Ella - Die Stille nach dem St...

By sibelcaffrey

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"Du kannst versuchen es zu leugnen, dich zu widersetzen und mich von dir fern zu halten. Ich werde aber nicht... More

Prolog
1. In der Zeit gefangen
2. Der Herr des Hauses
3. Retterin in der Not
4. Die neue Krankenschwester
5. Tatsächlich Zigeunerin?
6. Schlaflose Nacht
7. Gebrochen - Teil 1
8. Gebrochen - Teil 2
9. Der leise Held
10. Der Ball
11. Nass im Regen
12. Der Brief an die Öffentlichkeit
13. Der Verehrer
14. Mi Casa Es Su Casa - Teil 1
15. Mi Casa Es Su Casa - Teil 2
16. Erschwerungen
17. Im Mondschein
18. Rendez-vous mit dem guten Freund
19. provokative Provokation
20. Nathan Kurt
21. Der Kampf - Teil 1
22. Der Kampf - Teil 2
23. Heimweh Teil 1
24. Heimweh Teil 2
25. Wie Du mir, so ich Dir
26. Neues kommt, Altes geht
27. Unerwartete Gäste
28. Du und ich
29. Alles findet seinen Platz
30. Wettlauf gegen die Zeit
31. Alles oder Nichts
32. Schicksal
33. Das Erwachen
34. Prinzipien, welche?
36. Liebe, der Zeit zum Trotz
37. Blick in die Zukunft (ENDE)
Epilog
FORTSETZUNG

35. Die Zeit rückt näher

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By sibelcaffrey

Ich öffnete die Augen.

Grelle, weiße Sonnenstrahlen schienen in das Schlafzimmer, direkt in meine Augen. Schmerzverzerrt schloss ich sie schnell wieder und drehte mich auf die andere Seite. Mein Bett war kuschelig warm. Am liebsten wär ich hier geblieben. Aber der Druck an meinen Schläfen zwang mich aufzuwachen. Ich erinnerte mich an das Alkohol, das in meinem Blut rauschte.

Nie wieder, versprach ich mir, während ich müde aufstöhnte. Es pochte unerträglich in meinem Kopf. Weiter liegen zu bleiben, wär nur eine Qual gewesen. Widerwillig setzte ich mich auf, ohne meine Augen zu öffnen und warf die Beine über die Bettkante. Dort versuchte ich erstmal zu mir zu kommen. Langsam öffnete ich wieder die Augen. Ich musste mehrmals blinzeln, um mich an das helle Licht im Zimmer zu gewöhnen. Ich fasste mir an die Stirn und drückte meine Handfläche gegen die schmerzende Stelle.

Fast beiläufig schaute ich rüber zur Uhr.

12:42 Uhr

„Was?!", stieß ich überrascht aus. Niemals habe ich so lange geschlafen!

Was war nur in mich gefahren?

Ich brauchte einen Moment um mich zu sammeln. Was war geschehen?

Erinnerungsfetzen von letzter Nacht drangen in mein Bewusstsein. Rosalie in Männerklamotten vor meiner Wohnungstür, wirre Geschichten über Zeitreisen und Stürme sowie die Konsequenzen, die ich nun tragen musste. Ich seufzte erschöpft und massierte mir die Nasenwurzel, als ich mich an weitere Dinge erinnerte.

Nathan.

Mich traf es wie ein Blitz, als mir mit einem Mal einfiel, dass er bei mir übernachtet hatte. Ich wirbelte herum und sah auf die andere Bettseite rüber.

Leer.

Wie erstarrt blickte ich einen Augenblick auf die aufgeschlagene Bettdecke. Er war weg. Nicht da. Ich fasste mir an die schmerzende Stirn und stöhnte fassungslos. Ich hatte verschlafen und er war gegangen. Weder der Abend noch der Morgen verlief so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es war für ihn vermutlich die reinste Folter gewesen seine Zeit mit Rumliegen zu verschwenden. Wer weiß, wie lange er gewartet haben musste... und ich war nicht aufgewacht. Ich stöhnte erneut auf und drehte mich wieder um. Das konnte doch nicht wahr sein.

Ich stand auf und sah erst dann an mir herab. Nach wie vor trug ich nur das Korsett und das Nachthemd. Ob Nathan mich ein letztes Mal angesehen hatte, bevor er gegangen war? Ich schüttelte den Kopf und warf mir den Morgenmantel über. Ich schlang ihn mir um die Mitte und ging gähnend aus dem Schlafzimmer.

Auf dem Weg in die Küche fiel mein Blick auf ein Stück Papier auf meinem Esstisch. Überrascht ging ich drauf zu und hob es hoch.

"Danke für die Nacht. Ich habe lange nicht mehr so tief geschlafen.

- Nathan.

PS: Wir fangen sofort mit den Hochzeitsvorbereitungen an. Ich kann nicht mehr warten."

Ein Lächeln bildete sich auf meinen Lippen, das sich zu einem breiten Grinsen entwickelte. Ich las mir die Nachricht nochmal und nochmal durch. Ein Kichern entwich mir, das ich nicht unterdrücken konnte. Ich tänzelte idiotisch vor mich hin, als es plötzlich an der Tür klopfte.

Ich blieb abrupt stehen und horchte für eine Sekunde hin. Als ich nicht sofort reagierte, klopfte es erneut. Ich legte das Papier beiseite und zog die Schnüre meines Morgenmantels fester um meine Mitte, ehe ich zur Tür ging. "Wer ist da?"

"Wir sind es, Marie und Hilde.", drang eine weibliche Stimme durch die Tür.

Überrascht hob ich die Augenbrauen. War meine Wohnung inzwischen ein Treffpunkt für alle Bediensteten aus dem Anwesen geworden? Den Anschein machte es jedenfalls.
Ich öffnete die Tür. Die beiden knicksten leicht zur Begrüßung.

Sie knicksten mit den Knien, als wär ich eine Adlige.

Unbehaglich zupfte ich den Morgenmantel zurecht. "Ihr braucht nicht in die Knie zu gehen."

Die beiden sahen sich kurz überrascht an, aber erwiderten nichts.

"Warum seid ihr gekommen?", hakte ich nach.

"Wir sind auf Geheißen von Mr. Kurt hier. Wir sollen dich in die Stadt begleiten.", erklärte Marie, "Damit du dir Brautkleider ansehen kannst."

Ich hob verblüfft die Augenbrauen. Was?!

Wenn Nathan sagte, dass wir sofort mit den Vorbereitungen anfangen sollten, dann meinte er auch sofort.

"Äh, ja, in Ordnung.", stammelte ich überfordert, "Ich muss mich nur kurz umziehen, dann können wir los."

Marie sah an mir hinab und schien sich ein Schmunzeln zu unterdrücken. Es war ihr anzusehen, dass sie gerne einen Scherz machen wollte, sich den aber lieber verkniff. Sie scherzte häufiger herum und lockerte damit immer die Stimmung auf. Aber seit der Verkündung der Verlobung habe ich keinen Witz mehr über ihre Lippen sagen hören, was ich sehr schade fand. Denn ich mochte ihren Humor und genoß ihre Gesellschaft.

Aber ich wusste, dass sie wie die anderen Bedienstete lieber keinen falschen Kommentar abgeben wollten - jetzt, wo Nathan und ich ganz offensichtlich heiraten würden. Dabei war das gar nicht nötig. Ich hatte nicht vor Nathans Spion zu werden und die Bediensteten zu verpetzen, wenn sie sich nicht benahmen. Ganz im Gegenteil, vermutlich würde ich sogar mitmachen.

Ich zog mich mit schnellen Handgriffen um und kämmte mir mit den Fingern kurz die Haare, ehe ich nach einem kurzen Blick in den Spiegel wieder an die Tür trat. Die beiden hatten sich keinen Zentimeter bewegt. Auch kein Wort hatten sie gesagt. Ich presste die Lippen zusammen bei der angespannten Stimmung zwischen uns.

"Wir können los.", stieß ich hervor und zog mir den Mantel über.

