Ella - Die Stille nach dem St...

By sibelcaffrey

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"Du kannst versuchen es zu leugnen, dich zu widersetzen und mich von dir fern zu halten. Ich werde aber nicht... More

Prolog
1. In der Zeit gefangen
2. Der Herr des Hauses
3. Retterin in der Not
4. Die neue Krankenschwester
5. Tatsächlich Zigeunerin?
6. Schlaflose Nacht
7. Gebrochen - Teil 1
8. Gebrochen - Teil 2
9. Der leise Held
10. Der Ball
11. Nass im Regen
12. Der Brief an die Öffentlichkeit
13. Der Verehrer
14. Mi Casa Es Su Casa - Teil 1
15. Mi Casa Es Su Casa - Teil 2
16. Erschwerungen
17. Im Mondschein
18. Rendez-vous mit dem guten Freund
19. provokative Provokation
20. Nathan Kurt
21. Der Kampf - Teil 1
22. Der Kampf - Teil 2
23. Heimweh Teil 1
24. Heimweh Teil 2
25. Wie Du mir, so ich Dir
26. Neues kommt, Altes geht
27. Unerwartete Gäste
28. Du und ich
30. Wettlauf gegen die Zeit
31. Alles oder Nichts
32. Schicksal
33. Das Erwachen
34. Prinzipien, welche?
35. Die Zeit rückt näher
36. Liebe, der Zeit zum Trotz
37. Blick in die Zukunft (ENDE)
Epilog
FORTSETZUNG

29. Alles findet seinen Platz

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By sibelcaffrey

Der Schock saß tief. Selbst am nächsten Tag noch konnte ich an nichts anderes mehr denken, als an den Heiratsantrag, den Nathan mir gemacht hatte. Ich saß gerade in der Kutsche auf dem Weg ins Krankenhaus, als ich unsere Unterhaltung nochmal im Kopf Revue passierte...

D-Das geht mir einfach zu schnell!", hatte ich völlig aufgelöst gesagt.

Nathan hatte langsam meine Hand von seinem Mund genommen. Ein undefinierbarer, dunkler Schatten lag in seinen Augen. „Du hast doch noch gar nicht gehört, was ich sagen wollte."

Ich wusste, dass mir die Röte ins Gesicht geschossen war. „Ich weiß sehr wohl, wofür eine solche Schatulle genutzt wird, Nathan." Ich war seinem Blick ausgewichen. „Findest du es nicht etwas übertrieben mir einen Antrag zu machen, nur damit die Leute nicht hinter unserem Rücken reden?"

Er sagte einen langen Augenblick lang nichts. Dennoch konnte ich ihm nicht in die Augen sehen. Da hatte er seine Hand an mein Kinn gelegt und mein Gesicht gehoben, damit ich ihm in die Augen sehen musste. Er sah mich eindringlich an, als würde er verlangen, dass ich ihm genau zu hörte. „Ich finde es interessant, dass du denkst, mich könnte irgendjemand oder irgendetwas dazu zwingen einer Frau einen Antrag zu machen. Wenn ich mir nicht sicher wäre, könnte mich nichts auf dieser Welt dazu bringen, Ella."

Ich hatte ihn überrascht angesehen.

„Ich weiß, dass ich dich will, Ella. Und nur deshalb mache ich dir diesen Antrag."

Ich konnte nicht umhin mich geschmeichelt zu fühlen. Seine Worte glichen einer Liebeserklärung.
Meine Unsicherheit schien ihn jedoch verletzt zu haben. Das letzte, was ich aber wollte, war es ihn zu verletzten. Zumal hatte ich mich sehr über den Antrag gefreut. Ich hatte einfach nur nicht damit gerechnet in diesem Moment. Schließlich hatte ich mir selbst erst vor kurzem die Liebe zu ihm eingestehen können. Es kam nun alles Schlag auf Schlag.
Außerdem kam ich halt aus einem Jahrhundert, in dem man erstmal eine jahrelange Beziehung führte, bis man sich dazu entschied zu heiraten. Es hatte also nichts damit zu tun, dass ich nicht wollte - ganz im Gegenteil. Ich war es nur nicht gewohnt gewesen.

„Darf ich nun bitte meinen Antrag machen?", fuhr er fort und riss mich aus meinem Gedankenkarussell.

