wild (bxb)

By Cupid42hearts

228K 14.3K 1.3K

Marlon versucht ein ganz normaler Junge zu sein und ein ganz normales Leben zu führen. Er lebt bei seiner Ta... More

*Vorwort*
*(1) Ein Blick*
*(2) Schwachstelle*
*(3) Lächeln*
*(4) Abweisung*
*(5) Maske*
*(6) Fühlen*
*(7) Herausforderung*
*(8) Schreie*
*(9) Lästern*
*(10) Zuhause*
*(11) Hand*
*(12) Augen*
*(13) Verletzt*
*(14) Kontrolle*
*(15) Keine Erklärung*
*(16) Weitermachen*
*(17) Unmenschlich*
*(18) Reden*
*(19) Seiten*
*(20) Herzschläge*
*(21) Farben*
*(22) Gerechtigkeit*
*(23) Aufwachen*
*(24) Abgefuckt*
*(25) Zuhause*
*(26) Rätsel*
*(27) Ausnahme*
*(28) Frust*
*(29) Schlamm*
*(30) Lady und Lord*
*(31) Angriff*
*(32) Blut*
*(33) Gefühle*
*(34) Bleiben*
*(35) Illusion*
*(36) Verwandlung*
*(37) Beschützen*
*(38) Liebe*
*(39) - D*
*(40) Turteltauben*
*(41) Öffentlich*
*(42) Duft*
*(43) Allein zuhause*
*(44) Biest*
*(45) Urteil*
*(46) Sinn*
*(47) Ohne ihn*
*(49) Gefahr*
*(50) - D*
*(51) Davonlaufen*
*(52) Auslösen*
*(53) Mühe*
*(54) Unerwartet*
*(55) Party*
*(56) Hier bei mir*
*(57) Probleme*
*(58) Bleiben*
*(59) Reden*
*(60) Vereint*
*(61) Ärger*
*(62) Vergangenheit*
*(63) Besuch*
*(64) Gesundheit*
*(65) Provokation*
*(66) Auftritt*
*(67) Lecker*
*(68)-D*
*(69)-D*
*(70)-D*
*(71)-D*
*(72)-D*
*(73) Aufwachen*
*(74) Wissen*
*(75) Gebrochen*
*(76) Kälte*
*(77) Zurück*
*(78) Flucht*
*(80) Ignoranz*
*(81) Symptome*
*(82) Besuch*
*(83) Schnell*
*(84) Klartext*
*(85) Entscheidung*
*(86) Mächtig*
*(87) Gewinnen*
*(88) Kategorien*

*(79) Schuld*

245 25 1
By Cupid42hearts

Die einzige Person, deren Vergebung du tatsächlich brauchst, bist du selbst.

~~~

Finn und ich lagen lange auf seinem Bett und sagten gar nichts. Irgendwann rutschte er näher an mich heran und kuschelte sich an meine Schulter.

„Mir ist was aufgefallen, als du nicht mehr auf meine Nachrichten geantwortet hast."

Es klang nicht vorwurfsvoll, aber ich fühlte mich dennoch miserabel.

„Ich konnte nicht", sagte ich leise. „Tut mir leid."

„Ich wusste, dass du deine Gründe haben musst. Ich werde dir das nicht vorhalten. Es hat mich nur zum Nachdenken gebracht... Über Nick."

Ich drehte den Kopf zur Seite, konnte aber nur seinen verwuschelten Haarschopf erkennen, der an meiner Schulter lehnte, während er meinen Arm umklammert hielt.

