Ella - Die Stille nach dem St...

Por sibelcaffrey

469K 22.2K 6.5K

"Du kannst versuchen es zu leugnen, dich zu widersetzen und mich von dir fern zu halten. Ich werde aber nicht... Más

Prolog
1. In der Zeit gefangen
2. Der Herr des Hauses
3. Retterin in der Not
4. Die neue Krankenschwester
5. Tatsächlich Zigeunerin?
6. Schlaflose Nacht
7. Gebrochen - Teil 1
8. Gebrochen - Teil 2
9. Der leise Held
10. Der Ball
11. Nass im Regen
12. Der Brief an die Öffentlichkeit
13. Der Verehrer
14. Mi Casa Es Su Casa - Teil 1
15. Mi Casa Es Su Casa - Teil 2
16. Erschwerungen
17. Im Mondschein
18. Rendez-vous mit dem guten Freund
19. provokative Provokation
20. Nathan Kurt
21. Der Kampf - Teil 1
22. Der Kampf - Teil 2
23. Heimweh Teil 1
25. Wie Du mir, so ich Dir
26. Neues kommt, Altes geht
27. Unerwartete Gäste
28. Du und ich
29. Alles findet seinen Platz
30. Wettlauf gegen die Zeit
31. Alles oder Nichts
32. Schicksal
33. Das Erwachen
34. Prinzipien, welche?
35. Die Zeit rückt näher
36. Liebe, der Zeit zum Trotz
37. Blick in die Zukunft (ENDE)
Epilog
FORTSETZUNG

24. Heimweh Teil 2

5.6K 355 92
Por sibelcaffrey

Am nächsten Morgen stand ich völlig neben der Spur. Es schien alles wieder so unwirklich, wie an meinem ersten Tag in diesem Haus. Ich wollte alles stehen und liegen lassen und sofort wieder ins Krankenhaus, um nach dem kranken Mann und seiner schwangeren Frau zu sehen. Als ich mich für den Tag fertig machte, hörte ich bereits den Krach und den Trubel im Flur. Für die geplante Feier am Wochenende laufen die Vorbereitungen in Hochtouren. Das Essen, die Musik, die Einladungskarten, das Catering. Alles sollten wir - die Hausangestellten - planen und erledigen. Das hieß also, Mr Kurt plante uns zwar für den Abend mit ein, jedoch nur als Kellner und Kellnerinnen. Ich vermutete stark, damit wollte er auch gleichzeitig sicher gehen, dass ICH mitkriege, wie er sich mit den angesehenen und reichen Damen begnügen wird. Aber ich wappnete mich innerlich bereits und hatte bereits Pläne geschmiedet, wie ich im Fall der Fälle dazwischen platzen könnte.

Aber nicht, dass du denkst, ich hätte vor mich lächerlich zu machen oder mich auffällig in seine Arme zu werfen... aber genau das wollte ich doch?

Ich schüttelte den Gedanken ab, ging aus dem Zimmer und trat in den kühlen Flur.

„Zur Seite!", zischte Rosalie und erschrak mich. Ich drückte mich an die Tür, als sie mit einem Korb voll Einladungen an mir vorbei trampelte. Peter nahm ihr diese an der Eingangstür ab und verschwand aus dem Haus. Wahrscheinlich, um sie rechtzeitig abzuschicken.

„Ich brauche mehr Mehl!", rief Mathilda aus der Küche, „Hilde, bring mir etwas aus dem Keller!"

Gerade als diese aus der Küche lief, prallte sie mit Marie zusammen, die Tischdecken vor sich hertrug. Der Aufprall war demnach weich, sorgte aber zu einem kleinen Aufschrei beider Mädchen. Ich nutzte den Moment, um mich an ihnen vorbeizuschleichen und in Richtung Ausgang zu begeben. Ich hatte gerade meinen Schleier gepackt, da hörte ich ein Räuspern hinter mir, bei dem mir ein kalter Schauer den Rücken runter lief.

„Wohin denkst du, dass du gehst junges Fräulein?", fragte Mr Kurt mit verschränkten Armen, „Es gibt viel zu tun."

Ich seufzte. „Sie verstehen das nicht, Sir. Ich muss ins Krankenhaus. Ganz dringlich." Bei dem Gedanken der kranken Mann könnte schon an seinen Symptomen gestorben sein, ließ mich schwer schlucken.

Er sah meinen besorgten Blick, woraufhin sich etwas in seiner Mimik änderte. „Was ist los?", wollte er sofort wissen.

