Vom Tode unberührt

By InkOfInspiration

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» Die Nacht des Winterkönigs naht. Und wenn er kommt, dann geht er nie alleine. « ... More

Das Mädchen, der Tod und die anderen
I. Wenn der Winter kommt
II. Die Warnung eines Priesters
III. Gebete und Flüche
IV. Von Wölfen und Schafen
V. Wo die dunklen Wasser flüstern
VI. Verbranntes Fleisch und gefrorene Knochen
VII. Ein Herz im Käfig
VIII. Der Hunger unserer Toten
IX. Unter den knochigen Armen der Kiefern
XI. Sing, kleine Schwalbe, von den Feuern an Mittwinter
XII. Der Tod und das Mädchen namens Leben
XIII. Östlich der Morgenröte, westlich der Abenddämmerung
XIV. Inferno
Glossar

X. Das letzte Morgengrauen

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By InkOfInspiration


VOM TODE UNBERÜHRT
X. Das letzte Morgengrauen

❆          ❆          ❆

Chaja war immer noch wach, als die Morgendämmerung über das Walddorf hereinbrach. Ebenso wie der gesamte Haushalt der Raskins. Selbst Ulja und Ilja, denen sie jede weitere Erklärung für die düstere Stimmung, ihre halb erfrorene Mutter und das Feuer, das in dieser Nacht den Himmel erhellte, ersparten, konnten nicht mehr lange schlafen.

Sie alle waren müde, dunkle, pflaumenblaue Schatten unter den Augen die einzige Farbe in ihren erschöpften Gesichtern, doch die Schrecken der Nacht hingen an ihnen wie die glimmende Asche, die den Schnee verdunkelte, und der Hauch des Todes und raubten ihnen den Schlaf.

„Nein, du wirst dich erkälten, Mama", meinte Majda leise und zog die Felle wieder dorthin zurück, wo sie gelegen hatten, bevor Dorka sich von ihnen befreit hatte. Zu ihrer Besorgnis schien ihre Mutter sie nicht zu hören, ihre Augen wanderten ziellos durch das Zimmer, während sie nickte.

„Kalt ... kalt ... Ja, Vanja muss frieren ... Bring sie zum Ofen, ja?", murmelte Dorka.

„Sie wird nicht frieren, das verspreche ich." Majda zwang ein Lächeln auf ihre Lippen, obwohl sich ein verräterischer Glanz in ihre Augen stahl, und streichelte Dorkas Hand. „Sie schläft jetzt friedlich."

Geköpft und verbrannt.

Nur die Stimme des Priesters und die segnenden Berührungen drangen wirklich durch den Nebel ihres Trancezustand, verschafften ihr ein wenig der Klarheit von Svets Licht. Der Gott, der wieder einmal seine Kinder verraten hat. Sein steinhartes Herz konnte durch ihren Schmerz nicht erweicht werden.

„In Svets Reich wird deine Tochter niemals Kälte leiden", erklärte der Priester.

„Hat sie es jetzt gefunden, Meister?" Dorka schaute ihn ängstlich an. „Was ist, wenn sie immer noch in der Dunkelheit verloren ist?"

„Hab keine Angst. Ich habe ihre Seele geleitet. Ruh dich jetzt aus, Kind." Seine spindeldürren Finger schlossen ihre Augen, so wie er es am Abend mit Vanjas getan hatte, um ihnen den Blick auf den Himmel zu verdecken. Als ob diese Geste Dorka tatsächlich von der Last des Wachseins befreite, entspannte sich ihr faltiges Gesicht und sie sank in einen sanften Schlummer.

Davor, der die letzten Stunden über mit den Befehlen des Priesters beschäftigt gewesen war, hörte auf, sein Schwert zu schärfen. Die schlaflose Nacht war ihm von allen am wenigsten anzumerken. Seine Augen leuchteten klar und wachsam und in all seinen Bewegungen lag die Präzision eines Mannes, der kein bisschen Ruhe entbehren hatte müssen.

„Es ist so weit."

