Neonlight Shadows - Aufbruch

By Bobby_Andrews

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|SHORTLIST ONC 2024| |DYSTOPIE| Im Schatten der glitzernden Neonlichter von Nightvale, der letzten Festung de... More

Vorwort
Prolog
1 | In the Shadows
2 | Nex-On Industries
3 | Im Labor von Med-On
4 | Wo das Neonlicht Schatten wirft
5 | Inferno
6 | Küchentischgespräche
7 | Spiel mit dem Feuer
8 | Der geheime Pakt
9 | Der Bug im System
10 | Netz-Werken
11 | Im Untergrund
12 | Spiel im Schatten
13 | Klärende Gespräche
14 | In letzter Sekunde
15 | Abhörsicher
16 | Der unbekannte Soldat
17 | Die Demonstration
19 | Muttergefühle
20 | Auf welcher Seite wirst du stehen?
Epilog
Asthetics und Charaktersammlung
Nachwort
Hörprobe

18 | Elsie

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By Bobby_Andrews

„Wie können diesen Menschen nur hier unten leben?", fragte Julien besorgt, als sie erneut über einen Berg aus Müll klettern mussten, der den Weg zu dem Quartier versperrte, zu dem sie seit ein paar Minuten unterwegs waren.

„Sie haben ja keine andere Wahl!", antwortete Aria mit einem Anflug von Verzweiflung in ihrer Stimme. Der Doktor hatte anscheinend keine genaue Vorstellung davon gehabt, wie schlimm die Umstände hier unten wirklich waren. Wahrscheinlich musste man es mit eigenen Augen sehen, um es zu begreifen. Damit man die Augen nicht mehr davor verschließen konnte.

„Du sagtest, dass du mich zu deinen Schützlingen mitnehmen wolltest. Wen besuchen wir?", fragte Julien, als er sich duckte, um unter einer gespannten Wäscheleine hindurchzukriechen.

„Eine junge Familie mit zwei Kindern", erklärte Aria und deutete ihrem Freund, nicht in das Rinnsal in der Mitte des Weges zu treten. „Willai ist fünf Jahre alt und Elsie sechs Monate. Dem Jungen geht es unter den schlechten Umständen noch einigermaßen gut, aber um Elsie mache ich mir große Sorgen. Ich fürchte, sie wird es hier unten nicht lange überleben."

„Hast du schon mit ihren Eltern gesprochen?" Juliens Stimme klang dabei sanft und voller Mitgefühl. Aria wunderte sich nicht, dass er Arzt geworden war. Er hatte ein gutes Herz und ein mindestens ebenso großes Bedürfnis zu helfen, wie sie selbst.

„Ich habe gestern mit ihrer Mutter gesprochen und ihr einen Tag Bedenkzeit gegeben", erklärte Aria. Dann seufzte sie laut. „Ich hoffe, sie hat mit ihrem Mann darüber geredet und sie treffen die richtige Entscheidung."

Julien schloss zu Aria auf, legte ihr einen Arm um die Schulter und sah sie durchdringend an. Im Schein der schwachen Glühbirne meinte er trotz des Dämmerlichts einen feuchten Glanz in ihren Augen zu erkennen. „Wo willst du sie hinbringen, wenn sie uns erlauben, sie mitzunehmen?"

„Hauptsache weg von hier", flüsterte Aria mit brüchiger Stimme und sah dann zu dem provisorischen Zelt hinüber, in dem die Familie hauste.

„Dort ist es", sagte sie und zeigte auf den Verschlag. „Wenn du willst, kannst du ohne mich hineingehen und dir selbst ein Bild von der Situation machen."

Julien schüttelte den Kopf. „Ich vertraue dir da voll und ganz. Wenn du sagst, dass das Baby hier nicht bleiben kann, werde ich dich unterstützen. Wir werden schon einen Weg finden, da bin ich mir sicher." Juliens Worte erleichterten das Herz der jungen Ärztin und sie nickte. Auch wenn sie immer wieder gezögert hatte, sie glaubte nun, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, als sie Julien mit in den Untergrund genommen hatte.
Gemeinsam konnte es ihnen vielleicht gelingen, ein Menschenleben zu retten.