Ich presste die Lippen. „Ich kann nicht drüber sprechen."

„Dann ist es sicher auch nichts wichtiges."

Ich runzelte die Stirn. „Sir, bitte."

„Ich denke, ich hatte mich klar und deutlich ausgedrückt, als ich sagte, dass für dich keine Sonderregelungen gelten. Du hast zu arbeiten."

„Das ist mir klar.", sagte ich eindrücklich, „und ich will ja auch arbeiten - aber im Krankenhaus. Die anderen Schwestern brauchen mich jetzt. Es ist im Moment wirklich eine kritische Phase."

Er sah mich einen Moment an, während im Hintergrund alle auf und ab liefen und uns scheinbar keine Beachtung schenkten. Als Rosalie an uns vorbei ging, fiel mir jedoch ihr gekränkter Blick sofort auf. Ich wurde unruhig. „Mr Kurt?"

„Warte eine Sekunde.", befahl er und trat zurück. Er ging ins Wohnzimmer und kam wenig später mit seinem Mantel und dem Hut auf dem Kopf wieder zurück. „Ich komme mit."

„W-Was? Wieso das denn?", widersprach ich erschrocken.

„Ich will mir einen Überblick über die Zustände im Krankenhaus machen.", log er wie gedruckt. Ich konnte es in seinen Augen sehen. Er wollte mich beschatten!

„Und was ist mit den ganzen Vorbereitungen für das Wochenende?", fragte ich und konnte mir den sarkastischen Unterton nicht verkneifen, „Immerhin muss alles perfekt werden für Ihre Gäste."

„Das wird es.", versicherte er und ging bereits aus der Tür hinaus.

Ich sah ihm mit offenem Mund hinterher. Das war sein Ernst!

Auf dem Weg zum Krankenhaus hatte ich es schwer mit ihm Schritt zu halten. Er ging nicht nur bestimmt und schnell, er hatte auch noch diese langen Beine, die es mir schier unmöglich machten nicht wie eine Idiotin neben ihm herzustratzen.

„Willst du mir vielleicht jetzt sagen, was es ist, das dich an deinem freien Tag zum Krankenhaus bringt?"

„Ich habe Ihnen doch gesagt, dass die anderen Schwestern mich brauchen.", sagte ich kurzatmig.

„Aha.", antwortete er knapp und beendete damit das kurze Gespräch. Ich wusste, dass er nicht locker lassen würde. Daher musste ich unbedingt versuchen ihn im Chaos des Krankenhauses abzuschütteln, bevor ich zu dem Paar mit meinem Nachnamen gehen konnte.

Im Krankenhaus angekommen, fanden wir einen Zustand vor, den ich kurz und knapp als Katastrophe bezeichnet hätte. Im 21. Jahrhundert wäre ein solches Szenario undenkbar gewesen. In der großen Halle des Krankenhauses schienen alle Betten belegt. Kranke jeden Alters saßen auf dem Boden, kauerten zum Teil dicht beieinander, während die Krankenschwestern mit keiner richtigen Sicherheitskleidung versuchten einen nach dem anderen zu versorgen. Das raue und trockene Husten der Kranken in der Halle ließ mich schier erschaudern.

„Gehen Sie nicht zu dicht ran.", riet ich Mr Kurt und hielt ihn zurück, als er nach einem Patienten schauen wollte, der wie tot auf dem Boden lag.

Er hinterfragte meine Aufforderung gar nicht, nickte nur. Es schien wie ein Instinkt. Man wollte gar nicht zu nah sein.

„Wir müssen unbedingt eine Barriere aufbauen, Sir. Alle Kranken, die hier sind, dürfen das Krankenhaus nicht wieder verlassen, um eine weitere Ausbreitung zu verhindern."

„Und wie sollen wir das anstellen?", fragte Mr Kurt stirnrunzelnd, „Die Leute zwingen hier zu bleiben, selbst wenn wir nichts für sie tun können?"

„Ja.", antwortete ich ernst, „und zwar so lange, wie sie eine Gefahr für die ganze Stadt sein könnten."

Er schüttelte den Kopf und sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Ich ging entschlossen einen Schritt auf ihn zu und sah ihm direkt in die Augen.

„Sonst werden es von Tag zu Tag mehr. Wir werden das hier nicht stoppen können."

„Vielleicht sollten wir auch nicht Gott spielen, Miss Blanc."

„Was hat das denn damit zu tun?", fragte ich entsetzt.

Er seufzte genervt.