„Mit ihm ist es anders als mit dir. Ich kenne ihn nicht so lange wie dich, aber dafür auf eine andere Art. Eine intensivere. Ich hatte das Gefühl, wir haben uns einander geöffnet. Ein Teil von dir war immer verschlossen. Deshalb hat es sich ganz anders angefühlt, dass du dich nicht mehr gemeldet hast als bei Nick. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht und ich war ein bisschen traurig, dass ich nicht für dich da sein kann, aber ich konnte mich damit abfinden. Ich wusste, dass du irgendwann wieder auf mich zukommen wirst und wir einen Weg finden, weiterzumachen. Das sind wir. Meine Beziehung zu Nick ist... war ganz anders. Der Nick, den ich kennengelernt habe, würde sich Mühe machen, Zeit für mich zu finden. Er würde mir zeigen, dass ich ihm wichtig bin. Verständnisvoll sein und ehrlich und... Nick. Dass er den Kontakt abgebrochen hat... damit hätte ich niemals gerechnet. Das passt nicht zu ihm. Und deshalb habe ich das Gefühl, ich habe mich komplett in ihm getäuscht. Ich bin ständig am Überlegen, ob ich irgendwas in ihn projiziert habe, das gar nicht da war oder ob ich ihn einfach nicht so gut kannte wie ich es mir eingebildet habe. Ich denke die ganze Zeit an ihn, male mir jeden Tag aus, dass er vielleicht ausgerechnet heute wieder vor der Schule auf mich wartet, mich abholt und wir den Tag zusammen verbringen. Wenn ich jemanden sehe, der mir gefällt, bekomme ich sofort ein schlechtes Gewissen. Ich kann niemandem nahekommen ohne an ihn zu denken. Ich glaube nicht, dass ich ohne ihn jemals wieder richtig glücklich sein kann."

„Oh Finn", hauchte ich. Er hatte so viel gesagt, mir war dabei so viel durch den Kopf gegangen und doch kam mir alles, was ich sagen könnte vor wie leere Worte. Deshalb drehte ich mich zu ihm und umarmte ihn. „Ich liebe dich."

Er schniefte an meine Brust und krallte seine Finger an meinem Rücken in mein Shirt. „Ich dich auch."

Ich ließ ihn leise in meinen Armen weinen und dachte darüber nach, was er gesagt hatte.

Dass ich damit recht gehabt hatte, dass seine Trennung von Nick ihn nach wie vor belastete, fühlte sich beschissen an. Es war wohl etwas Hoffnung in mir gewesen, dass er doch okay damit klarkam und es ihm gut gehen würde. Jetzt, wo ich wusste, dass dem nicht so war, kamen meine Zweifel über meine eigene Rolle darin wieder auf: Die Tatsache, dass ich Finn nicht von Nicks Drogen erzählt hatte.

Ich war mir schon damals nicht sicher gewesen, ob es richtig war, es nicht anzusprechen und hatte auf Damians Einschätzung seiner eigenen Familie vertraut. Eine Einschätzung, die mit der Distanz zwischen uns an Einfluss auf mich verlor.

„Ich glaube nicht, dass Nick gerade er selbst ist."

Finn versuchte den Kopf zu heben, also nahm ich meinen Arm von ihm und rollte mich auf den Rücken. Er wischte sich seine letzten Tränen weg, bevor er mich aus geröteten Augen ansah. „Hast du was mitbekommen?"

„Ist, um ehrlich zu sein, schon eine Weile her." Ich wich seinem Blick aus, schaffte es nicht, die Tränen in seinen Augen zu sehen und zu wissen, dass ich dazu beigetragen hatte, dass es so weit gekommen war. „Damian meinte, ich soll es dir nicht erzählen. Er weiß mehr als ich, aber er wollte nicht darüber reden..."

Ich seufzte, als ich merkte, dass ich um den Punkt herumredete. „Nicks Mutter hat Drogen in Damians Jacke gefunden. Seine Eltern dachten, sie gehören Damian, aber Nick hat zugegeben, dass es seine waren. Ich weiß nicht, ob er die selbst nimmt oder warum er die hat. Er hat nur gesagt, dass es seine sind, hat seine Sachen gepackt, sich bei Damian entschuldigt und ist gegangen, ohne seinen Eltern eine Erklärung abzuliefern. Wenn er sie nimmt, erklärt das vielleicht, dass er Dinge tut, die er sonst nicht getan hätte."

Finns glasige Augen weiteten sich. „Was für Drogen? Gras? Oder was Schlimmeres?"