Er wartete gar nicht erst eine Antwort ab, sondern kniete sich sofort vor mich hin. Atemlos sah ich zu ihm auf. Nathan Kurt, ein skrupelloser und eiskalter Geschäftsmann, hatte sich vor mich hingekniet und sah dabei noch dazu atemberaubend gut aus. Er blickte auf die Schatulle hinab, drehte sie für einen Moment nachdenklich in der Hand, als überlege er weise über seine Worte nach. Dann öffnete er sie und hielt mir den Ring hin. Ich hatte aber keine Augen für den Ring, sondern sah wie gebannt nur zu Nathan auf. „Ella,", begann er. Dabei sprach er meinen Namen aus, als wäre es ein Gedicht. Jedenfalls fühlte es sich für mich so an. „Ich bin kein Mann, der gerne die Kontrolle abgibt oder viel Romantik bieten kann. Ich bin mir auch im Klaren, dass du nicht die typische Ehefrau sein wirst, die sich einfach unterwerfen und keine Widerworte geben wird. Aber ich habe für mich erkannt, dass ich das brauche in meinem Leben. Ich war bisher umgeben von scheinheiligen Menschen aus leeren Hüllen. Deshalb wollte ich auch nie heiraten. Du aber hast alles verändert. Du hast mich verändert. Und so unangenehm mir Veränderungen auch waren, mittlerweile will ich es nicht mehr missen müssen. Ich kann allein den Gedanken nicht ertragen dich eines Tages an einen anderen Mann zu verlieren. Ich würde alles dafür tun, derjenige sein zu dürfen, der jeden Tag mit dir einschläft und aufwacht, der dich küsst und dich glücklich macht. Selbst mit dir zu diskutieren, macht mir auf absurderweise Spaß. Ich will keinen Tag mehr ohne dich verbringen. Die Stunden vergehen langsam, wenn du nicht da bist. Ich kann immerzu nur an dich denken. Noch nie habe ich so sehr den Verlangen nach einer Familie verspürt wie jetzt. Ich möchte eine Familie... aber nur mit dir, Ella. Ich möchte dich als meine Frau. Und ich bin bereit dafür alles zu geben, was es braucht. Ella Blanc...würdest du mich heiraten? Wärst du bereit mich als deinen Mann zu akzeptieren?"

Ich war sprachlos. Mir war nicht klar gewesen, wie viel Zärtlichkeit in Nathan Kurt stecken konnte. Jedes Wort hatte er mit Sorgfalt ausgewählt und mit Vorsicht ausgesprochen. Wer weiß, wie lange er sich Gedanken gemacht hatte. Ich hatte am ganzen Körper eine Gänsehaut, während er mich wartend ansah. Mein Herz klopfte mir wie wild gegen die Brust. Ich wusste nicht, wann ich mich das letzte Mal so gewollt gefühlt hatte. Ich war erfüllt von Liebe und am liebsten hätte ich mit mindestens genauso schönen Worten eine Antwort gegeben. Aber ich war zu überwältig. Stattdessen sagte ich mit zittriger Stimme nur: „Ja, ich will."

Ohne eine weitere Sekunde zu verschwenden, schoss er plötzlich vor und ergriff meine Lippen mit seinen. All die Erleichterung waren in seinem Kuss zu spüren. Dass er sich bis zu meiner Antwort völlig angespannt hatte, war mir nicht aufgefallen. Er entspannte sich jedoch an meinen Lippen und küsste mich innig. Es schien fast so, als würde er jeden noch so kleinen Zweifel, der vielleicht noch in mir sein könnte, versuchen zu vertreiben. Er gab mir all seine Liebe und Sehnsucht zu spüren. Ein wohliger Schauer überflutete mich und ich erwiderte den Kuss mit derselben Intensität und Leidenschaft. Es fühlte sich so an, als wäre ich nach einer langen Reise endlich zu Hause angekommen.

Wie das Licht am Ende des Tunnels.

Wie die Stille nach dem Sturm.

Er zog tief die Luft ein, als wolle er mich komplett aufnehmen. Er legte eine Hand an meine Wange, um den Kuss zu vertiefen. Ich ließ ihn Besitz von mir ergreifen, wie als hätte ich das schon immer gebraucht. Es fühlte sich an, als hätten wir seit jeher zu einander gehört, aber wussten es bisher nur nicht. Fast so wie die Ebbe und die Flut oder wie die Sterne und der Mond. Es war schwer in Worte zu fassen, aber ich wusste, dass ich nicht mehr ohne ihn leben könnte. Und ich war mir sicher, dass er dasselbe fühlte.