„Ich möchte doch nur, um etwas mehr Schutz bitten, Sir."

„Das habe ich bereits verstanden.", erwiderte er trocken.

„Wir könnten ja wenigstens den Ärzten und Schwestern bessere Schutzkleidungen besorgen. Wir brauchen Masken und Handschuhe. Mit Alkohol sollen sie sich regelmäßig die Hände desinfizieren."

„Des- was?", fragte er stirnrunzelnd.

„Die Hände waschen.", erklärte ich.

„Mit Alkohol?", fragte er sichtlich erschrocken, „Das gute Zeug ist zum Trinken da, nicht um sich damit zu waschen, Miss Blanc."

Ich biss frustriert die Zähne zusammen. „Wieso wollen Sie nicht verstehen?"

„Ella", sagte er in einem sehr strengen Ton, der mich erschaudern ließ. Er warf mir einen vielsagenden Blick zu, der „sei endlich still" zu sagen schien. Ich entschied mich einen kühlen Kopf zu bewahren und lieber nichts zu erwidern.

Mit einem strengen Nicken wies er in Richtung Flur und damit ihm zu folgen. Enttäuscht von der erfolglosen Unterhaltung folgte ich ihm in den Flur.

„Gehen wir zu deinem Patienten, für den wir hier sind.", sagte er nun und drehte sich nicht um, während er voranging.

„Woher wissen Sie...?", fragte ich verwirrt, noch ehe ich eine Sekunde überlegen konnte. Er blieb abrupt stehen und drehte sich zu mir um.

„Ich glaube dich inzwischen gut zu kennen.", sagte er in einem sehr kühlen Ton, bei dem es mir den Rücken runterschauderte. Das stimmte. Er kannte mich zu gut.

„Den Gang runter, die letzte Tür rechts.", gab ich widerwillig zu.

Ohne ein Wort zu sagen, steuerte er direkt drauf zu. Vor der geschlossenen Tür angekommen, klopfte er einmal und noch bevor uns jemand hineinbitten konnte, stürmte er bereits rein. Ich schluckte einen bissigen Kommentar runter und folgte ihm ins Zimmer. Mr Blanc lag völlig verschwitzt im Bett, er war wach und sah uns schweratmend an. Seine schwangere Frau saß zu seiner linken auf einem harten Stuhl. Sie strich unbewusst über ihren Bauch. Ein besorgter Blick lag in ihren Augen, als sie mich ansah. Sie wusste, dass es um ihren Mann nicht gut stand. Es muffte schrecklich im Zimmer. Ich ging sofort zum Fenster, um es zu öffnen.

„Guten Tag. Ich bin der Direktor des Krankenhauses.", erklärte Mr. Kurt und griff direkt zur Krankenakte, die am Bettende hing.

Ich drehte mich zu ihm um und studierte sein Gesicht, während er die Akte durchlas. „Ich verstehe...", murmelte er und schloss die Akte wieder.

„Wie es aussieht, werden wir Sie hier noch eine Weile beherbergen müssen, Mr. Blanc.", sagte er dann und sah mich dann mit einem vielsagenden Blick an. Ich schluckte schwer.

„Ich werde sterben, oder?", fragte dieser mit rauer Stimme und sah von Mr. Kurt zu mir und zurück.

„Sag so etwas nicht.", widersprach die Ehefrau sofort und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Für solche Rückschlüsse ist es noch zu früh. Sie sollten sich darauf konzentrieren sich zu erholen. Den Rest überlassen Sie besser uns.", sagte Mr. Kurt mit solch eine Ruhe, die selbst mich zu entspannen schien. Ich strich mir über die Arme, als sich eine Gänsehaut anbahnte.

„Ella, auf ein Wort.", befahl Mr. Kurt knapp und ging aus dem Zimmer in den Flur.

„Ich komme sofort wieder.", erklärte ich Mr Blanc, „Sie sollten etwas Wasser trinken.". Die Frau nickte sofort und stand auf, um ihm ein Glas einzuschenken. Ich folgte Mr. Kurt und schloss hinter mir die Tür. Das wird jetzt ungemütlich.

Mr. Kurt hatte die Arme verschränkt und durchlöcherte mich mit seinem harten Blick. „Hast du eine Erklärung?"

„Wofür?"

Er seufzte. „Du weißt genau, wovon ich spreche, Ella. Warum hat die Familie deinen Nachnamen? Seid ihr verwandt?"

„Ich weiß es nicht.", sagte ich wahrheitsgetreu, „Das wollte ich noch herausfinden."

