine Großmutter einmal ansieht. Dafür hast du die Liste bis um sechs abgearbeitet, sonst wirst du die Folgen für dein nicht eingehaltenes Versprechen tragen müssen."

Angesichts der Strenge in seinen Worten, zucke ich zusammen. Ich nicke hastig, bedanke mich und flüchte zurück in den Laden. Mein Herz hämmert wie wild in meiner Brust. Puh, das war ja nochmal knapp.

Nachdem ich wieder zu Atem gekommen bin, gehe ich noch einmal in Großmutters Schlafzimmer, um nach ihr zu sehen. Ihre Augen flattern nicht mehr und die Temperatur hat sich nicht verschlimmert. Das ist gut. Hoffe ich. Ich flöße ihr noch ein wenig Wasser ein und mache mich dann an meine Arbeit. Es bringt nichts, mich nicht an meine Absprache zu halten und ihr Leben noch stärker zu gefährden. Normalerweise dürfte ein einfaches Fieber sie nicht so aus der Bahn werfen. Ihre natürliche Uhr ist durch die Ereignisse der vergangenen zwei Jahre jedoch schneller voran geschritten. Nun ist sie gebrechlich und schwach.

Nach einer Stunde ist der Arzt endlich vor Ort. Angespannt lausche ich auf jedes Geräusch aus dem Hinterzimmer. Es dauert eine ganze Weile, bis der Mann den Raum wieder verlässt. Abschätzig mustert er die ganzen Kräuter, dann verschwindet er. Ich weiß, dass er mir nichts sagen wird. Dieser Mann ist ganz dicke mit den Anführern. Auch wenn er ein Mensch ist, so wird er von ihnen geduldet. Der Grund? Die Mutter dieses Menschen hatte einen Funken Magie im Blut. Der Mistkerl sympathisiert mit ihnen. Anscheinend hält auch er sich für privilegiert. Reines Wunschdenken.

Nach einer weiteren Stunde, ich verschnüre gerade das letzte Säckchen, geht die Tür zum Laden auf und einer der Anführer erscheint im Rahmen. Da er die Sonne im Rücken hat, kann ich nicht erkennen, wer es ist.

"Wie lange brauchst du noch?"

Ich ignoriere seinen unfreundlichen Ton. "Ich bin fertig", entgegne ich so ruhig wie möglich. Meine Sorge hat mich angetrieben, die Arbeit, die ich sonst in sechs Stunden erledige, in vier hinter mich zu bringen.

"Wir sollten dir wohl häufiger Motivation zum schnelleren Arbeiten geben", kam es brummig zurück. "Komm."

Aufgeregt und angespannt folge ich dem Mann bis in ihr Haus.

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