„Irgendwelche Pillen. Welche genau weiß ich nicht."

Finn nickte verstehend, sah aber so aus, als würde in ihm unglaublich viel vor sich gehen. Als Gestaltwandler hätte ich das Riechen können. Wahrnehmen, in welche Richtung seine Gefühle gingen. Einschätzen, woran das lag. Als Mensch musste ich ihn fragen.

„Was denkst du?"

„Er hat mir erzählt, dass man bei ihm an der Uni wohl ziemlich leicht an Drogen kommt. Ich verstehe nur nicht, warum er ausgerechnet jetzt damit anfangen sollte. Er meinte immer, er hält sich von der Szene fern."

„Wäre leichter, das einzuschätzen, wenn wir wüssten, was er nimmt."

Falls er etwas nahm, um seine Konzentration oder Produktivität zu erhöhen, läge die Ursache seines Konsums wohl an Stress im Studium. Das war das, das Nicks Vater vermutet hatte.

Vielleicht brauchte er auch etwas, um runterzukommen.

Oder er hatte beim Feiern etwas eingeworfen und war dadurch abgestürzt...

„Warum meinte Damian, dass du es mir nicht sagen sollst?"

Ich dachte über meine Gespräche mit Damian zu dem Thema nach, fand aber keine zufriedenstellende Antwort. „Er hat nicht wirklich einen Grund genannt."

Finns Augenbrauen schossen nach oben. „Und das hat dir gereicht?"

Ich wünschte ich könnte mich verteidigen, aber ich wusste nicht womit. Ich hatte die Entscheidung getroffen, Finn etwas zu verheimlichen. Es stand ihm zu, mich verurteilend anzusehen. Viel mehr als das.

„Mir sind selbst genügend Gründe eingefallen."

Er schnaubte. „Wenn du jetzt sagst, du wolltest mich vor irgendetwas schützen, kicke ich dich aus dem Bett."

Wieder erkannte ich, dass ich in diesem Konflikt eine ähnliche Rolle einnahm wie meine Tante in meinem Problem mit ihr.

Ich konnte mir also vorstellen, wie Finn sich fühlte. Wie wütend er sein musste, weil jemand anderes ihm die Entscheidung verwehrt hatte, wie er mit einer Information, die wichtig für ihn war, umgehen sollte.

„Es tut mir leid. Es war nicht mein Recht, es dir zu verheimlichen."

Er sah mich einige Momente still an, schien abzuwägen, ob er sich damit zufriedengeben sollte. Schließlich seufzte er und fragte: „Sonst noch was, das du mir sagen willst?"

Ich wusste, dass er sich damit auf Nick bezog. Auf Nick oder auf irgendetwas anderes, das mit ihm zu tun hatte. Dazu hatte ich alles gesagt. Trotzdem wusch eine dunkle Welle über mein Gewissen, als ich den Kopf schüttelte.

Das Thema Gestaltwandler war etwas Anderes, redete ich mir ein. Und meine Familien-Probleme anzusprechen, würde ihn in eine Situation bringen, für mich da sein zu müssen, obwohl er gerade sauer auf mich war. Das wäre nicht fair. Also hielt ich den Mund und ließ ihn darüber nachdenken, wie er nun weiter vorgehen wollte.

Tatsächlich hatte, hierher zu kommen, auch mir geholfen. Zwar hatte ich mich nur um einen Kieselstein der Berge auf meinen Schultern erleichtert, aber über Finns Situation mit Nick nachzudenken, half mir, eine neue Perspektive auf meine Sorgen zu bekommen.

Erstens: Ich konnte Damian nicht ewig auf Distanz gehen lassen. Wenn ich ihn wollte, musste ich um ihn kämpfen. Im Gegensatz zu Finn hatte ich die Möglichkeit dazu. Damian und ich würden uns zumindest in der Schule beinahe jeden Tag sehen. Ich konnte ihn dort abfangen und mit ihm reden, wo er nicht weglaufen konnte.