„Wie? Du weißt es nicht?", fragte er verwirrt.

„Ich weiß es nicht.", sagte ich ernst, „Ich war auch überrascht jemanden mit meinem Nachnamen zu sehen. Vielleicht sind es ja meine Verwandten. Vielleicht kennen sie auch meine Eltern. Ich wollte es noch herausfinden."

„Und dann?", fragte er mit hochgehobener Augenbraue, „Was hast du danach vor?"

„Wie meinen Sie das?"

„Willst du dann gehen?"

Die Frage lag für einen Moment in der Luft. Ich brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, was er meinte. Machte er sich etwa Sorgen, dass ich von hier verschwinden würde?

Mal abgesehen davon, dass ich schon von Anfang an von hier verschwinden wollte, es aber nie geklappt hatte, musste ich mir ein Schmunzeln unterdrücken, als ich fragte: „Ist es nicht das, was Sie wollen?"

Für eine Sekunde schien ein überraschter Ausdruck in seinem Gesicht zu liegen über meine Gegenfrage, doch er fasste sich sofort wieder. „Denkst du, du kannst ihn retten? Er ist sterbenskrank, Ella. Allein um ihn bis Ende dieser Woche am Leben zu erhalten, benötigt es ein Wunder. Das weißt du genau."

Ich wusste nichts zu erwidern. Er hatte recht. Mr. Blanc war dem Tode geweiht. Er hatte eine bakterielle Infektion und ohne Antibiotikum würde er sterben. Aber der Gedanke an seine schwangere Frau ließ mich nicht los. Was würde eine Frau mit Kind ohne Ehemann tun in einer Zeit wie dieser? Was ist, wenn es sich bei diesem ungeborenen Kind um meinen Großvater handelt? Könnte ich ihn dann wirklich einfach seinem Schicksal überlassen?

„Solange du noch die Wahl hast, solltest du nicht weiter nachforschen, Ella. Lass die Finger vom Patienten - zu deinem eigenen Schutz.", erklärte er. Ich hatte fast schon den Eindruck, es ginge ihm gar nicht darum, dass mir der Tod des Patienten sonst zu nahe kommen könnte, sondern seine Besorgnis ich könnte Kontakt zu meiner Familie erhalten und plötzlich verschwinden. „Wenn du unbedingt etwas tun willst", fuhr er fort und riss mich aus meinen Gedanken, „kannst du in der Halle helfen. Da gibt es genügend hilfsbedürftige Menschen."

„Das kann ich nicht tun.", widersprach ich. Wenn auch nur die kleinste Möglichkeit bestand, dass es sich um meine Vorfahren handelte, würde ich alles tun, um ihnen zu helfen. Egal wie. Vielleicht war ich genau aus diesem Grund in diese Zeit zurückversetzt worden. Vielleicht war das mein Schicksal.

Mr. Kurt seufzte genervt. „Aber dir ist klar, dass dir beim Tot des Patienten, der unweigerlich in den nächsten Tagen eintreten wird, keine Sonderrechte zustehen. Ich möchte keine alkoholisierte Krankenschwester gekleidet wie ein Kerl in irgendeiner Bar aufsuchen müssen - hast du mich verstanden?"

Ich seufzte bei der Erinnerung. „Sie haben auch keinen Sinn für Humor, Sir."

„Ob du mich verstanden hast, habe ich gefragt?!"

„Ja, Sir.", antwortete ich zwischen knirschenden Zähnen.

„Sehr gut. Dann tu, was du nicht lassen kannst. Aber ich möchte am Abend einen kurzen Bericht über seinen Zustand erhalten."

Ich nickte widerwillig.

„Und nur zu deiner Info: Du hast einen Vertrag unterschrieben und arbeitest hier. Du kannst erst gehen, wenn deine Arbeit getan ist.", sagte er fast schon beiläufig. Mein Herz machte einen Satz.

„Wohin soll ich denn gehen, Sir?", fragte ich ehrlich und sah ihm tief in die Augen. Er erwiderte kurz den Blick, ehe er sich abwandte.

„Du findest mich in meinem Büro." Er drehte sich um ohne mir einen weiteren Blick zu würdigen. Als er durch den Flur ging, trat jeder beiseite, sobald er auch nur in ihre Nähe kam. Es war unbeschreiblich mit welch einer Aura er durch den vollen Gang trat. Ich konnte den Damen ansehen, wie sie den Atem anhielten, während Mr Kurt sie nicht mal wahrzunehmen schien. Die Herren sahen zu ihm mit Ehrfurcht. Selbst ich, die so selbstbewusst schien, wurde warm bei dem Anblick seines Rückens - JETZT REISS DICH ZUSAMMEN ELLA!