„Dann lasst uns gehen." Chaja erhob sich. Ihre Beine fühlten sich in diesem Moment nicht mehr schwach, sondern schon taub an. Außer dem bandagierten Unterarm konnte sie ihren Körper kaum noch spüren.

„Chaja ...", murmelte Majda überrascht.

„Uns?" Davor blinzelte sie verwirrt an.

„Ihr braucht ein unschuldiges Kind, nicht wahr? Ich werde Iljuscha sicher nicht mit Euch gehen lassen. Ihr müsst also mit mir Vorlieb nehmen. Ich bin jung und unschuldig genug." Ilja und Uljascha hatten durch die jüngsten Ereignisse schon genug durchmachen müssen. Nichts konnte Chaja davon überzeugen, Davor Kazminov den kleinen Jungen zum Ausheben von Gräbern und Enthaupten von Wiedergängern mitnehmen zu lassen.

„Nein, das werde ich nicht zulassen." Abram richtete sich auf.

„Du willst also, dass Iljuscha stattdessen geht?", fragte Chaja. „Er ist sieben."

Sie wappnete sich für die folgende Diskussion, aber ihr Vater schwieg. Ilja war nicht mehr so mutig und schien stadtessen sogar erleichtert zu sein, in der Wärme ihres Hauses bleiben zu dürfen. Und der Soldat zuckte bloß mit den Schultern, nachdem er im Gesicht des Priesters nach Zustimmung gesucht hatte.

„Gut. Dann, Chaja Abramovna, dürft Ihr den Weg weisen."

Der Friedhof, in den zarten Schleier von Nebel gehüllt und den ersten blassen Sonnenstrahlen beleuchtet, wirkte friedlich und beinahe freundlich, als sie ihn erreichten. Niemand hätte vermutet, dass er untote Kreaturen beherbergt. Trotzdem führte Chaja Davors Stute über die Gräber und wartete darauf, dass etwas geschah.

„Du hast mich gestern überrascht. Ich hätte dich nicht für so hartherzig gehalten und – du scheinst viel über Untote zu wissen", sagte Kazminov und ging neben dem Pferd her; ein ehrenwerter bielograder Bogatyr, bereit, sich dem Tod und seinen Kindern zu stellen.

Chaja blickte auf seinen blonden Haarschopf hinunter, den er sich heute nicht gekümmert hatte, mit einem Hut zu bedecken. Der Soldat schien nicht zu frieren, während sie selbst unter ihrem warmen Mantel in der eisigen Sonne fröstelte.

„Meine Großmutter hat es mir beigebracht."

„Sie war also –"

„Eine leidenschaftliche Liebhaberin von Märchen. Eine Eigenschaft, die ich von ihr geerbt habe", unterbrach ihn Chaja.

„Wo ist sie jetzt?", fragte Davor, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

„Wir sind gerade auf dem Weg, sie zu besuchen", kam ihre ruhige Antwort.

„Was ist passiert?"

„Der Winter hat sie geholt."

Chaja hatte die ganze Nacht darüber nachgedacht: Stimmen, die nach Einlass verlangten, Menschen, die behaupteten, den Tod gesehen zu haben, andere, die verschwanden – starben – und Tote, die aufstanden ... Vasilisas Geschichte wurde lebendig, aber auf eine so grausame Weise, als wollte sie sich über ihre Naivität lustig machen. Was hätte ihre Großmutter wohl davon gehalten?

„Hüte dich vor den Stimmen im Wald", hatte sie einmal gesagt. Und als Chaja sie gefragt hatte, ob die Märchen wahr seien, ob es ein Haus mit Hühnerbeinen, einen Jungen namens Ivan Zarewitsch, der ein Mädchen namens Marja Morewna liebte, und einen Todesgott namens Karatschun gab, hatte sie ihr durch die Haare gestrichen und geantwortet: „Manche Märchen sind wahr, manche sind nur das. Geschichten. Das ändert jedoch nichts an der Wahrheit ihrer Bedeutung. Vergiss nie, wenn du eine Geschichte erzählst, machst du sie zu einem Teil der Wirklichkeit."