Zweitens: Ich kannte den Auslöser für Damians Verhalten. Ich ahnte, was in ihm vor sich ging und ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, was ich tun konnte, um ihm nahe zu kommen. Es war nicht das erste Mal, dass er auf Distanz ging, weil er bereute, mich verletzt zu haben und sich lieber dafür fertigmachte als zu riskieren, dass ich es tat. Nicht, weil er tatsächlich glaubte, dass ich ihn fertigmachen würde, sondern weil genau das in seiner Pflegefamilie passiert war. Die Ängste, die Schuldgefühle, die Verzweiflung, die er damals, nachdem er seinen Pflegevater verletzt hatte, erlebt hatte, waren zu stark, zu überwältigend gewesen, um sie in der Vergangenheit zu lassen. Sie suchten ihn heim, immer und immer wieder. Und er steckte zu tief drin, um einen Ausweg zu finden. Wichtig war nur, ihn darauf hinzuweisen, dass nicht alles, was er gerade fühlte, auch aktuelle Emotionen waren. Viel wahrscheinlicher vermischten sie sich mit seinen Erinnerungen und den Gefühlen, die daran hingen. Wir müssten einen Weg finden, Ordnung in dieses Chaos zu bringen. All die Dinge ausmachten, für die er sich schuldig fühlte, und Stück und Stück daran arbeiten. So konnten sie ihn nicht mehr überwältigen und von ihm Besitz ergreifen.

Drittens: Vielleicht half es, meine Tante davon zu überzeugen, ehrlich zu mir zu sein, wenn ich ihr klarmachte, wie ich mich mit diesen Geheimnissen fühlte. Dass sie mich damit nicht schützte, sondern einschränkte. Dass ich ein Recht darauf hatte, selbst zu entscheiden, wie ich mit den Informationen umgehen wollte, die sie mir verschwieg.

„Ich werde mit Damian reden", beschloss Finn in meine Gedanken hinein. „Über Nick."

„Ist eine gute Idee. Ich weiß nur nicht, ob du auch etwas aus Damian rausbekommen wirst."

Finn stützte seinen Kopf auf seiner Hand ab und schaute mich unzufrieden an. „Was ist los mit ihm zurzeit? Das letzte Mal, als er mit mir geredet hat, ist zwei Wochen her. Da waren wir am Wochenende zusammen bei Rico um Krankenhaus und haben ihn... überzeugt, niemandem zu sagen, dass du es warst, der ihn so zugerichtet hat."

Mein Herz blieb für einen Moment stehen. Damian hatte mich nicht nur bei Spence untergebracht, meine Tante in sein Geheimnis eingeweiht, sondern sich auch noch darum gekümmert, mir auf rechtlicher Ebene den Rücken frei zu halten. All das während er Angst um mich gehabt hatte und während er sich schuldig gefühlt hatte. Statt sich davon lähmen zu lassen, hatte er getan, was getan werden musste.

Dass er überhaupt die Kapazitäten dafür gehabt hatte, die Beherrschung, die Kraft... Das war verdammt beeindruckend. Er hatte alles getan, was in seiner Macht gelegen war, um mir zu helfen.

Sah er das überhaupt?

„Warum hast du gezögert, bevor du überzeugt gesagt hast?", fragte ich Finn ängstlich.

Er lachte leicht und strich sich in einer überforderten Geste die Haare zurück. „Es war eventuell etwas Manipulation und vielleicht auch ein Hauch Erpressung nötig."

„Finn." Ich sah ihn entsetzt an. „Was habt ihr getan?"

„Gar nichts!", behauptete er sofort. „Wir haben nur geredet. Du kannst froh sein, dass ich dabei war. Damian hat vorgeschlagen, ihn im Schlaf mit einem Kissen zu ersticken."

„Das hätte er nicht gemacht."

Er hasste es anderen wehzutun. Er hasste sich dafür, dass er es getan hatte und dafür, dass es jederzeit wieder passieren konnte.