Ich gab mir selbst eine geistige Ohrfeige und riss meinen Blick von ihm. Das kann doch nicht wahr sein! Was ist mit meinen Hormonen los? Das ist doch lächerlich! Von wegen Aura! Von wegen Ehrfurcht! Dieser Mann schiebt immer eine Fresse - deshalb will man ihm aus den Weg gehen!

Ich schüttelte den Kopf und doch konnte ich nicht anders und sah nochmal den Gang hinunter; doch er war weg.

Umso besser, dachte ich mir, dann kann ich mich jetzt wenigstens auf das Wesentliche konzentrieren.

Ich ging zurück ins Zimmer. Mrs Blanc sah auf, als sie ihrem Mann eine Strähne von der verschwitzten Stirn strich.

Ich ging wortlos an den Schrank im Raum und zog eine Kanüle sowie eine Spritze heraus. Nachdem ich das Morphium in die Spritze gezogen hatte, ging ich auf Mr Blank zu, krempelte ihm den Arm hoch und injizierte ihm das Schmerzmittel. Von der Menge, die ich ihm gab, hätte man auch abhängig werden können, jedoch wird er in diesem Leben sicher kein Junkie mehr.

„Das wird seine Schmerzen lindern.", erklärte ich seiner Frau, die mir einen fragenden Blick zu warf. Sie nickte auf meine Antwort zufrieden.

„Sein Hals tut ihm beim Sprechen weh. Inzwischen kann er kein Wort mehr sagen. Ständig ist er nur am Husten. Wann wird er wieder zu Kräften kommen?"
Ich runzelte die Stirn, weil ich ungerne neben ihm sprechen möchte, der mich mit müden Augen ansah.

„Wenn Sie wollen, sprechen wir gerne draußen einen Moment.", bot ich an und zeigte zur Tür.

Ihr gefiel meine Antwort sichtlich nicht, jedoch widersprach sie nicht und stand wortlos auf, um mir aus dem Zimmer zu folgen.

„Mrs Blanc.", fing ich an.

„Er wird sterben, richtig?", fiel sie mir ins Wort. In den Augen glitzerten die Tränen.

Ich fand für einen Moment keine Worte. Wie sehr ich mir wünschte, es wäre anders.

„Darf ich Ihnen vielleicht einige Fragen stellen?", fragte ich stattdessen.

Sie presste die Lippen zusammen, als sie keine Antwort erhielt und nickte nur noch,

„Haben Sie weitere Verwandte hier in der Gegend?"

„Hier? Nein.", erwiderte sie bestimmt, „Meine Schwester lebt im Osten. Sie wäre die nahegelegenste Verwandte, die ich habe."

„Ich verstehe." Enttäuscht von der Antwort lies ich die Schultern sinken. „Also haben Sie auch sonst keinerlei Unterstützung in ihrem Zustand?" Ich zeigte auf ihren schwangeren Bauch.

„Es geht mir gut.", antwortete sie ernst. Ich nickte verständnisvoll.

„Wissen Sie wohin sie gehen werden, sollte ihr Mann...", ich überlegte meine Wortwahl für eine Sekunde, „...es nicht schaffen."

Ich sah den Schmerz in ihren Augen. Soweit schien sie noch nicht nachgedacht zu haben. „Ich werde schon klarkommen.", versicherte sie.

„Lassen Sie mich Ihnen helfen, Mrs Blanc."

„Ich will Ihre Hilfe nicht. Sie sollen nur meinem Mann helfen."

„Sie sind schwanger.", sprach ich das Offensichtliche aus.

Sie blieb stumm.

Für einen Moment, der mir wie die Ewigkeit vorkam, sagte niemand von uns beiden etwas. Ihr Schicksal war so ungewiss wie mein eigenes. Ich seufzte innerlich über die Aussichtslosigkeit.

„Ich habe zu Hause etwas Geld beiseite gelegt. Ich werde es Ihnen morgen vorbeibringen. Gehen Sie damit zu Ihrer Schwester. Sie dürfen das Kind nicht alleine auf die Welt bringen. Man wird es Ihnen sonst wegnehmen, Mrs. Blanc.", log ich. Natürlich hatte ich einige Filme gesehen, wo das der Fall war, aber das passierte bestimmt nicht oft - oder?