Unten vor der Tür wartete Schmidt an der Kutsche. Es wunderte mich nicht, dass der Sekretär als männliche Begleitung dabei sein musste - seine Anwesenheit war ich inzwischen ziemlich gewohnt gewesen. Ihm war es allerdings anzusehen, wie ungerne er dabei war. Dennoch sagte er nichts, als wir in die Kutsche stiegen.

Wir fuhren gemeinsam zur Stadt und klapperten ein Geschäft nach dem anderen ab.

Während wir durch die Straßen schlenderten, sagten die Mädels die ganze Zeit über kaum ein Wort und waren furchtbar versteift. Sie stimmten mir immer nur zu, wenn ich nach ihrer Meinung fragte. Sie wagten es gar nicht mir zu widersprechen. Ich hasste die verklemmte und zurückhaltende Art. Da waren Schmidts trockene Bemerkungen immer ein Segen. Es lockerte spürbar die Stimmung auf, ohne dass er überhaupt ahnte, was er da tat. Er wollte nur seine Kommentare ablassen - und ich war ihm zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, dankbar dafür.

Wir waren in ein Geschäft getreten und ich ließ mir von der Verkäuferin einige Brautkleider zeigen, als ich die angespannte Stimmung nicht mehr ertrug. Die Verkäuferin ging nach meiner Größe schauen, als ich die Gelegenheit nutzte, mich an die Mädels zu wenden. „Leute, ich bin immer noch dieselbe Ella. Könnt ihr bitte aufhören so zu tun, als würde ich eine Waffe auf euch halten."

Marie und Hilde hatten mich überfordert angesehen und warfen sich gegenseitig einen Blick zu. "W-Was meinst du denn?"

"Diese übertriebene Höflichkeit von euch.", sagte ich mit hochgezogenen Augenbrauen, "Könnt ihr bitte etwas lockerer werden! Ich flehe euch an. Das ist nicht auszuhalten."

Marie zögerte sichtlich. „Aber du bist bald Mrs Kurt. Es gehört sich nicht."

„Auch nicht, wenn ich es explizit von euch verlange?"

Sie schluckten verängstigt. „Was würde Mr Kurt sagen?"

„Das ist doch egal. Er würde nichts sagen - und selbst wenn doch, dann würde ich mit ihm sprechen. Ich will nämlich, dass wir auf Augenhöhe miteinander sprechen. Wir sind doch Freunde."

Marie sah mich mit großen Augen an.

„Denkst du wirklich so?", fragte Hilde verlegen.

Ich nickte. „Natürlich. Es wird sich nichts ändern. Ich will nicht, dass sich etwas ändert. Ich habe euch gern und werde euch nicht wie irgendwelche Diener behandeln. Für mich seid ihr mehr."

Ungläubig fielen ihnen die Münder auf. Daraufhin wussten sie gar nicht, was sie sagen sollten.

Vermutlich hätte jede andere in meiner Position die Verlobung schamlos ausgenutzt. Daher schienen sie völlig sprachlos zu sein.

Ich hatte erstmals das Gefühl Marie und Hilde für mich gewonnen zu haben. Ich merkte an ihrer Haltung, dass sie sich etwas lockerten. Sie gaben natürlich nicht sofort nach, aber nachdem ich Scherze auf meine Kosten machte, konnten sie sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Ich wollte, dass sie wussten, dass ich es ernst meinte.

Ich probierte das Kleid an, das die Verkäuferin gebracht hatte. Es traf überhaupt nicht meinen Geschmack - es war mir viel zu pompös, zu schnörkelig und zu übertrieben. Es glitzerte rosa im Licht. Ich konnte mich kaum bewegen. Wenn ich mich um meine Achse drehte, warf der viel zu lange Schleier alles um. Die Verkäuferin versuchte mit ganzer Kraft keine Miene zu verziehen, als ich ihr Geschäft verwüstete. "Sehe ich nicht ein wenig aus, wie eine gemästete Kuh mit Schleier?", bemerkte ich trocken. Die Verkäuferin sah mich entsetzt an, während die Mädels kicherten.

„Viel eher wie ein Schwein.", stimmte mir Schmidt zu. Die Mädels sahen ihn fassungslos an wegen seiner ungestümen Art.

Die Verkäuferin lief rot an. Sofort half sie mir aus dem Kleid und brachte mir das nächste.

Dieses Mal war es eins mit riesen großen Puffärmeln, bei dessen Anblick ich bereits die Nase kräuselte. Noch ehe ich es anziehen konnte, schüttelte ich heftig den Kopf. "Es wirkt ein wenig, als könnte es jeden Moment wegfliegen, finden Sie nicht?"

Verzweifelt holte die Verkäuferin eins ihrer schönsten Exmplare heraus. Mit voller Hoffnung half sie mir es anzuziehen. Doch nachdem ich vor dem Spiegel trat, ließen wir alle zeitgleich enttäuscht die Schultern sinken, als das Kleid wie ein Lappen an mir herunterhing.

"Also an der Stange sah es umwerfend aus.", sprach Schmidt die Gedanken aller anwesenden aus.

Ich wandte mich zu ihm und zuckte die Achseln. „Dann soll doch die Stange heiraten.", entgegnete ich unberührt.

Die Verkäuferin schnaubte und warf uns einen unzufriedenen Blick zu, ehe sie das letzte Kleid brachte.
Ich sah fassungslos in den Spiegel, als meine Brüste förmlich in dem Kleid untergingen - fast so als hätte ich keine. Selbst die Verkäuferin seufzte bei meinem Anblick.

"Also in diesem Kleid müsste Mr Kurt in der Hochzeitsnacht noch nach deinen Brüsten suchen gehen.", bemerkte Schmidt und schüttelte den Kopf.

Ich schluckte schwer. Dieses Mal hatte der Sekretär voll ins Schwarze getroffen. Autsch.

„Wer hat denn bitte so große Brüste?!", fragte ich fassungslos. Die Mädels unterdrückten ein Lachen.

"Wir würden das Kleid natürlich an Ihre Maße anpassen, Miss. Hauptsache es gefällt Ihnen.", bot die Verkäuferin an und versuchte mit aller Kraft professionell zu bleiben.

"Ich glaube, wir schauen lieber erstmal weiter.", sagte ich und lehnte höflich ab. Ich zog das Kleid wieder aus und schlüpfte in meine Alltagsklamotten.

"Wollen Sie sich vielleicht noch die Brautschuhe ansehen?", fragte die Verkäuferin, nachdem ich aus der Umkleide trat. Sie wollte mich offensichtlich nicht sofort gehen lassen. Ich unterdrückte ein Seufzen. Mein Blick glitt fast sehnsüchtig in Richtung der Ausgangstür. Ich war bereit von hier zu verschwinden, denn ich hatte weder die Lust noch die Kraft weiterzuschauen.

Ich hatte immer gedacht, es sei spaßig Brautkleider anzuprobieren, aber stattdessen war es nur anstrengend - vor allem, wenn man nicht zu den Frauen mit den idealen Körpermaßen gehörte. Bis man etwas passendes gefunden hatte, würde man sich dumm und dämlich suchen.

Ich überlegte mir gerade eine Ausrede, um von hier verschwinden zu können, als plötzlich ein Regentropfen gegen die Scheibe der Ausgangstür tropfte. Mein Blick hing an dem Tropfen. Vertieft und wie gebannt sah ich dabei zu, wie es langsam die Scheibe hinunterlief.

"Wir müssen bald zurück ins Anwesen.", informierte mich Marie und riss mich aus meiner Trance.

Ich blinzelte mehrmals und sah von dem Regentropfen zu ihr, jedoch wanderte mein Blick sofort wieder zurück. Weitere Tropfen waren hinzugekommen und liefen die Scheibe hinab.

Es hatte angefangen zu regnen.

"Wieso denn?", fragte ich sie geistesabwesend, während ich den Blick nicht von der Scheibe nehmen konnte. Wie von selbst, trat ich mit langsamen Schritten an die Tür. Ich blickte hinaus und sah hoch zum Himmel. Die Wolken verdichteten sich im Horizont.