Jovanka hatte ihren Kindern gesagt, sie sollten die Dunkelheit lieben, denn nur die Einfältigen hielten den hellerleuchteten Pfad immer für den sichersten. Und nun kam der Priester und lehrte sie, die Dunkelheit noch mehr zu fürchten als je zuvor.

Man sagte, jemanden unter dieser Erde zur letzten Ruhe zu betten, bedeutet, der Trauer einen Altar zu geben. Doch als Chaja vor dem Grab ihrer Großmutter stand, spürte sie nichts. War das nicht seltsam? So nah konnte sie ihrer Großmutter nie wieder sein und ihr Herz blieb unbewegt. Aber nur ein Blick auf ihren Kamm, ihre Stickerei, ihren gewohnten Platz am Ofen und es zog sich vor Trauer zusammen.

So war es bis heute gewesen. Denn die Angst, nicht nur Erde und Steine und die kleinen Holzpfähle zu sehen, sondern ihren Körper in untoter Gestalt, lag ihr kalt und schwer im Magen wie eben jene Steine, die die Gräber markierten.

Noch war nichts geschehen. Die Stute ging mit denselben gleichmäßigen Bewegungen von Grab zu Grab und da war nichts als ein stiller Friedhof. Vielleicht lagen die Erzählungen in diesem Fall falsch ...

Doch dann erhob sich der Wind mit einem leisen Murmeln, das Pferd scheute und Chaja spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. „Hier."

Kazminov blickte zu ihr auf. „Bist du sicher?"

„Bin ich." Warum, wusste sie nicht. Chaja glitt vom Rücken der schnaufenden Stute, streichelte Zvjezdas Kopf, um sie zu beruhigen, und wandte sich dann dem Grab zu, das der Soldat gerade zu öffnen begonnen hatte.

Bis sie den Leichnam sahen, hatte Chaja gehofft, dass sie sich geirrt hatte, dass sie alle tot waren und sich kein weiterer Upir' unter ihnen befanden. Doch all diese Hoffnung zerfiel in dem Moment zu Staub, als die Überreste eines Dorfbewohners zum Vorschein kamen, der erst vor wenigen Monaten gestorben war.

Die Wangen des Mannes mittleren Alters waren rötlich, als hätte er gerade geschlafen, wenn auch von einer unnatürlichen Farbe. Nägel und Mund waren blutverschmiert. Die Lippen zusammengepresst schloss sich Chajas Griff so fest um das Holz der Schaufel, dass ihre Knöchel weiß unter der Haut hervortraten. Sie hoffte, dass das Opfer, das das Monster gefunden hatte, kein Mensch gewesen war.

„Du hattest recht", meint Davor, als wäre er ehrlich überrascht.

„Lasst uns keine Zeit verlieren. Das Gesicht muss nach unten zeigen, nicht wahr?"

Sie spürte, wie er sie beobachtete, als sie sich zu der Leiche hinunterbeugte, die Kräuterschnüre in der Hand, die sie letzte Nacht geflochten hatten. Aber er sagte nichts. Stattdessen half er ihr nur, den Leichnam umzudrehen, band ihm die Hände auf den Rücken und hob dann sein Schwert, um zu wiederholen, was er gestern Abend getan hatte.

Von Chajas Lippen glitt ein gemurmeltes Gebet zu keinem Gott im Besonderen, sondern zu jedem von ihnen, der es erhören würde und der Seele des toten Bauern Frieden schenken wollte. Sie musste wahrgenommen worden sein, denn ein merkwürdiger und vertrauter Schatten, durchscheinend in den ersten Sonnenstrahlen, verweilte über dem Grab. Wie der in ihrem Haus. Der Reiter auf seinem Pferd.

Ja, wahrgenommen, aber vom Falschen.

Hier ist er. Karatschun oder einer seiner Diener. Kämpf doch gegen ihn, wollte sie sagen, aber ihre Stimme weigerte sich und so verschwand die Gestalt, ungesehen von dem Soldaten.