Sie schluckte schwer und strich sich fast unbewusst über den Bauch. Ich unterdrückte den Drang ihren Bauch zu berühren. Ich fühlte eine Verbundenheit auf einer Ebene, die ich nicht erklären konnte.

„Wissen Sie schon, wie Sie das Kind nennen wollen?" Die Frage kam ohne Absicht von meinen Lippen.

Die Frau schien etwas überrascht über meine persönlichen Frage, doch ich war froh, dass sie trotzdem antwortete: „Wenn es ein Junge wird, nennen wir ihn nach seinem Vater." Ein Lächeln lag auf ihren trockenen Lippen. „Emil Thomas."

Mir stockte der Atem. Sie sprach weiter und erzählte noch, wie der Name lauten würde, wenn es ein Mädchen wird. Jedoch hörte ich nichts mehr, außer das Blut laut rauschen in meinen Ohren.

Ja.

Es wird ein Junge werden.

Und er wird überleben.

Ich wusste das genau.

*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~

Der Schock saß tief. Ich kam den ganzen Tag nicht mehr zu mir. Wie benommen verbrachte ich meine restliche Schichtzeit im Krankenhaus damit, die Vitalwerte des Patienten konstant zu halten. Es war frustrierend mit anzusehen, wie es ihm immer schlechter ging. Ich konnte nichts tun, als den Krankheitsverlauf zu verlangsamen. An Besserung war gar nicht zu denken. Da nicht viel getan werden konnte, musste ich nebenbei noch zu anderen Patienten und schaute immer mal wieder nur vorbei. Mrs Blanc saß wie angewurzelt immer neben ihrem Mann und wich nicht eine Sekunde von seiner Seite. Dennoch schien sie sehr gefasst. Bei Fragen konnte sie ohne Zögern antworten und zeigte keinerlei Trauer. Sie strich sich jedoch immer mal wieder über den Bauch. Mir wurde klar für wen sie versucht stark zu bleiben. Der Anblick zerriss mir das Herz.

Im frühen Nachmittag kam Juli plötzlich vorbei. Ich konnte kaum aufschauen, als sie an der Zimmertür klopfte. „Ella, ich solle dir diese hier vorbeibringen."

Ich tunkte ein Tuch in eiskaltes Wasser, bevor ich aufsah und erstarrte. Sie trug eine improvisierte Stoffmaske über der Nase und viel zu große Handschuhe.

„W-was hast du da an?", fragte ich und konnte meinen Augen kaum glauben.

„Mr Kurt hatte uns beauftragt auf die Schnelle Schutzkleidung für die Besatzung zu erstellen. Wir haben die Stofffetzen aus Kleidung einfach zusammengeschnitten." Sie hielt mir ein solches Stofffetzen hin. „Du trägst das so, in dem du diese Löcher an deine Ohren hängst und die unteren Ecken am Hinterkopf verknotest. So rutscht es nicht weg."

Wie benommen tat ich, was sie sagte und hinterfragte nichts. Die Maske war viel zu groß für mein Gesicht und schützte mich nicht sonderlich gut, aber für den Anfang war es nicht schlecht. Sie überreichte mir Handschuhe, die ich anzog, während ich gedanklich bei Mr Kurt war. Ich dachte, er hatte mir nicht wirklich zuhören wollen - und doch hatte er alles in die Wege geleitet und getan, was ich gesagt hatte. Mir wurde mit einem Mal warm ums Herz. Er würde das niemals zugeben, aber er nahm meine Worte ernst! Ich verkniff mir ein Lächeln.

„Danke.", hauchte ich. Sie nickte bloß und ging weiter, um wahrscheinlich noch die restlichen Schwestern mit Schutzkleidung auszustatten. Das erste Mal an diesem Tag empfand ich Freude. Ich konnte endlich etwas bewirken - wenn auch nur mit Mr Kurts Hilfe.

Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sage, aber er schien doch ein weiches Herz zu haben. Ich versuchte mich für den Rest meiner Schicht abzulenken und nicht ständig an ihn denken zu müssen, aber immer wieder kehrten Erinnerungen von Momenten vor meinem geistigen Auge auf, in denen wir uns nahe gekommen waren. Und unweigerlich ärgerte ich mich plötzlich, dass ich ihn kalt habe stehen lassen, nach unserem letzten Kuss. Natürlich, sagte ich zu mir selbst, war er davon verletzt gewesen.

Das war ja auch deine volle Absicht, Ella!