"Mr Kurt erwartet Gäste.", antwortete sie, doch ich nahm ihre Worte kaum wahr. Eine Gänsehaut durchzog meinen Körper bei dem Anblick der dunklen Wolken, die sich aus der Ferne näherten. Ich rieb mir unbewusst über die Arme.

„Hast du mich gehört, Ella?"

Ich schellte zurück bei dem Klang meines Namens und drehte mich zu ihr um. „Wie bitte?"

„Mr Kurt erwartet Gäste.", wiederholte sie und musterte mich kurz, „Geht es dir gut?"

„Wen genau erwartet er denn?", fragte ich ohne auf die letzte Frage einzugehen. Ich trat von der Tür weg und ging zu den anderen rüber, um Distanz zu gewinnen. Als könnte ich von diesem unheimlichen Gefühl, das sich in meiner Brust ausbreitete, flüchten.

Die Verkäuferin wartete indes geduldig am Schuhregal auf mich und tippte mit den Fußspitzen gegen den Boden.

Marie zuckte die Achseln als Antwort auf meine Frage. Schmidt allerdings wusste die Antwort und wich absichtlich meinem Blick aus. Mit einem Mal fand er einen Fusel an seinem Anzug furchtbar interessant.

„Schmidt?"

„Hm?" Er richtete die Brille auf der Nase zurecht.

„Wer kommt?"

"Äh... nun ja...", murmelte er und nuschelte etwas unverständliches.

„Wie war das?", fragte ich und trat einen Schritt näher, „Ich habe dich nicht verstanden."

„Es sollen die Gründer des Carford-Unternehmens kommen.", antwortete er schließlich kleinlaut.

Ich brauchte einen Moment um zu realisieren, was er sagte.

Hatte er Carford gesagt?

Ich runzelte die Stirn. "Meinst du zufällig auch Miss Carford?"

"Oh, das weiß ich nicht so genau.", nuschelte er.

Mit einem Mal waren alle Gedanken und Sorgen wegen des Regens unwichtig geworden. Ich presste die Lippen zusammen bei der Erinnerung, wie sich die hübsche, junge Frau beim Investoren-Abend ständig an Nathan geworfen hatte. Selbst als er erkrankt war, war sie zum Anwesen gekommen, um nach ihm zu sehen.

Sie war ziemlich hartnäckig. Immerhin musste sie von der Verlobung mitbekommen haben - selbst wenn sie nicht wusste, mit wem genau er sich verlobt hatte. Wollte sie etwa ein letztes Mal versuchen Nathan für sich zu gewinnen?

Augenblicklich waren die Brautkleider und der Regen Nebensache geworden. Ich konnte nicht entspannt hier verweilen, während sich die Hexe womöglich an meinen Mann ranmachte. Ich hatte sehr stark die Vermutung, dass sie sich nicht die Gelegenheit nehmen würde irgendetwas unversucht zu lassen.

Nicht, dass ich Nathan nicht vertraute - ganz im Gegenteil -, aber ich hatte das tiefe Bedürfnis dieser Frau zu zeigen, in wessen Territorium sie sich begab.

"Dann sollten wir besser keine Zeit verschwenden.", drängte ich, schob Schmidt in Richtung der Ausgangstür, packte die Mädels dann an den Händen und zog sie mit mir. "Wir sollten zum Anwesen. Sofort."

"Miss, wollen Sie nicht noch-", rief die Verkäuferin uns hinterher, doch ich winkte sofort ab.

"Nein, nein. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben. Aber wir müssen jetzt gehen.", rief ich ihr über die Schulter hinweg zu und schob die anderen aus dem Geschäft. Ich ließ ihnen kaum Zeit einen Fuß nach dem anderen zu setzen.

„Wir hätten aber noch etwas Zeit gehabt, Ella.", entgegnete Marie überrascht über meinen plötzlichen Sinneswandel.

„Nein, nein, Mathilda wird eure Hilfe sicher brauchen.", widersprach ich bestimmt.

Die Regentropfen rieselten auf uns hinab, als wir auf die Straße traten. Ich schluckte schwer und traute mich gar nicht zu den Wolken hinauf zu schauen. Es gab noch keine Anzeichen eines Gewitters - aber ich wusste intuitiv, dass es kommen würde.

Der Kutscher wartete auf uns an der Mauer angelehnt, als ich eilig auf ihn zutrat. "Wir wollen zurück zum Anwesen.", wies ich ihn an, woraufhin er erschrocken zusammenzuckte. Er richtete den Hut auf seinem Kopf zurecht und nickte stumm, ehe er mit schnellen Schritten voran zur Kutsche lief. Er öffnete uns die Tür.

"Wir haben aber noch gar nichts gekauft.", bemerkte Hilde enttäuscht, als sie in die Kutsche einstieg.

"Dafür ist jetzt keine Zeit.", erwiderte ich.

"Du klingst schon wie Mr Kurt.", bemerkte Marie amüsiert, als sie sich neben Hilde auf den Sitz fallen ließ, "Seinen strengen Ton hast du auf jeden Fall drauf."

Ich seufzte entnervt. Zugegebenermaßen war mir das auch bereits aufgefallen. Aber ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war, konnte ich noch nicht wirklich sagen. In diesem Augenblick hatte ich jedoch ganz andere Sorgen.

Ich drehte mich zu Schmidt um, der sich nicht von der Stelle bewegte. „Na los, Schmidt, wir haben es eilig."

„So gerne ich mir das Chaos ansehen würde, das du gleich im Anwesen verursachen wirst, kann ich leider nicht mitkommen", seufzte er, „Ich habe die Anweisung bekommen nach deiner Brautkleidersuche zurück zum Unternehmen zu fahren. Muss noch so einiges erledigen."

Ich stieß enttäuscht die Luft aus. Irgendwie hatte ich gehofft, er würde mir den Rücken stärken gegen die Hexe. Doch ich nickte widerwillig und stieg dann in die Kutsche. Schmidt stand am Bürgersteig und nickte mir zum Abschied zu. Dann setzte sich die Kutsche in Bewegung und fuhr auf direktem Weg zum Anwesen.

Während sich die anderen beiden neben mir gelassen unterhielten, sah ich immer wieder aus dem Fenster hinaus auf den Regen. Ich hatte das Gefühl, es wurde allmählich stärker. Absurderweise fühlte ich mich verfolgt. Rosalies Worte drehten sich in meinem Kopf und schnürten mir die Kehle zu. Mir war unangenehm heiß geworden.

Ich wollte nur noch ins Anwesen - zu Nathan.

Selbst wenn man mir nicht helfen konnte. Es gab mir ein beruhigendes Gefühl bei ihm sein zu können, fast so als könnte er mich wirklich beschützen.

Die Kutsche hielt vor dem Anwesen und ich ließ den Mädels den Vorrang beim Aussteigen. Als ich hinaustrat, bemerkte ich die fremde Kutsche vor der Einfahrt. Ich stieß entnervt die Luft aus. Wie es schien, waren die Gäste bereits da.

"Wir sollten uns beeilen. Mutter braucht bestimmt unsere Hilfe.", sagte Hilde an Marie gewandt, die zustimmend nickte. Sie gingen den bekannten Seitenweg, um das Anwesen herum, um durch die Hintertür zur Küche zu gelangen. Aus Gewohnheit war ich im Begriff ihnen zu folgen. Doch dann erinnerte ich mich, dass ich kein Hausmädchen mehr war und schlug stattdessen meinen Weg über den breiten Kieselweg direkt zur Eingangstür ein. Peter stand dort unter dem Vordach und öffnete bei meinem Nähern sofort die Tür. "Du bist schon ganz nass geworden.", bemerkte er, "Lass mich dir den Mantel abnehmen."

"Alles gut, das ist nicht nötig.", widersprach ich sanft und trat in die Eingangshalle ein.

"Bitte.", sagte er nachdrücklich, "Das gehört sich so."