Allerdings hasste er sich dafür schon so lange, dass ich befürchtete, er hätte sich damit abgefunden, dass er damit Leben musste.

Finns Blick sagte eindeutig, dass es ihn nicht überrascht hätte, wenn Damian Rico etwas angetan hätte.

Ich ignorierte es.

Viel wichtiger war es herauszufinden, was genau die beiden tatsächlich getan hatten. Pläne, die nicht umgesetzt worden waren, waren erstmal nebensächlich.

„Ist Rico okay?"

Finn neigte abschätzend den Kopf hin und her. „Schwer zu sagen. Sein Arm ist gebrochen, sein halbes Gesicht war blau und sein Auge Blut unterlaufen. Aber er meinte, es sieht schlimmer aus als es ist, also." Er zuckte mit den Schultern.

„Stimmt es, dass er und Alisha-"

„Oh mein Gott, endlich! Ich dachte schon, wir reden nie darüber!"

„Also hatten sie wirklich Sex? Einvernehmlich?"

Finn nickte so wild, dass ich kurz Angst hatte, sein Kopf würde sich von seinem Hals lösen an die Decke fliegen. „Alisha hat mir alles erzählt: Sie kennt Rico schon ewig, weil Mika und Hanni seit Jahren Besties sind und ihre Familien auch mal zusammen im Urlaub waren. Alisha und Rico konnten sich aber nie leiden. Eigentlich will sie was von Hanni. Naja, sie will etwas von Hanni wollen. Für mich klang es nach einer Herz-gegen-Kopf-Sache. Ihr Kopf will Hanni, weiß, dass Hanni ihr guttun wird und mit ihm alles richtig wäre, aber ihr Herz, oder wohl eher ihre Pussy, will Rico. Sie kann sich selbst nicht erklären, wie es dazu kam, aber irgendwie haben sie schon seit ein paar Monaten was miteinander... Ach", seufzte Finn, „dieses Drama hat mich die letzten zwei Wochen am Leben gehalten."

„Merkt man."

Finn ignorierte meinen Kommentar und erzählte weiter. „Aktueller Stand ist: Alisha fühlt sich super schuldig, weil jemand verletzt wurde und Rico gibt uns die Schuld. Meint, wir mischen uns in Sachen ein, die uns nichts angehen und sie soll uns Grenzen aufzeigen. Als wären wir das Problem."

Finn tippte sich mit dem Finger an die Stirn, um zu zeigen, was er davon hielt.

„Alisha meinte, Rico ist suuuuper eifersüchtig auf uns. Er ist der Meinung, ich behaupte immer bloß mit jemandem befreundet zu sein, um mich dann an ihn oder sie ranzumachen. Sagt, das wäre meine Masche. Und dich kann er einfach nicht leiden. Dummer Penner. Kein Wunder, dass Alisha das Gefühl hatte, sie müsste sich zwischen uns und ihm entscheiden. Und kein Wunder, dass sie sich für uns entschieden hat. Dieser Typ kann nichts Anderes als mit Beleidigungen und Drohungen um sich zu werfen. Der kann nicht ernsthaft erwarten, dass er öffentlich auf uns rumhacken kann und dann heimlich mit ihr zusammen sein kann. Komplett delulu der Typ."

„Er will mit ihr zusammen sein?", fragte ich verwundert.

Nicht, weil ich nicht glauben konnte, dass jemand mit ihr zusammen sein wollte, sondern, weil ich nicht glauben konnte, dass ausgerechnet Rico mit ihr zusammen sein wollte.

Rico.

So gut wie jede von Jennys Freunden wollte war von ihm. Mit der Hälfte von ihnen hatte er auch schon was. Das brauchte er für sein Ego. Und, um ehrlich zu sein, war das wohl die einzige Art von Zuneigung, die er bekam.