Langsam ließ er von meinen Lippen ab, aber hauchte mir noch zahlreiche Küsse auf die Wangen, Nase und Stirn.
Daraufhin sah er auf die Schatulle herab und nahm den Ring heraus. Er hielt meine linke Hand in seine und war im Begriff ihn in mein Finger zu stecken, als mir ein Gedanke kam.

„Nathan.", sagte ich atemlos aber bestimmt. Er hielt inne und sah fragend auf. „Ich hätte da eine Bedingung."

Er seufzte amüsiert. „Hätte mich gewundert, wenn nicht."

„Ich möchte ausziehen.", erklärte ich. Damit schien er nicht gerechnet zu haben. Überrascht zog er die Augenbrauen hoch. „Ich möchte ungerne, dass die anderen Hausmädchen denken, dass sie mich anders behandeln müssten. Wir sind inzwischen gute Freunde geworden und ich möchte nicht, dass das einen Beigeschmack bekommt. Außerdem wäre es merkwürdig noch als Hausmädchen zu arbeiten, wenn wir verlobt sind. Ich würde dann am besten nur noch im Krankenhaus arbeiten."

„Du weißt, dass du gar nicht mehr arbeiten brauchst als meine Frau.", sagte er sanft.

Ich schüttelte den Kopf. „Ich arbeite ja nicht im Krankenhaus, weil ich arbeiten muss. Ich tue es freiwillig."

Er dachte eine Sekunde über meine Worte nach, ehe er nickte. „In Ordnung. Ich schaue dann bei nächster Gelegenheit in der Nähe nach einer Wohnung."

„Solange halten wir die Verlobung bitte noch für uns, Nathan. Ich will wirklich nicht, dass die Stimmung im Anwesen kippt."

Die Idee schien ihm allerdings nicht zu gefallen. Er runzelte die Stirn. „Ella, ich werde niemandem verschweigen, dass du meine Verlobte bist - meinen Angestellten erst recht nicht. Wenn mich jemand darauf ansprechen sollte, werde ich ganz sicher kein Geheimnis draus machen. Ich lasse nicht zu, dass wir uns ständig verstecken müssen. Wenn du aber noch für einige Tage geheim halten möchtest, wer genau dein Verlobter ist, dann ist das in Ordnung. Aber deinen Ring trägst du trotzdem. Du bist offiziell vergeben und das soll man auch so wissen."

Beschwichtigend legte ich ihm eine Hand an die Wange und nickte einverstanden. Ich beugte mich vor und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen, welchen er ohne zögern erwiderte. Er sah mir tief in die Augen, als würde er befürchten, ich hätte noch Einwände. Doch ich lächelte ihn an und hielt ihm ermutigend meine Hand hin. Er nahm sie in seine und steckte den Ring vorsichtig an meinen Finger.
Erst dann sah ich mir den Ring genauer an. Er war aus silber und sehr dezent. Schöne Verzierungen umrahmten einen blauen Diamantstein. Dieser funkelte wunderschön im Licht der Sonne. Ich brauchte Nathan nicht zu fragen, um zu wissen, dass der Ring sehr wertvoll war.

„Es ist ein Familienerbstück.", erklärte er, hob meine Hand an seine Lippen und küsste ihn.

Ich war nun verlobt - und nicht mit irgendwem, sondern mit Nathan Kurt. Würde ich nicht schon sitzen, wären mir wahrscheinlich die Knie weich geworden bei dem Gedanken. Die Schmetterlinge flogen in meinem Bauch wie wild umher. Ich konnte mir das Lächeln nicht verkneifen. Auch Nathan lächelte. Ich hatte ihn noch nie so glücklich gesehen.

Die Kutsche bog auf die Straße, in der das Krankenhaus lag. Unbewusst drehte ich den Ring an meinem Finger hin und her, während ich in Gedanken war. An diesem Morgen hatten wir uns nur kurz an der Tür gesehen. Er musste los, um die eingeladenen Forscher vom Bahnhof abzuholen. Als er am Türrahmen stand und sein Blick auf den Ring an meinem Finger fiel, war mir das kleine Lächeln auf seinen Lippen nicht entgangen. Mein Herz hatte einen Sprung gemacht bei dem Anblick. Noch immer lächelte ich bei dem Gedanken.