Ich sah ihm in die Augen. Respektvoll und gütig wie immer entgegnete er meinen Blick. Er meinte es ernst.

"Peter, ich möchte nicht, dass ihr mich wie die Hausherrin behandelt."

"Das bist du aber, Kleines, und dafür brauchst du dir kein schlechtes Gewissen zu machen.", sagte er beschwichtigend, "Ich fühle mich wohler, wenn du mir deinen Mantel abnehmen lässt."

Ich konnte ihm ansehen, wie sehr er in seiner traditionellen Rolle verankert war. Vermutlich würde sich auch niemals etwas daran ändern. Im Gegensatz zu den anderen, dienten Mathilda und er schon ihr halbes Leben lang den Kurts. Sie empfanden tiefen Respekt Nathan gegenüber und würden sich keinen Fehltritt erlauben - somit auch mir gegenüber nicht.

Widerwillig nickte ich schließlich und ließ ihn mir den Mantel abnehmen. "Danke."

Er lächelte mich aufmunternd an und tätschelte väterlich meinen Oberarm. "Du wirst dich noch daran gewöhnen."

Ich runzelte die Stirn. Hoffentlich nicht.

Er hing den Mantel an den Haken, während ich mich zur Treppe wandte. "Sind Nathan und die Gäste im Arbeitszimmer?", fragte ich ihn.

Peter schüttelte den Kopf und zeigte zum Wohnzimmer, wo gerade in dem Moment Mathilda mit einem Tablett in den Händen heraustrat. Unsere Blicke kreuzten sich. Sie schloss die Tür hinter sich und kam auf mich zu.

"Ella, schön, dass du da bist. Ich wollte mit dir sprechen.", sagte sie und gab Peter mit einem Blick zu wissen, dass er uns alleine lassen sollte. Ohne ein Wort verschwand dieser wieder vor der Tür.

Ich sah zur Wohnzimmertür hinüber und wollte eigentlich am liebsten sofort hineingehen, aber gleichzeitig war ich neugierig darauf, was Mathilda sagen wollte, daher wartete ich geduldig darauf bis sie sprach.

Sie räusperte sich und schien sich mit einem Mal zu schämen. Sie sah zu Boden und wich meinem Blick aus. "Ich wollte um Vergebung bitten."

Ich hob überrascht die Augenbrauen. Damit hatte ich nicht gerechnet. "Wofür denn?"

Sie sah auf und erwiderte meinen Blick. "Wegen meiner Worte. Ich hatte nicht sehr nette Dinge gesagt, weil ich nicht glauben konnte, dass die Verlobung echt war. Das tut mir aufrichtig leid."

„Mach dir deshalb keine Gedanken, Mathilda.", beschwichtigte ich sie sofort, aber sie schüttelte den Kopf.

"Seit dem ersten Tag, an dem du hier bist, habe ich dich wie eine Tochter gesehen. Mit der Zeit habe ich dich sehr lieb gewonnen, mein Kind. Deshalb verzeih mir, dass ich dich zurechtweisen wollte. In deinem Alter haben wir auch Fehler gemacht, vor denen ich dich nur bewahren wollte.", erklärte sie.

"Es ist alles gut. Ehrlich.", versicherte ich, "Ich kann dich verstehen."

"Ich freue mich für dich.", sagte sie aufrichtig und fügte dann hinzu, "für euch."

Ich musste lächeln. "Danke. Das bedeutet mir viel."

"Mr Kurt ist wie ausgewechselt. Ich habe ihn noch nie so voller Leben gesehen."

Wow. Das war vermutlich das schönste, was sie mir hätte sagen können.

„Findest du wirklich?"

Sie nickte. „Ich kenne ihn schon sehr lange, Ella, deshalb kannst du mir vertrauen, wenn ich sage, dass er noch nie so lebendig gewirkt hat wie jetzt. Du tust ihm gut. Du veränderst ihn zu einer besseren Version seiner selbst."

Hatte ich ihn denn wirklich verändert? Dass er mit mir bereit war Neues zu wagen, zeigte im Grunde, dass er einen Wandel durchgemacht hatte. Aber er war nach wie vor der strenge, skrupellose, kalte Geschäftsmann gewesen.

Verändern sollte er sich auch nicht. Genauso wenig wie ich.

Er war er und ich war ich. Und das war auch gut so. Denn nur so hatten wir uns lieben gelernt.

Ein lautes Gelächter aus dem Wohnzimmer riss mich aus meinen Gedanken. Auch Mathilda schaute über ihre Schulter zur Tür hinüber. Noch ehe ich die Gäste gesehen hatte, wusste ich bereits, wer sich hinter der Tür verbarg. Nathan würde niemals lachen. Das laute Lachen, das ich allzu gut vom Investoren-Abend kannte, gehörte zu Ms Carford.

"Ich sollte dann wieder zurück an die Arbeit.", erklärte Mathilda und schenkte mir noch ein ermutigendes Lächeln. Sie musste auch gesehen haben, wie sich die junge Dame an Nathan geworfen hatte. In mir kochte die Wut, noch bevor ich ihr überhaupt gegenüberstand. Mathilda verschwand in der Küche, während ich an die Wohnzimmertür trat. 
Der Regen prasselte gegen die Fenster des Anwesens, was es mir ungemein schwer machte mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Ich wollte mich jetzt nicht in meiner Furcht verlieren. Ich musste mich vor dem wappnen, was mich im Wohnzimmer erwartete. Daher ignorierte ich mit aller Kraft den Regen und straffte die Schultern, ehe ich meine Hand hob, um zu klopfen.

Ein erneutes, übertriebenes Gelächter aus dem Inneren ließ mich jedoch in der Bewegung innehalten.

Ich biss die Zähne zusammen und konnte mich kaum halten, als ich die Tür mit Schwung aufriss.

Auf dem Sofa inmitten des Raums saß ein alter Mann in einem perfekt sitzenden Anzug zurückgelehnt und hielt ein Glas Whisky in der Hand. Er hatte einen dicken Bauch, um den sich sein Hemd gefährlich spannte. Die Knöpfe schienen das Hemd mit letzter Kraft zusammenzuhalten. Der alte Mann hatte dichtes graues Haar und einen vollen Bart. Seine Präsenz verströmte das Gefühl von Geld und Macht.

Am Kamin stand Nathan, wie immer in seiner aufrechten Haltung, und las ein Dokument durch, während ihm gegenüber Ms Carford am Sims angelehnt stand - zu dicht an Nathan für meinen Geschmack. Sie hatte ein roséfarbenes Kleid an, das ihr wie angegossen saß. Ihre perfekt sitzenden Haare fielen ihr über die Schultern und umrahmten ihr ohnehin schon wunderschönes Gesicht. Es machte mich wütend, wie einfach und locker sie dabei wirkte.

Überrascht blickten alle auf, als ich eintrat. Ms Carford kräuselte sofort die Nase bei meinem Anblick.

"Vom Anklopfen noch nie etwas gehört?", fragte sie schnippisch.

"Es war doch gerade schon eine Bedienstete hier.", bemerkte auch der alte Mann auf dem Sofa, "Wir haben dich nicht gerufen."

Er ging sofort davon aus, dass ich als Hausmädchen gekommen war. Ich unterdrückte den Drang meine Hände zu Fäusten zu ballen. "Ich bin keine Bedienstete."

"Ihre Angestellten haben auch keine Manieren, Mr Kurt.", erwiderte der alte Mann und warf mir einen herabwürdigenden Blick zu.

"Das ist meine Verlobte, Ella.", erklärte Nathan kühl und ließ beide verstummen. Seine Worte gingen runter wie Öl. Ich empfand tiefe Genugtuung bei den entsetzten Blicken der beiden.

"Verlobte?", fragten beiden im Einklang.

Nathan ignorierte sie und sah mich direkt an. "Ist alles in Ordnung?"

"Ja, alles gut.", versicherte ich ihm, "Wir waren gerade eben zurückgekommen, da habe ich ein schrilles Geräusch aus dem Wohnzimmer gehört. Ich dachte, eine Katze sei gestorben."