Als Aria nach ihrer gewohnten Begrüßung den Vorhang beiseiteschob, spürte sie gleich, dass etwas nicht in Ordnung war. Statt der jungen Mutter begrüßte sie der Junge, und ein Mann kam auf sie zu. In seinem Gesicht konnte sie Ärger und Wut erkennen. Trotz seiner Jugend bildeten sich bereits erste Falten auf seiner Stirn und seinen eingefallenen Wangen.
„Bist du die Ärztin, die meiner Frau erzählt hat, dass unsere Tochter sterben wird!", fragte er voller Anklage.

Aria schluckte. Sie ahnte, dass der Mann sehr wütend auf sie war. Vermutlich hatte seine Frau ihm den vernünftigen Vorschlag in ihrer emotionalen Art erzählt, und Aria musste annehmen, dass er nicht begeistert davon war, was Aria empfohlen hatte. Dennoch wusste sie, dass sie recht hatte, und so straffte sie ihre Schultern und machte sich ein wenig größer. Es war nicht ihre Aufgabe, bei den Erwachsenen Händchen zu halten. Sie verstand ja, dass diese Entscheidung die wahrscheinlich schwerste in ihrem Leben sein würde. Und sie wünschte sich nichts mehr, als diesen Leuten zu sagen, dass alles gut werden würde. Dass Elsie nur ein wenig mehr Zeit brauchte, um an Gewicht zuzulegen und ein paar Vitamine, um nicht an einer Krankheit wie Schnupfen oder Husten zu sterben.

Aber Aria war nicht hier, um denen, die ein menschliches Lebewesen in die Welt gesetzt hatten und damit die Verantwortung übernommen hatten sich um es zu kümmern, und immer die besten Entscheidungen für dieses Lebewesen zu treffen, Honig ums Maul zu schmieren. Sie war es, der die undankbare Aufgabe zuteilgeworden war, ihnen die unverblümte Wahrheit zu sagen. Und diese Wahrheit war bitter. Sie tat weh. Sie tat selbst Aria so weh, dass sie einen dicken Kloß im Hals hatte und die Worte, die so dringend aus ihr herausmussten, nicht sagen konnte, weil sie dann selbst in Tränen ausgebrochen wäre.

Plötzlich spürte sie eine starke Hand in der Mitte ihrer Schulterblätter. „Wenn ich mich kurz vorstellen dürfte", hörte sie Juliens vertraute, sanfte Stimme und sah aus dem Augenwinkel, wie er seine große, starke Hand nach der des Mannes ausgestreckte, der immer noch wütend und verzweifelt vor ihnen stand. „Mein Name ist Doktor Julien und ich arbeite mit Doktor Aria schon viele Jahre zusammen. Sie hat mich gebeten, mir Elsie einmal anzuschauen, um eine zweite Meinung zu haben. Wenn Sie erlauben."

Der Vater blickte ein paar Mal zwischen Julien und Aria hin und her, bis er schließlich nickte. Er trat einen Schritt beiseite und gab die Sicht auf das Bettchen frei, in dem das kleine Mädchen noch immer schweigend lag. Wahrscheinlich hatte sie längst aufgehört zu weinen und zu rufen, da ja doch keine Nahrung den Weg in ihren Mund fand.

Julien näherte sich dem Kind und hockte sich daneben, während der kleine Willai Schutz bei seinem Vater suchte. Auch er hatte Angst um seine kleine Schwester, das war ihm deutlich anzusehen. Während der Arzt das Mädchen untersuchte, setzte sich Aria neben den Jungen und öffnete ihren Rucksack. Dann flüsterte sie ihm verschwörerisch zu: „Ich habe dir etwas mitgebracht."

Umständlich holte sie aus den Tiefen ihres Rucksacks einen Traubenzucker-Lolli heraus. Mit flinken Fingern zauberte sie die Süßigkeit hinter dem Ohr des Jungen hervor. Seine Augen wurden kurz groß, dann blickte er zu seinem Vater hinauf, der es tatsächlich schaffte zu lächeln und somit dem Jungen zu erlauben, den Lolli zu essen.

Während Willai sich in eine Ecke verkroch und genüsslich an dem Zuckerding leckte, sah Aria sich um. „Darf ich fragen, wo Ihre Frau ist? Ist sie gar nicht hier?" Aria fragte aus purem Interesse, doch ihre Worte trafen den Mann härter, als sie geahnt hatte.