Die Kutsche hielt etwas abseits vom Eingang des Krankenhauses und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf das Hier und Jetzt.
Als der Kutscher mir dir Tür öffnete, drang mir sofort der Geruch von Asche in die Nase. Das Glücksgefühl in mir wurde von Unbehagen verdrängt. Ich stieg mit einem mulmigen Gefühl aus der Kutsche, bedankte mich knapp beim Kutscher und machte mich sofort auf den Weg zum Hintereingang des Krankenhauses. Ich trat in den kühlen Korridor, woraufhin bereits aus der Ferne das Husten und Weinen der Kranken zu hören war.
Bedrückt ging ich schnellen Schrittes zur Umkleide, die vom Hintereingang aus besser zu erreichen war. Ich zog mich umgehend um. Die provisorische Schutzmaske und die Handschuhe gehörten inzwischen zu der Standardausrüstung dazu.

Gerade als ich aus dem Raum gehen wollte, kam Großschwester Helene völlig erschöpft rein. Sie riss sich die Maske vom Gesicht und ließ sich auf die Bank fallen, die bei ihrem Gewicht leicht nachgab und ein knarzendes Geräusch machte. Schweratmend öffnete sie die oberen Knöpfe ihres Kleides. „Ella, gut dass du gekommen bist. Wir brauchen jede Unterstützung, die wir kriegen können. Es ist inzwischen nicht mehr auszuhalten!"

Ich reichte ihr ein Tuch, mit dem sie sich die in Schweiß gebadete Stirn wischte. „Ich bin heute im Labor zugeteilt. Ich soll Dr. Thomas und die Gastforscher unterstützen.", erklärte ich mit einem entschuldigenden Blick.

Sie seufzte fassungslos. „So ein Mist! Hoffentlich bringt es wenigstens etwas, dass sie kommen." Sie wischte sich den feuchten Nacken mit dem Tuch und dachte kurz nach. „Könntest du vielleicht solange aushelfen, bis sie eintreffen? Dr. Thomas war mit Mr. Kurt zum Bahnhof gefahren, um sie zu empfangen. Das dauert sicher noch etwas."

„Natürlich.", versicherte ich.

„Ich habe einen neuen Patienten in der 34, hatte aber noch nicht die Gelegenheit gehabt nach ihm zu sehen. Kannst du mal schauen, ob er überhaupt noch lebt?"

Es war erschreckend und traurig zugleich, dass man inzwischen froh war, wenn die neu eingetroffenen Kranken noch atmeten. Ich nickte bedrückt. „Mache ich sofort."

Ohne weiter Zeit zu verschwenden ging ich raus und aus dem Korridor in den Hauptflur, wo ich das große Chaos erwartete. Doch zu meiner Verwunderung war es inzwischen viel geordneter im Krankenhaus. Die Toten waren systematisch entfernt worden und die Kranken lagen nicht mehr verloren auf dem Boden herum, sondern hatten alle Betten zugeteilt bekommen. Nathan musste sich um Nachschub gekümmert haben. Auch eine räumliche Abtrennung wurde mithilfe von Vorhängen geschaffen. In der riesigen Halle des Krankenhauses wurden die Betten in Reihen gesetzt und jeweils mit Vorhängen für Abstand gesorgt. Auf diese Weise konnte sicherlich verhindert werden, dass sich Patienten, die aus anderen Gründen hier waren, nicht auch noch anstecken könnten.

Mit dem Alkohol jedoch ging das Personal nicht immer streng um. Ich merkte, wie Flaschen völlig vergessen in irgendwelchen Ecken umgekippt waren und es schien niemanden gestört zu haben.
Ich schüttelte enttäuscht den Kopf, aber sah auch ein, dass es keinen Sinn machte noch weiter darauf zu beharren. Die Leute taten sowieso immer, was sie wollten.

Ich bahnte meinen Weg zum Zimmer 34, wobei ich jedes Fenster aufriss, an dem ich vorbei ging, um für frische Luft zu sorgen. Als ich am Zimmer ankam, trat ich ohne Zögern ein.

Ich warf dem Patienten zunächst nur einen flüchtigen Blick zu, da ich auch in diesem Zimmer erstmal das Fenster öffnen wollte. Nachdem ich mich wieder dem Bett zuwandte, nahm ich das Klemmbrett, um die Patienteninformationen sowie den Gesundheitszustand notieren können.