Ms Carford sah mich fassungslos an. "Wie bitte?!", zischte sie, "Meinst du etwa mich?!"

"Das habe ich nicht gesagt.", erwiderte ich trocken, als hätte ich keine Ahnung, wovon sie sprach.

Ms Carford wandte sich zu Nathan. "Das Ding ist allen ernstes Ihre Verlobte?!"

"Mir gefällt Ihr Ton nicht.", stieß Nathan hervor. Ich verliebte mich einmal mehr in ihn, als er völlig gleichgültig den anderen gegenüber den Raum durchquerte, um zu mir zu kommen. Er legte demonstrativ eine Hand um meine Taille. "Wenn ich um etwas mehr Respekt bitten darf."

Hatte ich schon gesagt, wie sehr ich ihn liebte?

"Entschuldigen Sie, Mr Kurt. Es ist nur so überraschend. S-Sie waren doch nie ein Mann gewesen, der sesshaft werden würde.", stieß der alte Mann hervor. Warum es ausgerechnet ihn störte, dass Nathan sich verlobt hatte, war mir ein Rätsel. Was war sein Problem?!

"Ella ist auch keine Frau, die mich sesshaft werden lassen würde, Mr Carford.", erwiderte er trocken, "Sie ist auch niemand, die eine Hausfrau sein wird oder eine typische Ehefrau. Sie ist niemand, die gehorcht oder kleinbegeben würde. Sie ist auch niemand, die brav sein könnte oder -."

"Danke, Nathan, ich glaub, die haben es verstanden.", unterbrach ich ihn mit einem gezwungenen Lächeln, als ich nicht mehr sicher war, ob er mir noch Komplimente machte oder nicht.

Es zuckte amüsiert an seinem Mundwinkel bei meinem Kommentar.

"Wieso würden Sie so eine Frau nehmen wollen?", fragte Ms Carford und zeigte auf mich. Ich sah an mir herab. Völlig durchnässt vom Regen sah ich vielleicht wirklich nicht gerade gut aus in diesem Moment. Ich trat mir innerlich in den Hintern dafür, dass ich nicht nochmal kurz in den Spiegel gesehen hatte, ehe ich reingestürmt war. Meine Haare hatten die Angewohnheit bei Regen auszusehen wie die von einer Vogelscheuche.

Nathan hob jedoch eine Augenbraue bei dem spitzen Ton der Dame und ließ sich nicht beirren. Er drückte mich an sich, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. "Ich glaube nicht, dass Sie das etwas angehen würde, Miss."

Sie schluckte schwer bei seiner harten Antwort. "Aber sie ist vorlaut und hat keine Manieren..."

Ich hasste es, dass sie über mich sprach, als wär ich nicht im Raum. "Wenigstens habe ich Grips im Hirn und lebe nicht nur von Papas Geld."

"Sehen Sie, was ich meine?", fragte sie entsetzt, "Sie hat mich indirekt als dumm bezeichnet."

"Gar keine Frage, sie ist bekannt für ihr vorlautes Mundwerk.", stimmte Nathan ihr zu.

"Du brauchst mir nicht ständig zu schmeicheln, Nathan.", erwiderte ich trocken und stieß ihm mit dem Ellenbogen in die Seite. Er sah zu mir hinab, in seinen Augen funkelte es belustigt. Idiot.

"Verstehen Sie uns nicht falsch, Mr Kurt.", versuchte Mr Carford einzulenken und versuchte wie ein schweres Walross vom Sofa aufzustehen. Er schnaufte angestrengt, während er sich am Polster versuchte abzudrücken. Nach einem fehlgeschlagenen Versuch, beließ er es jedoch dabei und blieb sitzen. "Unsere Geschäfte verliefen so gut bisher, dass wir dachten, wir würden eines Tages die Unternehmen vergrößern und sie vielleicht sogar zusammenführen. Ein riesen Unternehmen draus machen. Dabei hatte ich mir gedacht, Sie und meine Tochter könnten eines Tages heiraten und-"

"Dass Sie es wagen in Anwesenheit meiner Verlobten ein solch herabwürdigendes Angebot zu machen, ist inakzeptabel.", unterbrach Nathan Mr Carford scharf und jegliche Belustigung war aus seinen Augen gewichen, "Ich bin kein Mann, der Arbeit und Privates vermischt. Da haben Sie mich ganz falsch kennengelernt."

Jetzt wusste ich wenigstens, warum sich Mr Carford von unserer Verlobung gestört gefühlt hatte. Er wollte Nathan doch tatsächlich für seine Tochter haben.

"Was wird dann aus unseren Geschäften?", fragte Mr Carford mit strengen Ton. Er sah Nathan ernst und durchdringlich an. Er wollte Nathan Gabriel Kurt doch nicht etwa vor einem Ultimatum stellen?

Ganz langsam löste sich Nathan von mir und stellte sich mit einer solchen Kälte vor dem alten Mann auf, dass es selbst mir kalt den Rücken runterlief. Ich spürte, wie Nathan versuchte seine aufkeimende Wut in Zaum zu halten. Wie ein Raubtier ging er langsam zwei Schritte auf den alten Mann zu. Ich sah am Gesichtsausdruck von Mr Carford, dass Nathans Blicke  einschüchternd und markdurchdringend waren.

"Wenn Sie unsere Geschäfte davon abhängig machen wollen, ob ich mich mit ihrer Tochter liiere oder nicht, dann können Sie es gleich sein lassen und von hier verschwinden."

"Wie bitte?", fragte dieser fassunglos bei Nathans scharfen Worte und runzelte die Stirn.

"Mit Drohungen kommen Sie bei mir nicht weit, Mr Carford."

"So eine Frechheit! Das war keine Drohung, sondern ein gut gemeintes Angebot!", stieß der Mann hervor und versuchte mit Ruck aufzustehen. Dabei platze ihm der Knopf am Hemd auf und flog im hohen Bogen einmal quer durch den Raum. Ms Carford eilte ihm zur Hilfe und half ihm auf die Beine.

Mr Carford schnaubte verächtlich. "Das werden Sie noch bitter bereuen, Mr Kurt! Sie haben Ihre Chance verschwendet in die Automobil-Branche einzusteigen! Mit Carford Industries wären Sie einer der einflussreichsten Männer des Landes geworden!"

"Ich bin bereits einer der einflussreichsten Männer des Landes.", entgegnete Nathan kühl, "Sie brauchen mich. Nicht andersherum."

Das pummelige Gesicht des alten Mannes lief rot an vor Wut und er trat einen schweren Schritt auf Nathan zu. "Automobile sind die Zukunft, Kurt. Früher oder später werden Sie abgehängt!"

"Ich habe bereits ein Angebot von Daimler bekommen.", erwiderte Nathan unbeeindruckt.

"Daimler?!", stieß Mr Carford gehässig aus, "Ha! Dass ich nicht lache! Mr Benz möchte das Automobil, das von echten Männern entwickelt wurde, nach seiner Tochter benennen! Keiner wird ein Auto kaufen, das wie eine Frau heißt! Das ist absurd!"

"Oh, das glaube ich nicht.", widersprach ich lachend.

Der alte Mann zitterte vor Wut, als er mich ansah. "Was weißt du schon?!"

"Nun ja...", sagte ich achselzuckend, "ich weiß zumindest, dass Mercedes Benz eines der erfolgreichsten Autos ist und sein wird."

"Woher weiß sie was von Mercedes?!", stieß der alte Mann aus und sah von Nathan zu mir und zurück.

Nathan, der ebenso überrascht war, sich aber nichts anmerken ließ, sah Mr Carford unbeeindruckt an. "Sie sagte doch selbst, dass sie Grips im Hirn hat."

Ich musste schmunzeln, als er meine Worte benutzte. Das war überhaupt nicht seine Art. Umso mehr gefiel es mir.

"Wir gehen!", stieß der alte Mann schweratmend hervor und packte seine Tochter am Handgelenk. Noch ehe, diese etwas sagen konnte, zerrte er sie mit sich aus dem Wohnzimmer. "Sie werde das bereuen, Kurt! Haben Sie mich gehört?! Sie werden das bitter bereuen!"