Ich seufzte innerlich, bevor ich zu Schichtende in die Umkleide ging, um mir meine Alltagsklamotten anzuziehen. Dann ging ich in Mr Kurts Arbeitszimmer und klopfte an.

„Herein.", ertönte seine tiefe Stimme.

Ich trat ins große Büro, wo er hinter dem Schreibtisch saß und einige Unterlagen unterschrieb.

„Meine Schicht ist zu Ende, Sir. Ich bin sehr erschöpft und würde gerne nach Hause gehen.", sagte ich. Er nickte und stand sofort auf. Ich war überrascht, dass er ohne Weiteres den Stift beiseite gelegt hatte und nach seinem Mantel griff.

„I-Ich hatte jetzt nicht gedacht, dass Sie auch kommen. Sie können auch weiterarbeiten.", erklärte ich, „Ich wollte nur kurz Bericht erstatten von meinem Patienten, weil Sie das gewünscht hatten."

„Das kannst du auch unterwegs machen.", sagte er trocken und warf sich seinen Mantel über. Er trat auf mich zu und zeigte mit einer kurzen Handbewegung aus dem Zimmer. Ich nickte zögerlich und ging voraus. Er hatte nicht wirklich den ganzen Tag im Krankenhaus verbracht, weil ICH hier war, oder?

Ich biss mir auf die Lippe.

Was wäre aus uns geworden, wenn ich nicht solche Spielchen mit ihm gespielt hätte?

Ich fasse es nicht, dass ich es inzwischen allen Ernstes bereue!

Was war nur los mit mir?

Ich werde doch ohnehin nicht hier - in dieser Zeit bleiben können. Wieso machte ich mir Vorstellungen - oder gar Hoffnungen - von einer Beziehung? Vor allem auch, weil es freie Beziehungen, wie wir sie kennen, so nicht gibt. Hier wird man vermutlich zwangsverheiratet und darf hoffen, einen guten Kerl abzubekommen. Heirat aus Liebe? HA! Wovon träumst du Nachts, Ella?

Wir gingen stumm aus dem Krankenhaus heraus. Draußen traf uns die kühle Abendluft. Ich zog mir meine Jacke über.

Ich erklärte ihm knapp, dass der Patient fürs Erste stabil ist und er Morphium für die Schmerzen bekommen hat. Vermutlich ist es eine Infektion der Atemwege, die nun auch seinen Kehlkopf und daher auch seine Stimme erwischt hatte. Mr Kurt hörte mir nur zu und sagte nichts. Am Ende meines Berichts nickte er nur stumm. Ich konnte nicht sagen, was er dachte. Seine Miene war undurchschaubar.

Nachdem wir eine ganze Weile nichts sagten, versuchte ich das Thema zu wechseln und fragte ihn etwas, was mir schon seit heute Morgen auf der Seele lag: „Wollen Sie mir vielleicht sagen, was diese Feier am Wochenende soll?"

„Das geht dich gar nichts an.", erwiderte er in seiner altbekannten sturen Art.

dAs GeHT DiCH gaR NicHts aN, äffte ich ihn innerlich nach. Ich verdrehte genervt die Augen.

JETZT weiß ich wieder, warum ich ihn so nervig finde!

„Wir wissen beide ganz genau, weshalb Sie sich entschieden haben aus dem Sponsorenabend plötzlich eine öffentliche Feier zu machen.", sagte ich verärgert von seiner Art.

„Ach ja? Ist das so?"

Ich packte ihn am Arm und zwang ihn abrupt stehenzubleiben. Er sah zu mir hinab, dann auf meine Hand auf seinem Unterarm. Ich krallte meine Finger in seinen Mantel. Er hob eine Augenbraue und sah mir tief in die Augen.

„Ich habe doch bereits verstanden, dass du es mir heimzahlen willst.", zischte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Du hast mich zu Siezen, Miss.", sagte er trocken. Ich hielt seinem Blick einen Moment Stand, aber die Kühle, die von ihm ausging, ließ mich erschaudern. Ich lies ihn verbittert los.

„Was soll überhaupt diese weibliche Begleitperson? Das ist überhaupt nicht deine Art!"

„Ich sagte, du sollst mich Siezen.", wiederholte er ernst.

Ich knirschte mit den Zähnen. Wenn das so weiterging, hatte ich bald keine Zähne mehr zum Knirschen.

Er ging weiter, ohne auf meine Frage einzugehen. Wir bogen um die Ecke in die Straße zum Anwesen. Er schien nicht zu planen mir zu antworten.