Ich trat an das Bett und erstarrte im nächsten Moment jedoch in der Bewegung, als ich ein bekanntes Gesicht auf dem Bett liegen sah.

Lieutenant Leonor...

Mir wäre um eine Haaresbreite das Klemmbrett von den Fingern gerutscht. Schockiert starrte ich den totkranken Mann an, der kaum bei Bewusstsein schien, während er auf dem Bett lag. Sein Atem krächzte und war schwer. Wie es schien, war er kein Offizier mehr, denn er trug verdreckte Lumpen als Kleidungsstücke. Sein Bart wucherte buchstäblich in alle Richtungen und machte einen ungepflegten Eindruck.

Nathan hatte demnach sein Versprechen gehalten und ihm buchstäblich alles genommen. Mr. Leonor hatte nicht mal jemanden, der ihn ins Krankenhaus begleiten oder nach ihm sehen würde. Mutterseelenallein lag er da auf dem Bett.

Ich verspürte eine tiefe Genugtuung, die mich selbst entsetzte. Meine inneren Wunden lagen so tief, dass ich tatsächlich schadenfroh war ihn in so einem Zustand zu sehen. Ich sollte eigentlich professionell sein und über den Dingen stehen, aber ich konnte nicht. Er wollte mich vergewaltigen und hat es vermutlich bereits oft genug bei anderen Frauen geschafft. Der Gedanke allein genügte, um ihn hier liegen zu lassen und den Rücken zu zukehren. Alles in mir sträubte sich dagegen ihm zu helfen. Sei die Hilfe noch so klein. In meinen Augen hatte er keine Gnade verdient gehabt. Am liebsten hätte ich ihn seinem Schicksal überlassen.

Doch ich biss die Zähne zusammen. Ich würde nicht nochmal seinetwegen meine eigenen Prinzipien missachten. Ich hatte bereits einmal meine Fassung verloren und wäre Nathan nicht rechtzeitig da gewesen, wäre es vermutlich schlimm ausgegangen. Aber das würde nie wieder passieren. Ich war angehende Ärztin und musste objektiv und distanziert bleiben, selbst wenn ich einem Patienten den Tot wünschte.

Der Gedanke ließ mich erschaudern. Ich war nicht nur sauer, nein, ich verspürte tiefen Hass ihm gegenüber. So tief, dass es mich selbst erschreckte.

Ich versuchte mein Bestes mich zusammenzureißen. Mit voller Konzentration untersuchte ich ihn und notierte kurz und knapp seinen Gesundheitszustand auf.
- Puls schwach, aber da.
- Niedriger Blutdruck 80/50 mmHg
- Pupillen geweitet
- Ziehendes Geräusch aus den Lungen
- Rachen gerötet und entzündet

Gerade als ich das Klemmbrett beiseite legen wollte, öffnete er die Augen einen Spalt. Unsere Blicke kreuzten sich. Ich erstarrte für einen Moment aus Angst, doch schüttelte das Gefühl sofort wieder ab. Unter der Maske schien er mich nicht wieder zu erkennen. Wahrscheinlich hatte er in seinem Zustand ohnehin nicht die Kraft gehabt sich viel Gedanken drüber zu machen, wer genau ihn behandelte.

„Schwester.", krächzte er hervor und hob eine Hand, um mich am Ärmel zu packen. Mir gefror das Blut in den Adern. Zu meiner Überraschung war sein Griff sehr eisern und fordernd. Ich hielt das Klemmbrett in meinen Händen fest und wappnete mich für alles, was passieren könnte.

„Helfen Sie mir!", flehte er mich jedoch an mit einem Wimmern in der Stimme und zog an meinem Ärmel.

„Lassen Sie mich los.", zischte ich. Dabei blitzten Erinnerung vor meinem Auge auf, als er sich gewaltsam auf mich gelegt hatte und ich ihm genau dasselbe gesagt hatte. Lassen Sie mich los...