Das waren seine letzten Worte, ehe er sich auf dem Absatz drehte und mit seiner Tochter im Schlepptau aus der Haustür verschwand. Draußen regnete es inzwischen in Strömen. Peter, der nach wie vor an der Tür stand, blickte ihnen verwirrt hinterher und sah uns fragend an. Ich schüttelte zur Antwort nur meinen Kopf.

"Monatelange Zusammenarbeit waren völlige Verschwendung.", sagte Nathan ungerührt neben mir und zerriss das Dokument, das er noch in den Händen hielt. "Ich hasse verschwendete Zeit."

Ich schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. "Glaub mir, dich hätte es mehr geärgert, wenn das Unternehmen irgendwann insolvent gegangen wäre. Bleib lieber bei dem Angebot von Daimler."

Er sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an. "Erst die Glühbirnen, jetzt die Automobile. Woher weißt du von solchen Dingen?"

Ich zuckte die Achseln und wich seinem Blick aus. "Ist doch kein Geheimnis, oder?"

"Nein, natürlich nicht.", sagte er mit zusammengekniffenen Augen und musterte mich eindringlich, "Es ist nur überraschend."

"Ich stecke voller Überraschungen, Nathan, ist das was Neues?", wich ich aus und ging wieder ins Wohnzimmer. Ich spürte Nathans Blick auf meinem Rücken, während ich an den warmen Kamin trat. Der Regen schüttete währenddessen unaufhaltsam gegen das Fenster und erinnerte mich wieder an das eigentliche Problem. Ich strich mir unbewusst über die Oberarme.

Bildete ich es mir ein oder war es draußen plötzlich dunkler geworden?

"Geht es dir gut?", fragte Nathan, als er die Wohnzimmertür wieder schloss und zu mir an den Kamin trat. Er strich mir eine nasse Strähne hinters Ohr, während er mich musterte. "Nimm die Worte von den beiden nicht persönlich. Sie sind sauer, weil ihre Pläne durchkreuzt wurden. Das kann uns aber egal sein. Mach dir deshalb keine Gedanken, ja?"

Ich nickte nur. Er sah mir an, dass mit mir etwas nicht stimmte, deutete es allerdings völlig falsch. Wie sollte er auch wissen, dass nicht die blöden Carfords für mein Unbehagen verantwortlich waren? Wie sollte er auch wissen, was in meinem Kopf vor sich ging? Wie sollte er wissen, was ich durchmachte?

Ich schluckte schwer, während das Plätschern des Regens am Fenster mich schier wahnsinnig machte. Es war fast so, als würde mir der Regen sagen, dass die Zeit gekommen war. Fast so, als würde er mich drängen und mir sagen, dass ich kommen solle.

Ich sah zu Nathan auf. Das Licht des Kaminfeuers warf Schatten auf sein Gesicht. Seine Augen sahen mich mit einer Besorgnis an, die ich nicht von ihm gewohnt war. Ohne ein Wort schmiegte ich mich an seine Brust. Er schlang die Arme um mich und rieb mir beruhigend über den Rücken.

"Habt ihr denn ein Brautkleid finden können?", wechselte er wissentlich das Thema.

Ich vergrub mein Gesicht in seiner Brust. Im Moment wollte ich über alles aber nicht über die Hochzeit sprechen. Mir war klar gewesen, dass wir über die Vorbereitungen sprechen mussten, aber ich konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Wie sollte ich auch unbekümmert eine Hochzeit planen, wenn mich das Gewitter draußen daran erinnerte, dass ich gar nicht von dieser Zeit war? Was hatte ich mir nur dabei gedacht, als ich Nathan mein Ja-Wort gegeben hatte? Dachte ich wirklich, meine Geheimnisse und Lügen würden mich nicht eines Tages einholen? Dachte ich wirklich, wir könnten ein gutes Ende haben?

"Nein, leider nicht.", antwortete ich schließlich leise gegen seine Brust, "Der Regen hatte angefangen und wir mussten unsere Suche abbrechen."

Er nickte verständnisvoll. "Wenn das in Ordnung ist für dich, würde ich sonst gerne einen Schneider herbringen lassen. Statt dich wahnsinnig zu machen mit der Suche, kannst du dir das Kleid nach deinen Wünschen und Vorstellungen schneidern lassen."

Ich sah ihn mit großen Augen an. Wie sollte ich diesen Mann bitte hier zurücklassen und in meine Zeit zurückkehren? Konnte der Sturm nicht einmal eine Ausnahme machen und mich hier lassen? Wir liebten uns, verdammt! Das musste doch irgendetwas bedeuten!

"Ich sage Kevin gleich morgen früh, dass er jemanden herrufen soll.", sagte er sanft und strich mir mit dem Handrücken zärtlich über die Wange.

Ich konnte das nicht länger ertragen. Seine Berührungen, der Regen, die Hochzeit, alles. Alles wurde mir zu viel. Ich war auch nur ein Mensch!

Ich löste mich aus seinen Armen und wich einen Schritt zurück. Er runzelte die Stirn und sah mich fragend an.

"Nathan.", stieß ich hervor und sah ihm direkt in die Augen, entschlossen wie ich es noch nie zuvor war. "Ich muss dir etwas sagen."

Er spannte sich kaum merklich an. "Ja?"

Ich schluckte schwer und suchte nach den richtigen Worten. Wie sollte man auch gestehen, dass man aus der Zukunft kam ohne wie verrückt zu klingen?!

"Was willst du mir sagen?", drängte er, als würde er mir ansehen können, dass es etwas dringendes war. Er musterte mich beunruhigt und schien verstehen zu wollen, was vor sich ging.

Ich krallte mir die Finger in das Kleid und sammelte meinen ganzen Mut. "Nathan, ich bin eigentlich aus der Zukunft ge-"

*BOOM*

Ein markerschütternder Knall ließ die Erde beben. Für eine Sekunde war alles hell weiß. Ich zuckte zusammen vor Schreck und musste reflexartig die Augen schließen, um dem hellen Licht zu entkommen, das durch das Fenster blitzte.

Mir blieben die Worte im Halse stecken, während ein schriller Schrei durch das Anwesen drang. Die reinste Panik ergriff mich, als ich versuchte zu verstehen, was passiert war.

"War das ein Blitz?!", stieß Nathan hervor. Sofort war er in Alarmbereitschaft und lief zur Wohnzimmertür, um sie aufzureißen. Die Angestellten liefen im selben Moment raus auf den Flur - alle völlig aufgebracht und verängstigt. Sie sprachen wild durcheinander.

"Mr Kurt! Mr Kurt!", rief Peter entsetzt, der durch die Eingangstür hineinstolperte. Er blinzelte angestrengt, fast so als würde er nicht richtig sehen können, "Ein Blitz ist eingeschlagen!"

"Geht es dir gut, Peter?!", fragte Mathilda panisch, als sie ihren Mann an den Schultern packte, "Was ist mit deinen Augen?!"

"I-Ich weiß nicht, Mathilda, ich kann nicht richtig sehen.", gestand er atemlos.

"Bringt einen Stuhl für Peter!", wies Nathan die Mädchen wütend an, die sich vor Schreck kaum bewegen wollten. Rosalie war die einzige, die sich im Griff zu haben schien und lief in die Küche, um Peter einen Hocker zu holen.

Sofort half Mathilda ihm sich zu setzen.

"Mr Kurt, das war ein Blitz.", wiederholte Mathilda vor lauter Panik.

"Das habe ich mitbekommen.", entgegneter er kühl und sah in die Runde, "Geht es allen anderen gut?"

Die Hausmädchen sahen sich alle gegenseitig an, als würden sie sich vergewissern wollen, dass jeder anwesend war. Als keiner widersprach, wandte sich Nathan zu mir. "Ich sollte schauen, was vom Blitz getroffen wurde."

Ich hielt Nathan sofort am Arm fest. "Nein, geh nicht.", sagte ich verängstigt.