Davor legte den Kopf auf die abgeschnittenen Füße, die das Wesen daran hindern sollten, sein Grab zu verlassen, falls es nicht ganz gebannt war. „Mit Feuer wäre es einfacher und sicherer. Und weil ich davon ausgehe, dass ihr keinen eurer Verstorbenen so begraben habt, dass sie nicht zurückkommen können, würde ich vorschlagen, sie alle zu verbrennen."

„Alle Leichen verbrennen, die hier liegen? Das ist Wahnsinn", hörte Chaja sich ihre Stimme erheben, obwohl sie wusste, dass es Kazminov in keiner Weise berühren würde. Der Gedanke, jedes dieser Gräber zu öffnen, die Toten zu stören und den Friedhof in einen großen Scheiterhaufen zu verwandeln, ließ sie sich ans Zaumzeug der nervösen Stute klammern und eifrig die Mähne streicheln, um sie beide zu beruhigen. Das Pferd schien ihr das einzige lebendige Wesen hier zu sein – oder zumindest das einzige, das auch ein Herz besaß.

Davor ließ die Klinge in den Schnee sinken und säuberte sein Schwert somit von dem Schmutz, der es bedeckte. Die Gelassenheit, die ihm ins Gesicht geschrieben stand, oder vielmehr das Fehlen von Emotionen in seinen hübschen Zügen, ließ die frische Morgenbrise noch kühler erscheinen. „Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für Empfindelei."

„Aber der richtige Zeitpunkt, die Menschen noch mehr zu verängstigen, ist es? Ich verstehe, was getan werden muss, aber wir müssen es leise tun. Panik in Lasow kurz vor Mittwinter scheint mir alles andere als förderlich." Dem Priester vielleicht schon, denn es hätte nur seine Macht vergrößert. Und Davor Kazminov war sein treuer Untergebener.

Einen Moment lang herrschte Schweigen und er schien ernsthaft über ihre Worte nachzudenken. „Kein Feuer und keine Gräber mehr also, kleine Predigerin", entgegnete er schlicht, „aber ich kann nicht versprechen, dass ihr so vor den Toten sicher sein werdet."

„Wenn nicht, werde ich sie aufhalten. Ich habe es schon einmal gesagt – wenn irgendjemand oder irgendetwas meiner Familie schaden will, werde ich ihn bekämpfen", antwortete Chaja.

Seine Mundwinkel zuckten amüsiert. „Du willst immer noch gegen Karatschun kämpfen?"

„Ja. Ob Ihr mir glaubt oder nicht."

„Ich hatte bereits die Ehre, einer deiner Geschichten zu lauschen, kleines, gelehrtes Kätzchen. Nennt dich dein Vater nicht so? Erinnert mich an das Märchen. Du bist eine begnadete Erzählerin, das muss man dir lassen", hauchte er und sein schmales, düsteres Lächeln warf einen Schatten auf seine hellstrahlenden Augen.

Chaja schnappte nach Luft. Diese gelehrte Katze verzauberte den Legenden nach mit ihrer Stimme und versetzte jeden, der sie hörte, in einen magischen Schlaf, der heilen konnte ... oder ihr die Möglichkeit gab, ihn zu töten.

Davor hatte seinen Blick bereits abgewandt und suchte nach einem weiteren Opfer für seine blutdurstige Klinge.

„Ich bin nicht so begnadet wie Euer Meister, oder? Seine Predigten haben immerhin ein Schwert, das sie ausführt." Dieses Mal wollte sie seine versteckten Drohungen nicht unbeantwortet lassen.

Langsam drehte sich der Soldat wieder zu ihr um und warf ihr einen warnenden Blick zu. „Du trägst dein eigenes auf der Zunge. Bete, dass du nicht eines Tages daran erstickst."

„Besser mit der Wahrheit auf den Lippen sterben als mit Blut an den Händen", erwiderte Chaja mit gerade aufgerichtetem Rücken, ihre Stimme tatsächlich so scharf wie eine Klinge.

„Besser den Mund mit dem Blut von Monstern beflecken als mit dem Schmutz von Zaubersprüchen."

„Und Ihr? Werdet Ihr zu Svet beten, dass er Euch irgendwann ein schlagendes Herz gibt?" Ein schwaches Lächeln umspielte Chajas rissige Lippen. „Wer schon eiskalt ist, der kann nicht im Schnee frieren, Gospodin."