Ich riss mich aus seinem Griff los und kehrte ihm den Rücken zu. Ich musste mich kurz fassen. Meine Knöchel stachen hervor, als ich das Klemmbrett in meinen Händen fast zerbrach. Ich konnte meine Wut schlecht in Worte fassen. Mit dem letzten Funken Vernunft, der in mir war, trat ich an den Schrank um das Morphium rauszuholen. Mit schnellen Handgriffen hatte ich etwas davon in eine Spritze gezogen.
Noch nie empfand ich ein moralisch richtiges Handeln als so schwer, wie in diesem Moment. Ein dunkler Teil in mir wollte ihm am liebsten eine Überdosis verpassen. Einen solchen Tot hätte niemand überprüfen können. Jeder wär davon ausgegangen, dass er an der Krankheit gestorben war. Doch ich klammerte mich mit letzter Willenskraft an meinen Ärzteschwur, dass das Wohlergehen meiner Patienten immer an erster Stelle stünde, und injizierte ihm das richtig dosierte Schmerzmittel in die Vene.

Ohne abzuwarten bis es wirkte, ging ich sofort aus dem Zimmer. Ich biss heftig die Zähne zusammen und rieb mir mit beiden Händen übers Gesicht mit der Hoffnung wieder etwas klar denken zu können. Ich hatte nicht viel gemacht, aber mehr wollte ich nicht für ihn tun. Er würde jetzt keine Schmerzen mehr haben, bis sich die nächste Schwester um ihn kümmern konnte. Mehr durfte man nicht von mir erwarten.

So kurz die Begegnung auch gewesen ist, so heftig war auch der Schock. Denn damit hatte ich nicht gerechnet. Es war schon fast eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet der Mann, der mir schlimme Dinge antun wollte, nun auf meine Hilfe angewiesen war. Es schien mir wie Karma gewesen zu sein.

Man sieht sich immer zwei Mal im Leben.

Ich strich mir die Hand an meinem Kleid ab, als hätte ich etwas dreckiges getan und ging weiter, um anderen Patienten zu helfen. Ich versuchte mich so gut es eben ging abzulenken. Ich wollte nicht mehr dran denken müssen. Ich hatte getan, was meine Pflicht war - nicht mehr und nicht weniger. Aber mehr Barmherzigkeit hätte niemand von mir erwarten dürfen.
Innerlich schüttelte ich den Kopf. Ich hatte doch tatsächlich ein schlechtes Gewissen für meine bösen Gedanken, die ich ihm gegenüber hatte. Doch hatte ich allen Recht dazu gehabt.

„Sie sind da." Großschwester Helene berührte mich am Arm, woraufhin ich leicht zusammenzuckte. Ich war gerade dabei einem Patienten ein nasses Tuch auf die heiße Stirn zu legen. Sofort verstand ich, wen sie meinte und nickte.

Es war also soweit. Der Kampf gegen die Seuche hatte begonnen.

Ich legte alles beiseite und lief ohne weiteres den Gang herunter zur Eingangshalle. Durch die offenen Türen konnte ich bereits Nathans Kutsche aus der Ferne sehen, die vor dem Eingang gehalten hatte. Ich trat heraus und sah neben Nathan, Schmidt und Dr. Thomas noch vier weitere Herren. Drei von ihnen waren Mediziner und einer schien wie Schmidt ein Gehilfe zu sein, denn er packte die schweren Koffer aus der Kutsche aus, während die anderen in Gespräche verwickelt waren.

Nathan bemerkte mich an der Tür und wandte sich von den Männern ab. Er hob stumm den Arm und nickte mir zu, damit ich näher kommen sollte. Etwas verlegen trat ich an seine Seite und er legte wie selbstverständlich seine Hand an mein Rücken. „Meine Herren, das ist Ella Blanc.", stellte er mich den Ärzten vor, „Sie ist Krankenschwester und wird Ihnen während Ihrer Arbeit im Labor zur Hand gehen."

Die Herren nickten mir zur Begrüßung zu.

„Ella, das ist Dr. Alexandre Yersin.", erklärte mir Nathan, „Er hat Proben von einem Bakterium dabei, von dem er vermutet, dass es sich auch bei unserer Krankheit handelt. Unter dem Mikroskop will er die Parasiten vergleichen."

Dr. Yersin war ein junger Mann mit kurzgeschorenen schwarzen Haaren. Er hatte einen gepflegten, dichten Bart und einen Blick in den Augen, der nach Forschung und Wissenslust durstete. „Es wäre toll, wenn Sie dafür bei einem Patienten mit fortgeschrittenen Symptomen eine Speichelprobe aus dem Rachenraum entnehmen würden, Schwester.", bat dieser mich höflich und kramte aus seinem Aktenkoffer eine Petrischale heraus, die er mir reichte.