Er blickte mich über seine Schulter hinweg mit einem fragenden Blick an.

"Es regnet noch so heftig.", versuchte ich zu erklären, "Du kannst auch noch schauen, wenn der Sturm vorbei ist."

"Vielleicht wurde die Scheune getroffen, Ella, ich sollte nach den Pferden schauen."

Widerwillig ließ ich ihn los, denn ich konnte keine logische Einwendung finden. Er ging ohne ein weiteres Wort aus der offenen Eingangstür raus in den Regen und verschwand aus meinem Blickfeld. Ich war gerade im Begriff ihm zu folgen, allein aus der Angst ihm könnte etwas passieren, als ich am Arm zurückgehalten wurde.

Ich drehte mich zu Rosalie um, die mich mit ernstem Blick ansah.

Sie brauchte nichts zu sagen. Ich wusste, was sie dachte.

Das ist deine Schuld, sagten ihre Augen.

Ich schluckte schwer und sah zu Peter hinüber, der die Augen angestrengt zusammenkniff und nicht öffnen konnte. Er hatte direkt in den Blitzschlag geschaut, was vermutlich seine Netzhaut gereizt haben könnte. Mit etwas Glück würde sich sich sein Sehvermögen wieder erholen - Wenn nicht, würde er langfristige Schäden davongetragen... und womöglich nie wieder richtig gucken können.

"Wir sollten Peter in einen abgedunkelten Raum bringen. Er sollte die Augen etwas ausruhen.", sagte ich an Mathilda gewandt, während Rosalie nach wie vor dicht hinter mir stand.

"Sollten wir ihm vielleicht den Saft einer Zwiebel auf die Augen reiben? Das könnte doch sicher helfen.", schlug Marie vor.

"Was?!", fragte ich entsetzt, "Auf keinen Fall. Wir reiben ihm nichts auf die Augen. Gar nichts."

Überrascht sah mich Marie an, doch widersprach nicht. Sie und Hilde halfen Mathilda dabei Peter ins Schlafzimmer zu bringen und den Raum möglichst gut abzudunkeln.

"Ella.", flüsterte Rosalie, als wir für einen Moment alleine waren, "Wie lange willst du es noch hinauszögern?!"

Ich riss mich aus ihrem Griff und sah sie zornig an. "Hör auf, Rosalie, ich bin schon genug gereizt. Quatsch mich nicht von der Seite an. Ich mache mir schon genug Gedanken, okay?!"

"Anscheinend nicht genug, Ella! Deinetwegen ist Peter erblindet!"

"Das wissen wir noch nicht mit Sicherheit!"

"Was spielt es für eine Rolle?! Willst du nicht einsehen, dass du für das ganze Chaos verantwortlich bist?!"

"Es reicht, Rosalie!", zischte ich mit zusammengebissenen Zähnen, "Was willst du von mir? Sollte ich mich vor den Blitz werfen?!"

"Du wusstest, dass der Sturm anbricht. Du hast die Zeichen gesehen, Ella. Du hättest dich ruhig bereit machen können."

"Du willst mich doch nur los werden!", knurrte ich wütend.

"Das ist kein Geheimnis.", erwiderte sie genervt, "Aber in diesem Fall geht es mir gar nicht darum, ob du endlich verschwindest oder nicht, sondern vielmehr darum, dass diese Gewitter endlich aufhören sollen! Das kannst nur du machen, Ella!"

"Du bist genauso gut eine Zeitreisende, Rosalie. Auch du könntest vom Blitz getroffen werden!", erwiderte ich verbittert, "Wer sagt denn nicht, dass du dir das alles ausgedacht hast und die Stürme eigentlich genauso gut vorbei sein könnte, wenn du endlich verschwindest!"

Sie lachte gehässig. "So willst du dein Gewissen also beruhigen, ja? Rede dir das ruhig ein, Ella, aber du weißt, dass ich recht habe."

Noch ehe ich etwas erwidern konnte, kam Nathan wieder rein. Er war klitschnass und für einen Moment damit beschäftigt sich die nassen Augen zu reiben und die Schuhe auszuziehen. Ich warf Rosalie indes einen warnenden Blick zu, den sie gekonnt ignorierte. Sie wandte sich mit zuckersüßer Stimme zu Nathan. "Ich bringe Ihnen ein Handtuch, Sir."

Sie verschwand mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen. Ich hatte kaum Zeit mich von ihren Worten zu erholen, als Nathan auf mich zutrat.

"Der Blitz ist in den Eichenbaum gekracht, direkt neben der Scheune. Die Tiere sind panisch geworden. Der Kutscher versucht sie zu beruhigen.", erklärte er und fuhr sich durch die nassen Haare. Strähnen hingen ihm vor dem Gesicht. Selbst in einem so abgedroschenen Moment sah er atemberaubend gut aus.

Benommen nickte ich nur stumm. Ich hatte ganz andere Probleme als die Tiere in der Scheune. Ich wusste nicht, ob ich nochmal den Mut finden könnte, Nathan die Wahrheit zu sagen. Ob er mich überhaupt verstanden hatte?

Vielleicht war das alles aber auch ein Zeichen gewesen, es lieber sein zu lassen. Vielleicht sollte er nicht die Wahrheit erfahren.

Jedenfalls würde ich es fürs Erste nicht nochmal versuchen. Ich müsste alles erstmal mit einem klaren Kopf überdenken.

"Willst du für heute lieber hier bleiben, Ella?", fragte er dann und riss mich aus meinen trüben Gedanken.

Überrascht sah ich ihn an.

"Der Blitzeinschlag hat dich auch mitgenommen.", bemerkte er, "Vielleicht solltest du heute Nacht nicht alleine sein. Bleib hier im Anwesen."

"Ja.", hauchte ich und rieb mir über die Arme, um die Gänsehaut zu vertreiben, "Das wäre gut. Der Sturm ist etwas angsteinflößend."

Er nickte. "Ich lasse dir ein Gästezimmer bereitstellen."

Ich presste die Lippen zusammen und nickte benommen. Ich war noch völlig neben der Spur, was Nathan aufgefallen sein musste. Er legte mir eine Hand auf den Arm.

"Es ist vorbei, Ella, du brauchst keine Angst mehr zu haben."

Oh, wenn du nur wüsstest!

In dem Moment kam Rosalie mit einem Handtuch zurück und reichte es ihm. Er trocknete sich die Haare ab, während Rosalie und ich uns einen stummen Kampf mit den Augen ablieferten. Gerade als er den Kopf wieder hob, sahen wir rechtzeitig weg.

"Rosalie, bereite das Gästezimmer im oberen Stockwerk vor."

"Warum?", fragte sie überrascht, woraufhin sie einen strengen Blick von Nathan einkassierte.

"Du sollst nicht fragen, sondern machen.", erwiderte er streng, wie eh und je.

Sie nickte stumm und sah mich dann mit einem undefinierbaren Blick an. Sie war schlau, sie konnte 1 und 1 zusammenzählen und wusste, dass das Gästezimmer für mich gedacht war. Ihr war anzusehen, dass sie sich nicht darüber freute, dass ich blieb.

Ohne ein weiteres Wort verschwand sie im oberen Stockwerk. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie mir auf das Kopfkissen spucken wird.

*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~

Es war spät in der Nacht, als ich mich im Bett des Gästezimmers hin und her wälzte und keine Ruhe fand. Mal abgesehen davon, dass ich aus reiner Paranoia das Kissen nicht benutzen wollte, waren es viel mehr meine Gedanken, die mich wachhielten. Die Enge in meiner Brust machte es mir schier unmöglich normal atmen zu können.

Ich setzte mich abermals auf und warf die Füße über die Bettkante. Ich hielt es nicht länger aus und stand auf, um das Fenster zu öffnen. Der Regen hatte inzwischen aufgehört und der Geruch von feuchter Erde lag in der Luft.

Ich schluckte schwer, als ich meinen Blick in den Himmel hob, wo die dichten Wolken verweilten. Kein Wind wehte, der sie hätte vertreiben können, und ich spürte, wie sie auf mich warteten. Die Wolken würden nicht gehen - nicht bevor ich ging.