Zum ersten Mal – zu ihrer eigenen Überraschung – hatten ihre Worte ihr Ziel nicht verfehlt, denn ein Schatten verdunkelte sein engelsgleiches Gesicht mit Abscheu und der Zorn vibrierte sogar in seiner klirrend kalten Stimme. „Er kann denen nicht antworten, die nicht seine Kinder sind, aber ... Aber du. Du kannst es."

Was?

Davors Augen brannten mit einem fremden Feuer, als er die Distanz zwischen ihnen überbrückte. Noch nie war er ihr so menschlich erschienen und seltsamerweise machte ihn das umso furchterregender. Eine Sekunde lang schien er bereit, sie mit seinem Schwert zu durchbohren, aber was sie erwartete, war nur der Schmerz seiner kühlen Hand, die sich wie Fesseln um ihren Arm schloss.

„Du kannst die Ketten der Untoten brechen, sogar die eures alten Todesgottes, warum also nicht auch meine?", seine Stimme glühte vor fiebrigem Eifer.

Wovon sprach er?

Chaja wehrte sich gegen seinen Griff, wollte sich ihm entwinden. Vergeblich. „Ich verstehe ni–"

„Was du da gestern getan hast ... Diese Hexerei ...", er spuckte das Wort aus wie etwas Giftiges und doch lag darin ein gewisser Hunger.

Taubheit breitete sich in ihrem Körper aus, schützte sie vor der Kälte und dem Schmerz ihrer durch den Druck wieder geöffneten Wunde. „Worauf wartet Ihr dann noch? Ihr haltet mich für eine Hexe, also warum habt Ihr mich nicht im Wald getötet oder tut es jetzt? Ich weiß, dass Ihr keine Skrupel kennt, Euer Schwert zu benutzen. Könnte es einen besseren Ort geben als hier, wo die Toten ihren letzten Schlaf finden?"

Kazminov schien nicht zuzuhören. „... kann sie mich befreien? Kann sie mich ganz machen?"

Wer seid Ihr?", hauchte Chaja.

„Mein Sohn", ertönte die Stimme des Priesters wie eine Beschwörung über den Friedhof.

Davors Griff lockerte sich und ließ sie zurücktaumeln.

Blitzschnell erlosch das wilde Feuer in seinen Augen und verwandelte sie wieder in Eiskristalle. In seinem statuengleichen Gesicht war keine Spur der aufflammenden Emotionen zu sehen, als wäre etwas in ihm wieder in einen tiefen Schlaf gefallen.

Chaja fragte sich sogar, ob das alles überhaupt passiert sein konnte.

Djewuschka", fügte der Priester hinzu, als er sie erreichte. „wart ihr erfolgreich?"

„Ja, Meister. Aber da könnten noch mehr sein", antwortete Kazminov mit gesenktem Haupt. Chaja suchte in seinem Gesicht nach Spuren der Person, die er eben noch gewesen war, aber die Bestie, die ihre Worte befreit hatten, war wieder in Ketten, versteckt hinter der Fassade kaltblütiger Schönheit.

„Dann macht weiter. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Selbst wenn die Sonne scheint, wird Karatschun mit jeder Sekunde stärker."

„Wie kommt es", fragte Chaja und sprang wieder auf das Pferd, „dass Svet Euch auswählt hat, um sein Wort mit Euch zu teilen, Meister? Er ist nicht dafür bekannt, Gebete so klar zu beantworten."

„Nicht er ist es, der nicht antwortet, sondern die Menschen sind es, die nicht fähig sind, zu hören", antwortete der Priester.

„Aber Ihr seid es?"

Ein dünnes Lächeln umspielte die Lippen des Priesters, das Chaja ganz und gar nicht amüsiert oder mild erschien. „Du bist sehr misstrauisch."

Sie führte Zvjezda weiter, während der Blick von oben auf den alten Mann hinab ihr einen Hauch von Macht verlieh. Davor schritt schweigend vor ihnen her. „Ich würde es vorsichtig nennen. Die Wildnis lehrt uns, es zu sein."