„Sie ist heute Morgen losgezogen, um Lebensmittel zu holen. Da unten nichts mehr ist, ist sie an die Oberfläche gegangen und wollte sich etwas in einem Versorgungsmarkt besorgen." Aria blickte erstaunt, und der Mann begann plötzlich zu lachen. „Wir haben natürlich kein Geld", brachte er hervor und schaute etwas in der Gegend herum. „Sie wird sicherlich nicht mit dem Vorsatz dorthin gegangen sein, für die Ware zu bezahlen. Da sie immer noch nicht zurück ist, befürchte ich das Schlimmste. Ich hätte sie aufgehalten, aber sie hat nur diesen Brief dagelassen."

Er zeigte mit spitzen Fingern auf ein über und über beschriebenes Blatt Papier, dessen Farbe an einigen Stellen schon arg in Mitleidenschaft gezogen war und das viele Risse und Falten aufwies. Es hatte ganz den Anschein, als wäre es immer und immer wieder benutzt worden, um ja nichts zu verschwenden.

„Sie wird bestimmt bald wiederkommen", versuchte Aria, den Mann zu trösten. Doch er schüttelte den Kopf.

„Sie wäre längst wieder hier, wenn sie Erfolg gehabt hätte. Wir haben das schon oft erlebt. Einige von ihnen landen im Gefängnis und kehren nie wieder zurück."

„Entschuldigen Sie", sagte Julien plötzlich und unterbrach ihr Gespräch, während er den Vater mit ernstem Gesicht ansah. „Ihrer Tochter geht es wirklich sehr schlecht. Ich befürchte, dass ich die Diagnose meiner Kollegin nur bestätigen kann. Sie sollte dringend mit uns mitkommen, damit wir uns um sie kümmern können. Andernfalls werden Sie bald mehr als nur Ihre Frau verlieren."

Aria atmete flach, als sie sich umdrehte und dem kleinen Willai zuwandte, der immer noch an seinem Traubenzucker-Lolli lutschte, in der Hoffnung, dass er niemals leer gehen würde. Sie konnte dem Vater nicht länger ins Gesicht blicken. Stumm liefen bereits die ersten Tränen über seine eingefallenen Wangen und tropften zu seinen Füßen auf den schmutzigen Boden.

Julien würde sich darum kümmern müssen, den Vater zu überzeugen, das Baby mitzunehmen. Nun, da sie wusste, dass die Mutter vielleicht nie zurückkehren würde, war es ohnehin das Beste für Elsie, nicht hier unten zu bleiben. Und nicht nur für sie, sondern für alle, die hier wohnten. Der Vater musste bald zurück in die Fabrik und für seinen Sohn und sich sorgen können. Wer würde sich dann um das Baby kümmern?

„Hey Willai", flüsterte Aria, und der kleine Junge schenkte ihr seine Aufmerksamkeit. „Was hältst du davon, wenn wir uns eine Weile um deine Schwester kümmern, damit es ihr wieder besser geht?"

Willai schaute Aria mit großen Augen an. „Ihr wollt Elsie mitnehmen?"

„Wir würden ihr etwas zu essen geben. Sie könnte in einem richtigen Bett schlafen und nicht mehr in diesem Schuhkarton. Du könntest sie besuchen, wenn es ihr wieder besser geht, und noch ein paar Traubenzucker-Lollis haben."

Kaum zwei Sekunden nachdem Aria diese Worte ausgesprochen hatte, fühlte sie sich ein bisschen schlecht. Man hatte ihr doch als Kind immer eingeredet, man solle sich von Fremden nicht mit Süßigkeiten kaufen lassen. Im Moment schien es ihr aber herzlich, wenn Willai ihr Angebot vielleicht nur deshalb annahm, weil er etwas Süßes erwartete. Sie musste an die Gesundheit seiner Schwester denken.

„Wenn ich sie besuche, darf ich dann auch mal nach oben?", fragte er höchst interessiert und blickte dann zur niedrigen Zimmerdecke hinauf. Aria schluckte. Wahrscheinlich hatte Willai noch nie das Tageslicht gesehen. Was hatten seine Eltern ihm wohl über die Stadt über dem Untergrund erzählt? Dass man von goldenen Tellern aß und jeden Tag genug zu essen hatte?

„Ich kann dir meine Wohnung zeigen", lockte sie ihn. „Sie ist nicht sehr groß, aber ich habe einen wirklich niedlichen Teddybär, den ich dir gerne zeigen würde."