Wer wusste, wie lange mir noch blieb, bis die Wolken sich wieder aufgeladen hatten und ein neues Gewitter beginnen würde.

Ich wandte mich vom Fenster ab und lief im Zimmer unruhig auf und ab.

Nach einer gefühlten Ewigkeit trat ich an die Tür und öffnete sie leise, um in den kühlen Flur zu treten. Es war dunkel und ich hatte keine Öllampe dabei, um für etwas Licht zu sorgen. Andererseits war es mir auch egal gewesen, denn ich kannte die Gänge in diesem Haus in und auswendig. Wie oft ich bereits durch diese Flure gegangen war, was ich hier bereits alles erlebt und gesehen hatte, war unglaublich viel für eine so kurze Zeit, die ich hier war.

Die Wände, die Türen, die Holzdielen und Gemälde, alles war mir inzwischen so vertraut geworden - als wär es tatsächlich mein Zuhause.

Ich ging auf Zehenspitzen über den Flur bis an Nathans Schlafzimmertür, wie eine Motte, die vom Licht angezogen wurde.

Leise drückte ich die Türklinke hinunter und schob die Tür auf. Zunächst spähte ich nur hinein. Ein kleiner Teil von mir hatte gehofft, er wäre noch wach und würde vielleicht noch arbeiten. Aber es brannte kein Licht im Zimmer und ich hörte seine regelmäßigen Atemzüge in der Dunkelheit. Ohne weiter darüber nachzudenken, schlüpfte ich hinein und schloss die Tür leise hinter mir. Dann trat ich an sein Bett und hob die Decke an.

Als ich mich zu ihm legte, zuckte er im Schlaf auf. "Wer-?!"

"Ich bin es.", flüsterte ich sofort. "Darf ich hier bleiben?"

Er blieb für einen langen Augenblick lang leise. Ich spürte seinen Blick in der Dunkelheit. Vermutlich wog er ab, ob es klug war, dass ich blieb. Doch er widersprach nicht und legte sein Kopf wieder auf das Kissen ab. Ich schmiegte mich an seinen warmen Körper und atmete seinen Duft ein. Zögerlich legte er einen Arm um mich und deckte uns zu.

Diesen Augenblick wollte ich einfangen. Mit dieser Ruhe und der Wärme. Hier wollte ich bleiben, für immer und ewig.

Aber die Erkenntnis, dass wir die Zeit nicht anhalten konnten, machte mich unendlich traurig. Wir hatten jede Schwierigkeit überstanden, auch die Krankheit und den Tod. Und doch konnten wir nicht vor unserem Schicksal fliehen. Es war fast so, als ob es egal war, was wir taten - wenn etwas nicht bestimmt war, würde es nicht passieren.

Der Gedanke riss mir ein Loch ins Herz. 

Es war das verdammte Schicksal, das mich überhaupt hergebracht hatte. Es war das verdammte Schicksal, das mich zu Nathan geführt hatte. Es war das Schicksal, das uns lieben ließ. Warum also sollte ich wieder gehen? Weil ich ihm das Leben gerettet hatte?!

Ich erzitterte, woraufhin Nathan seine Arme fester um mich schlang. Vermutlich dachte er ich würde frieren. Doch hatte er keine Ahnung, dass die Kälte von tief in mir kam. Wie sollte ich ihn verlassen? Wie würde ich das überstehen? Was würde Nathan tun, wenn ich plötzlich verschwunden war? Was würde er denken und was würde es aus ihm machen?

So viele Fragen in meinem Kopf und keine Antworten. Ich zog Nathans Duft ein, was mir half mich zu beruhigen. Während wir still dalagen, fuhr ich mit einem Finger die Konturen seiner Brust nach. Ich spürte, wie er sich unter meiner Berührung anspannte. Er schlief nicht und vermutlich war an kein Schlaf zu denken, während wir so dich aneinander gekuschelt waren.

Egal, wie schlimm die Situation war, seine Nähe spendete mir Trost und das Vertrauen, dass alles gut werden würde.

Denn wer sagte mir, dass es nicht unser Schicksal war zusammen zu sein?

Wer sagte mir, dass wir nicht wieder zueinander finden würden, selbst wenn wir getrennte Wege gehen mussten?

Wer sagte mir, dass wir nicht ein gutes Ende haben würden, selbst wenn es jetzt so aussichtslos erschien?

Ich erinnerte mich an die schweren Tage und wie wir alles überstanden hatten.

Und das erste Mal seit langem, schöpfte ich wieder Hoffnung und drehte meine Gedanken um: Wenn Menschen füreinander bestimmt waren, würden sie sich finden - egal was passierte.

"Nathan.", flüsterte ich leise. Er hob den Kopf vom Kissen und sah zu mir hinab. "Lass uns morgen heiraten."

Ich konnte sein Gesicht nur schwer erkennen in der Dunkelheit, aber ich sah, wie sich seine Augenbrauen überrascht hoben. "Gleich morgen?", fragte er mit rauer, müder Stimme, "Du hast doch noch kein Brautkleid."

"Ich brauche kein Kleid.", sagte ich entschieden, "Wenn es dich nicht stört, würde ich einfach in Alltagsklamotten kommen - und wir könnten auf dem Weg zum Standesamt einige Gänseblümchen pflücken, als Brautstrauß."

Nathan sah mich verwundert an. "Du willst keine richtige Hochzeit?"

Ich schüttelte den Kopf. "Ich brauche das alles nicht. Ich will nur dich."

Meine Worte hingen in der Luft, während er nachzudenken schien. "Von mir aus gerne, Ella, aber ich möchte nicht, dass du es im Nachhinein bereust."

Ich legte ihm eine Hand an die Wange. "Ich will nicht länger warten, Nathan. Lass uns morgen heiraten. Bitte."

Er nahm meine Hand von seiner Wange und küsste die Innenfläche. "Warum denn gleich morgen? Hat jemand etwas gesagt?"

Diesmal war ich es, die überrascht blickte. "Was? Nein, es hat niemand etwas gesagt. Aber wenn du nicht willst, ist das in Ordnung-"

"Oh, doch.", antwortete er ohne zögern, "Ich will dich mehr als alles andere."

Seine Worte berührten mein Innerstes und ließen mein Herz einen Schlag aussetzen.

"Ich dich auch.", erwiderte ich flüsternd, woraufhin er mich wieder fester an sich zog. Ich schmiegte mich an seinen Körper und seufzte zufrieden. Für eine Sekunde verweilten wir so und sagten nichts. Noch bevor er einschlafen konnte, hob ich den Kopf und sah zu ihm auf. Er erwiderte meinen Blick.

"Küss mich, Nathan.", flüsterte ich.

"Ella...", setzte er an, doch ich legte die Finger auf seine Lippen.

"Bitte.", hauchte ich, "Küss mich als wäre es das letzte Mal, Nathan."

*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~

Hallo meine Lieben,

ich möchte einmal eine Triggerwarnung aussprechen und all diejenigen informieren, die keine sexuellen Inhalte lesen wollen. Im nächsten Kapitel wird es heiß hergehen, deshalb wollte ich das vorab einmal gesagt haben. Ihr verpasst keine inhaltlichen Informationen, die wichtig für den weiteren Verlauf der Geschichte sind, wenn ihr das kommende Kapitel überspringen wollt. Das ist überhaupt kein Problem!

Ich war erst hin und hergerissen, ob ich ein solches Kapitel schreiben möchte, aber ich möchte es gerne versuchen und als beste Möglichkeit sehe ich es als getrenntes Kapitel hochzuladen, um denjenigen, die das nicht lesen möchten, eine Möglichkeit zu geben es leichter wegzulassen.

Deshalb erscheint das besagte Kapitel gleich im Anschluss. Für diejenigen, die dieses nicht lesen möchten, geht es ab nächste Woche weiter!

Fühlt euch fest gedrückt,

Eure MissCaffrey

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