„Ich habe Sie etwas gefragt!", sagte ich schließlich, als ich die Stille nicht mehr ertrug.

„Mir war nunmal der Sinn nach einer Begleitung.", zischte er schließlich zurück.

„Ach! Ganz plötzlich!", stieß ich hervor.

„Ja.", erwiderte er genauso genervt.

„Irgendwie ist das schwer zu glauben."

„Glaub, was du möchtest."

Ich stieß die Luft raus. Mit ihm zu diskutieren, war wie ein ausgeklügeltes Schachspiel. Ich konnte gar nicht gewinnen... Es war sein Fachgebiet.

„Haben Sie denn schon eine Begleitung nach Ihren Wünschen gefunden?", fragte ich bewusst provokativ.

„Das geht dich gar nichts an."

Das scheint wohl sein neuer Lieblingssatz zu sein.

„Dann darf ich mir wohl auch eine Begleitung suchen!", erwiderte ich gespielt gleichgültig.

Er schnaubte verächtlich. „Du darfst an dem Abend höchstens die schmutzigen Teller waschen."

Ich musste mir ein Schmunzeln unterdrücken. Na also, es geht doch. Ich wusste genau, dass unter der kühlen Fassade ein Teil von ihm verborgen liegt, der mich nicht in den Armen eines anderen Mannes sehen will.

„Also ich finde es ja süß, wie Sie denken, dass Sie mich abhalten könnten.", sagte ich mit sarkastischem Unterton.

Er drehte sich zu mir um mit so dunklen Augen, dass mir die Luft wegblieb. „Süß, dass du denkst, dass du überhaupt an der Feier teilnehmen darfst."

„Wieso? Wollen Sie mir denn nicht Ihre Begleitung zeigen?", fragte ich provokant und sah wie es in seinen Augen blitzte.

„Was ist dein Problem, Ella? Ist das denn nicht genau das, was du wolltest?", fragte er zurück. Ich erkannte meine Frage von heute morgen wieder. Er fragte mich allen Ernstes dieselbe Frage. Innerlich kochte ich vor Wut. Ich hasste es, dass er meine Taktiken anwandte.

„Warum sollte ich das wollen?", fragte ich ernst zurück.

Für einen Moment schien die Zeit stehen zu bleiben. Er sah mich mit einem Mal völlig aufgewühlt an, als wäre er überrascht. Diese Antwort schien er nicht erwartet zu haben. „Weißt du denn überhaupt, was du wirklich möchtest, Ella?" Seine Stimme wurde plötzlich ganz rau.

Sein Blick raubte mir die Luft aus den Lungen. Es blitzte etwas in seinen Augen auf, das ich fast schon als Schmerz bezeichnet hätte. Ich öffnete den Mund zu einer Antwort, jedoch kam kein Ton heraus.

„Ich möchte meine Zeit nicht mehr mit solchen Dingen verschwenden.", sagte er in einem ernsten Ton, „Im Gegensatz zu dir, weiß ich nämlich ganz genau, was ich möchte." Sein Blick durchbohrte mich und hinterließ ein erschauderndes Gefühl in mir. Ich wollte so vieles sagen. So vieles. Und gleichzeitig gar nichts. Ich wusste, was ich wollte. Aber ich konnte nicht aus meiner Haut.

„Aber nicht so.", fuhr er fort und schüttelte enttäuscht den Kopf. Er drehte sich um und ging die letzten Meter ins Anwesen.

Seine Worte trafen mich auf eine Weise, die ich so nie gespürt hatte. Sie rissen ein tiefes Loch in mir auf...

Seguir leyendo

También te gustarán

389K 22.9K 35
Damit ihre geliebte Schwester Diane den Mann ihrer Träume heiraten kann, willigt Lady Allana Redvers ein, für ihren Vater eine Kleinigkeit zu tun: Nä...
128K 10.7K 47
(2. Teil) Lillith hat die Hunter und ihre Freunde aus der Schule hinter sich gelassen. Jetzt fängt sie bei den Savern ein neues Leben an. Aber ein Ge...
250K 18.8K 37
*WATTYS 2017 GEWINNER* *CREATIVITY AWARDS 2017 GEWINNER* DER 2. TEIL DER VERURTEILTEN - REIHE! Kann als eigenständiges Buch gelesen werden, für be...
Tialda Por snowleopard074nit

Ficción histórica

45.6K 2K 29
Das junge Mädchen Tialda wird als Sklavin genommen, als die Dunja ihre Provinz erobern. Durch einige Umwege landet sie schließlich in dem Haushalt ei...