Dass er etwas von Alisha wollte, ergab dem zur Folge keinen Sinn. Alisha war nicht gut darin, auf herkömmliche Art Zuneigung zu zeigen. Sie ließ sich hin und wieder schon mal kuscheln und umarmen, ließ das aber mehr über sich ergehen, als es wirklich zu genießen. Ihre Art der Zuneigung war es, uns in der Schule zu helfen, wenn sei konnte, uns vor den Klausuren Mathe beizubringen, uns vor Angriffen zu verteidigen und uns selbst anzugreifen.

Jemand, der so viel Bewunderung und Aufmerksamkeit braucht wie Rico, konnte bei ihr kaum auf seine Kosten kommen.

„Anscheinend will er es schon länger ernsthaft mit ihr versuchen, aber sie will mit niemandem zusammen sein, der ihre besten Freunde wie Scheiße behandelt", sagte Finn.

Wieder etwas, das keinen Sinn ergab. „Und, das gibt ihm keinen Grund, sich zusammen zu reißen?"

Finn zuckte mit den Schultern. „Wer weiß. Mich würde es nicht wundern, wenn er einfach nur versucht, einen Keil zwischen uns zu treiben."

„Mh", machte ich nachdenklich.

Dass Rico nur mit Alisha spielte, konnten wir nicht ausschließen. Aber würde er wirklich riskieren, seinen Bruder zu verletzen, nur um uns auseinanderzureißen?

Wir hatten nie etwas getan, das einen solch blinden Hass rechtfertigen könnte.

Rico war schon immer ein Arschloch gewesen, das auf Kosten anderer Anerkennung gesucht hatte. Finns Outing hatte ihm geholfen, im Kreise unseres alten Teams ein Feindbild zu erschaffen, dem er sich als starker Retter gegenüberstellen konnte. Dadurch hatte er im Basketball eine Gruppe von Idioten geformt, die ihm nur so aus der Hand fraßen, solange er ihren genug Gründe bot, sich unter ihm zu vereinen.

Dabei ging es um Aufmerksamkeit, Status und Macht. Das erklärte, warum er, besonders als seine Position sich erst etabliert hatte, immer auf uns herumgehackt hatte. Es erklärte ebenso ein konstantes Level an Feindseligkeit uns gegenüber, das seine Position fütterte.

Damit waren alle Aktionen gegen uns erklärt. Jede Beleidigung, jede Erniedrigung, jedes gestellte Bein, jeden Schubser auf dem Schulflur...

Das erklärte allerdings nicht seine finsteren Blicke und eine Feindseligkeit, die tiefer ging als ein bloßes Schauspiel, um seine Komplexe zu kompensieren.

Diese Feindseligkeit war anscheinend als Eifersucht. Rico war eifersüchtig auf Finn und mich. Wahrscheinlich hatte er gar nichts gegen uns persönlich. Vor Finns Outing und bevor wir uns mit Alisha angefreundet hatten, hatten wir uns immerhin gut mit Rico verstanden. Er sah es einfach nicht gern, dass wir jeden Tag viele Stunden mit Alisha verbrachten. Dass wir mit ihr redeten und diskutierten und lachten.

„Wenn er echt Gefühle für sie hat, kann ich ihm nicht übelnehmen, dass es ihn stört, wie nahe wir Alisha sind", überlegte ich. „Wir gehen auch anders miteinander rum, seit wir Nick und Damian kennengelernt haben."

„Das ist etwas komplett anders", stellte Finn klar. „Rico hat kein Recht, eifersüchtig zu sein. Er stellt einfach nur Ansprüche, ohne etwas zurück zu geben."

„Du kannst ihm nicht seine Gefühle absprechen, weil du findest, sie stehen ihm nicht zu, Finn. Wenn er eifersüchtig ist, ist er eifersüchtig. Egal, ob das berechtigt ist oder nicht."