„Ich habe auch einen Teddybären", platzte er plötzlich heraus. „Er heißt Bruno", fügte er stolz hinzu und suchte unter seiner Decke nach dem Kuscheltier. Mit stolz erhobenem Arm hielt er ihn ihr entgegen.

„Hallo Bruno", sagte Aria freundlich und schüttelte dem Teddybären, der nur noch entfernt an einen Bären erinnerte, weil er offensichtlich sehr intensiv geliebt und abgekuschelt wurde, die Pfote.

„Bruno ist ein Braunbär, hat Mama gesagt", erzählte Willai stolz.

„Das stimmt", nickte Aria. „Deine Mama kennt sich wohl gut aus mit Bären."

„Meine Mama ist sehr schlau", bestätigte der Junge. Aria zögerte einen Moment. Eigentlich wollte sie den Jungen gar nicht in die Entscheidung mit hineinziehen. Sie wusste jedoch auch, dass auch schon ein Fünfjähriger durchaus kluge Entscheidungen treffen konnte. Manche Menschen in diesem Alter waren sehr viel schlauer, als man ihnen zutraute – manchmal sogar schlauer als Erwachsene.

„Sag mal, hat deine Mama noch etwas gesagt, bevor sie heute Morgen losging?"
Willai nickte traurig. „Ja."
„Magst du mir sagen, was es war?"
„Sie hat gesagt..." Willai schaute traurig zu Boden. Er schien zu wissen, dass seine Antwort eine Entscheidung nach sich ziehen würde und überlegte kurz, ob er für die Konsequenzen bereit war. „Sie hat gesagt: ‚Wenn ich nicht wiederkomme, soll Elsie mit Aria gehen.'"

Aria spürte ihre Augen warm werden und blinzelte die aufkommenden Tränen weg. Aus einem Impuls heraus öffnete sie ihre Arme, und tatsächlich ließ sich der Junge auf diese Geste ein und drückte sich fest an sie.
„Ich darf sie ganz sicher besuchen?", hauchte er leise an ihrem Ohr, als könnten laute Worte den Gedanken verscheuchen.

„Aber natürlich!" Aria drückte den Jungen noch einmal fest, dann schob sie ihn ein wenig von sich und sah ihm tief in die Augen. „Weißt du, dass du richtig stark bist? So wie Balu, der Bär!"

„Wer ist Balu?" Willai schien neugierig und bereit, sich von Aria ablenken zu lassen. Also schmunzelte sie verschwörerisch.

„Balu war ein Bär, der in einem Dschungel gelebt hat. In dem Dschungel gab es viele Gefahren, und ein kleiner Mensch hatte sich dorthin verirrt. Viele Jahre hat er im Dschungel gelebt, doch irgendwann wurde es dort für ihn zu gefährlich, denn ein böser Tiger war zurückgekehrt und wollte ihn töten. Aber Balu der Bär hat ihn beschützt und zu einer Menschen-Siedlung gebracht, wo er sicher war. Und wenn die beiden sich danach sehen wollten, trafen sie sich am Rande des Urwalds und verbrachten Zeit miteinander."

„Du meinst, hier, wo wir leben, ist ein gefährlicher Urwald? Und Elsie muss in diese Siedlung, damit sie nicht mehr in Gefahr ist?"

„Du bist ja mindestens genauso schlau wie deine Mama", lobte die Ärztin und strich liebevoll über den Kopf des Jungen.
Willai lächelte und stand auf. Mit hoch erhobenem Kopf ging er zu seinem Vater, der noch immer mit Julien diskutierte. Vorsichtig zog er ihn an der zerschlissenen Hose, bis er ihm seine Aufmerksamkeit schenkte.

„Papa", sagte er, „ich bin vielleicht nicht so klug wie du oder Mama. Aber ich glaube, dass es Elsie oben besser gehen wird als hier. Wir sollten sie in Sicherheit bringen."

Aria lächelte, berührt über den Mut und die Stärke, die der kleine Junge zeigte. Ihr Blick wanderte zu Julien, denn das Schauspiel schien auch ihn nicht kaltzulassen. Wahrscheinlich hatte er gerade mit sachlichen Argumenten versucht, den Vater zu überzeugen. Doch was er nicht geschafft hatte, vermochte der Junge zu tun. Der Vater seufzte und nahm seinen Jungen dann auf den Arm.

Die folgenden Worte kamen nur sehr leise über seine Lippen: „Nehmt sie mit."

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