Ohne Probleme folgte der Priester ihnen. „Lehrt sie euch auch, zu den Wesen der Dunkelheit zu beten, statt allein auf Svets Licht zu vertrauen?"

„Nein, aber alle Kräfte zu respektieren, die größer sind als wir, und dass es kein Licht ohne Schatten gibt", erwiderte Chaja und blickte geradeaus, um seinen blinden Augen auszuweichen.

„Du würdest besser daran tun, etwas über Svets Herrlichkeit zu lernen und öfter in die Kirche zu gehen, denn die Schatten, von denen du sprichst, vergiften schnell die Seele."

Als Jovankas Grab an der Reihe war, schlossen sich Chajas Finger fester um das Zaumzeug. Vielleicht war es dumm, vielleicht war es sogar tödlich, aber sie führte Zvjezda vorsichtig nach links, damit ihre Hufe die Erde darauf nicht berührten. Weder Kazminov noch der Priester schienen es zu bemerken.

„Ihr fürchtet um meine Seele?" Chaja wollte fast lachen, doch es blieb ihr wie ihre Worte in der Kehle stecken.

Der Priester blieb stehen, in der Erwartung, dass sie es auch tun würde, und starrte zu ihr hinauf, als ob er sie klar sehen könnte. Und genau so fühlte sich sein Blick auf ihrem Körper an; er sengte durch Fleisch und Knochen und tiefer.

„Das tue ich, Chaja, das tue ich wirklich. Dein Respekt, deine Verehrung sind ihr Weg zur Macht. Dadurch konnte Karatschun deinen Onkel, deine kleine Cousine Vanja, deine Mutter und deine Großmutter holen. Und wer wird der Nächste sein? Werden Uljascha und Ilja diesen oder den nächsten Winter überleben? Was ist mit deiner Tante ... deinem Vater? Werden sie nicht älter? Oder deine Cousine Majda? Stellst du dir diese Frage nicht jeden Tag?"

Wer hatte ihm von ihrer Mutter und ihrer Babuschka erzählt? Sie wollte ihn fragen oder ihm widersprechen – aber zum ersten Mal konnte Chaja einfach nicht, denn der Priester hatte recht. Als er ihre eigenen Gedanken so klar und ohne Scheu aussprach, spürte sie, wie sie sie brutaler durchbohrten, als es Davors Schwert hätte tun können.

Der Priester schüttelte den Kopf. „Und sieh nur, was Karatschun der kleinen Vanjetschka angetan hat, den Toten, die hier ruhen sollen. Wir dürfen uns nicht vor einem so abscheulichen Gott verbeugen. Der Tod ist die Geißel der Menschheit." Während seine Stimme die ganze Zeit über ruhig und sanft blieb, waren es seine Worte nicht.

Chaja nickte, dann merkte sie, dass er nichts sehen konnte und fügte ein schwaches „Ich verstehe, Meister" hinzu, bevor sie Zvjezda weiter trieb. Schwindel ließ die Sonne, den Schnee und die Kiefern, die den Friedhof säumten, vor ihren Augen verschwimmen – bis sie das nächste gestörte Grab erreichten.

Es hätte Stunden dauern können. Die gefrorene Erde gab unter ihren Schaufeln nicht leicht nach, selbst dort, wo hungrige Klauen sie bereits zu öffnen versucht hatten. Der klare Morgen wurde bald düster, als verberge die Sonne ihr Gesicht vor ihren schrecklichen Taten und von Zeit zu Zeit ließ der Himmel ein paar gefrorene Tränen für die Toten von Lasow fallen.

_____________________

𝐀 𝐍 𝐌 𝐄 𝐑 𝐊 𝐔 𝐍 𝐆 𝐄 𝐍

Tja... Was könnte wohl Davors kleines Geheimnis sein? ;)

Habt ihr schon Theorien zu ihm und dem Priester?

(Natürlich stelle ich diese Fragen auch überhaupt nicht, um zu testen wie vorhersehbar meine Geschichte ist *hust hust*)

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