Ich nickte und nahm diese entgegen. „Natürlich."

„Das ist Dr. Bartolomeo Gosio.", fuhr Nathan fort, „Er hatte aufgrund der Arbeiten von Dr. Pasteur erkannt, dass ein bestimmter Schimmelpilz dabei helfen könnte Bakterien zu bekämpfen. Er hat seine Arbeit noch nicht veröffentlich, da ihm noch Daten fehlen. An der Krankheit aber will er sie nun testen."

„Ein Schimmelpilz?", fragte ich verwirrt.

Dr. Gosio nickte. „Im Labor war dieser bisher sehr effektiv. Klinisch habe ich ihn aber noch nicht überprüft." Der italienische Akzent war so stark, dass ich ihn kaum verstand. Er hatte eine hohe Stirn mit seitlich gekämmten Haaren und einem dunklen Schnauzer über der Oberlippe.

Ich musste einen Moment über seinen Namen nachdenken. Noch nie hatte ich etwas von einem Bartolomeo Gosio gehört. Aber die Schimmelpilz Entdeckung als Bekämpfung gegen Bakterien hörte sich für mich stark nach einem Antibiotikum an. Allerdings könnte das niemals stimmen. Denn meines Wissens nach war es Alexander Flemming, der das Antibiotikum entdeckte. So hatte ich es jedenfalls in der Uni gelernt.

Aus diesem Grund erhoffte ich mir nicht viel von ihm oder seinem Schimmelpilz, behielt diese Info allerdings für mich.

„Und das ist Dr. Louis Pasteur. Er hat sich jetzt kurzfristig dazu entschieden auch zu kommen, nachdem freundlicherweise Dr. Gosio ihm die Lage geschildert hat.", erklärte Nathan weiter und zeigte auf den ältesten Herren in der Gruppe. Obwohl er einen schneeweißen vollen Bart hatte, waren seine Haare auf dem Kopf noch dunkel und zierten einige weiße Strähnen. Mir fiel die Kinnlade herunter. Wahrscheinlich hätte ich ihn niemals erkannt, wenn ich ihn auf der Straße irgendwo gesehen hätte. Aber zu wissen, dass er der Louis Pasteur war, über den später in jedem Biologie Buch geschrieben wird, ließ mich anerkennend atemlos.

Wie gebannt starrte ich ihn an. „Es ist mir eine Ehre Ihnen assistieren zu dürfen."

Er hob die Augenbrauen. „Sie haben von mir gehört, Mademoiselle?"

Ich nickte. „Ihre Arbeit für die Wissenschaft ist weltbewegend, Sir."

Nun sah er mich völlig überrascht an und lachte herzlich. „Sie haben meine Veröffentlichungen gelesen - und verstanden? Mon Dieu, Sie haben da eine sehr kluge Krankenschwester, Monsieur Kurt."

„Ja,", stimmte Nathan ihm zu, „Sie steckt voller Überraschungen."

Ich musste lächeln.

Wenn die nur wüssten, dass das später einfaches Biologie Wissen war...

Dr. Thomas zeigte auf eine Nebentür des Krankenhauses, die zu den Laboren führte. „Meine Herren, wenn Sie mir dann folgen würden. Ella bringt uns gleich noch die gewünschten Patientenproben und kommt dann nach, richtig?"

„Ja, Sir."

Ohne Zeit zu verschwenden, folgten die Ärzte Dr. Thomas durch die Tür. Der Gehilfe, ein schlanker junger Mann, trug eifrig die Koffer hinterher. Schmidt half diesem dabei und ging durch die Tür, ohne mir einen Blick zu würdigen.

Ich wandte mich zu Nathan, der dem Kutscher mit einem kurzen Handzeichen zum Gehen aufforderte. Sofort setzte sich die Kutsche in Bewegung und ließ uns allein.

„Nathan...", sagte ich, woraufhin er zu mir hinab blickte.

„Ist alles in Ordnung?", fragte er, als er mich musterte.

Ich stieß die Luft aus. „Leonor ist hier."

Sofort verfinsterte sich seine Miene, als er den Namen hörte. Er sah über meine Schulter hinweg in den Eingang, als würde er erwarten, dass dieser hinter einer Ecke lauern würde.

Ich schüttelte den Kopf. „Nicht so. Er ist krank und liegt in einem Patientenzimmer."

Nathan runzelte die Stirn. „Krank? Wie krank?"