Mein bester Freund schnaubte. „Ich meine bloß, er hatte es selbst in der Hand, ob er uns aus der Ferne beobachten und eifersüchtig sein muss. Alles, was Alisha von ihm wollte, war, dass er keinen Streit mit uns sucht. Versetz dich mal in ihre Lage. Wie hätte sie uns bitte erzählen sollen, dass sie was mit dem Typen hat, der mich jeden Tag runtermacht? Ganz ehrlich? Ich hätte sie zum Teufel gejagt. Selbst jetzt, wo ich weiß, dass sie sich gegen ihn entschieden hat, tut die Vorstellung, dass sie überhaupt in Betracht gezogen hat, ihm nahe zu kommen, weh."

Gegen Ende begann seine Stimme zu zittern. Er schluckte und wich meinem Blick aus. „Ich würde ihr kein Ultimatum stellen, aber ich weiß auch nicht, ob ich noch mit ihr befreundet sein könnte, wenn sie mit ihm zusammenkommt, ohne, dass er aufhört, mir das Leben zur Hölle zu machen. Damit signalisiert sie ihm nur, dass es okay ist, was er macht. Und, wenn sie das findet, dann... Dann..."

„Dann ist sie keine Freundin?"

Er nickte, presste dabei die Lippen zusammen und schniefte leicht.

„Finn..." Ich rutschte zu ihm und nahm ihn wieder in den Arm.

„Wieso bin ich so eine Provokation?", nuschelte er an meine Brust. „Ich habe das Gefühl, egal, was ich mache, egal, wie ich versuche zu sein, ich provoziere immer irgendwen. Es gibt immer jemanden, der etwas an mir findet, das er hasst. Warum kann ich nicht einfach jemand sein, den man mag?"

„Das bist du." Ich drückte ihn fest, wollte jeden schlechten Gedanken über sich selbst aus ihm pressen. „Du bist toll so wie du bist. Ich würde dich nicht anders haben wollen."

„Manchmal will ich einfach unsichtbar sein. Oder komplett weg."

„Ich würde dich vermissen", sagte ich und legte meine Arme enger um ihn.

„Marlon", hauchte er. Seine Hand an meinem Rücken zog an meinem Shirt. Ich sah es als Zeichen, ihn fester zu halten und verstärkte meinen Griff.

„Mar-" Seine Hand, die sich eben noch in mein Obersteil gekrallt hatte, schlug auf meinen Rücken.

„Was ist los?" Ich lockerte meinen Griff um ihn und bewegte den Kopf zurück, um ihn anzusehen.

Er schnappte sofort nach Luft und rollte sich mit einem schmerzerfüllten Stöhnen auf den Rücken. „Wolltest du mich umbringen?"

„Was?"

Finn hustete, verzog sein Gesicht und rieb sich über den Arm, die Stelle, die ich zwischen meinem Oberkörper und meinem Ellenbogen eingekeilt hatte. „Wenn du mich ersticken willst, dann fick mich und choke mich dabei. Durch eine Umarmung sterben ist nicht unter meinen Top 10."

„Ich... ich wollte nicht-"

Ich streckte meine Hand nach ihm aus, belehrte mich aber eines Besseren und zog sie zurück, bevor ich ihn berühren konnte.

In jedem anderen Moment hätte ich es als Versehen interpretiert. So kurz nach meiner abgewandten Verwandlung jedoch, sah ich meine unterschätzte Kraft als Warnzeichen.


Continue Reading

You'll Also Like

176K 7K 28
Jonas hatte es in seinen 15 Lebensjahren nicht immer leicht. Sein Vater ließ ihn und seine Mutter, als er 5 Jahre alt war, sitzen. Seit dem ist sie 2...
5.1K 413 47
Als Kind mit göttlichen Wurzeln hatte ich es nicht immer leicht. Aber viel schlimmer war daran, dass sie mich nicht mochten. Mein Vater war der "Ba...
303K 12.1K 36
Jace Jones. Der Anführer einer kriminellen Organisation. Eines Tages beschloss er einen obdachlosen Jungen unter seine Fittiche zu nehmen. Doch bald...
800K 45.4K 77
"In dieser Welt wird alles von ,der Regierung gezüchteten, Begabungen gelenkt. Es ist dein Beruf, dein Ausweis, ja sogar deine Beziehung. Und nun st...