Ich zuckte die Achseln. „Todkrank."

Er legte mir die Hände an die Oberarme und sah mich durchdringend an. Sein Blick war ernst. „Hat er dir etwas gesagt - oder getan?"

„Nein, er kriegt nicht einmal ganze Sätze Zustande. Es sieht nicht gut aus für ihn."

Er entspannte sich etwas, sah mich aber weiterhin besorgt an. „Und wie fühlst du dich? Du siehst etwas blass aus."

„Ehrlich gesagt, war es nur ein Schock ihn wieder zu sehen. Ich hatte gehofft, dass es niemals dazu kommen würde." Ich sah zu Boden. „Ich habe ihm nur Schmerzmittel verabreicht und bin dann aus dem Zimmer."

Stumm zog mich Nathan in seine Arme und küsste mich auf die Stirn. Ich versank mich in seine Arme und vergrub das Gesicht in seine Brust. Ich atmete seinen Duft ein, was eine entspannende Wirkung auf mich hatte.
Nathan musste gespürt haben, dass ich mich lockerte, denn er sah mich daraufhin abschätzend an. „Ich weiß, dass es dich aus der Bahn geworfen hat ihn zu sehen, aber du hast das Richtige getan, Ella. Ich hoffe, das weißt du. Ich sorge dafür, dass du ihm nicht nochmal über den Weg laufen musst."

„Vermutlich hat er ohnehin nicht mehr lange zu leben...", erwiderte ich leise murmelnd. Nathan nahm mein Gesicht in beide Hände und sah mich tief in die Augen. Ich hätte mich in seinen Augen verlieren können.

„Versuch nicht weiter an ihn zu denken, Ella. Du brauchst dir seinetwegen keine Sorgen mehr zu machen. Ich kümmere mich darum. Du hast jetzt wichtigere Dinge zu erledigen." Er strich mir sanft mit den Daumen über die Wangen. Ich wusste es zu schätzen, dass er versuchte mich abzulenken und aufzumuntern. Er beugte sich vor, um mir einen Kuss auf die Stirn zu hauchen, da hörten wir plötzlich ein dumpfes Geräusch hinter uns. Überrascht drehten wir uns um, nur um Schmidt auf dem Boden vorzufinden. Hinter ihm war die Tür aufgefallen.

„I-Ich habe nichts gesehen, Sir!", stotterte der Sekretär, als er uns eng umschlungen vorfand. Er stand schnell auf und schlug sich den Staub von der Hose.

„Was hast du nicht gesehen?", fragte Nathan mit einer hochgehobenen Augenbraue. Ich war mir nicht sicher, ob ich nicht ein amüsiertes Funkeln in seinen Augen aufblitzen sah. Er machte jedenfalls keine Anstalten mich loszulassen.

„A-Also, Sie und- äh- nichts! Ich habe nichts gesehen!", wiederholte er und hob noch seine Brille vom Boden auf, ehe er hastig zurück ins Gebäude lief.

Wir sahen ihm einen Augenblick hinterher, bevor Nathan sich wieder mir zuwandte. „Wir sollten an die Arbeit."

Ich nickte zustimmend, aber nahm mir noch die Sekunde, um ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken.

*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~

*hämmert die Zeilen in ihr Laptop mit Feuer unterm Hintern*

Ich beeile mich! So schnell ich kann! Ich schwör's!

Ich weiß, dass ihr wieder warten musstet auf das nächste Kapitel, aber ich bin so penibel, was die Qualität meiner Texte angeht - ich kann nicht anders hahah :')

Einzelne Absätze werden oft überarbeitet oder sogar neu geschrieben. Bis ein Kapitel entsteht, passiert viel. Deshalb nehmt es mir bitte nicht übel.

Jedenfalls habe ich mir auch Zeit genommen eure Kommentare einzeln durchzulesen und fand viele Theorien sehr spannend und interessant. Der weitere Verlauf der Geschichte und auch das Ende, das ich mir überlegt habe, kam bisher nicht unter den Vorschlägen vor. Deshalb könnt ihr euch gerne überraschen lassen, was passieren wird *lacht tückisch in sich hinein*

Ich liebe Überraschungen ;)

Habt einen wundervollen Tag meine Lieben! (Und über jeden, noch so kleinen Kommentar freue ich mich übrigens sehr - ich sehe euch alle!)

Eure Miss Caffrey

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