NOT this time [ONC]

By ananasdream

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Engagierte Lehrerin trifft auf Kein-Bock-Lehrer. 𑁍 𑁍 𑁍 Yuna liegt das Wohl ihrer Schüler sehr am Herzen... More

VORWORT
TRIGGERWARNUNG
1 - HASS IST PERSÖNLICH
2 - DIE BESSERE KLASSE
3 - SONNENSTRAHLEN
4 - ZWISCHEN BURNOUT UND KAFFEETRINKEN
5 - UNSICHTBARER FEIND
6 - NIEMALS ENDENDE GESCHICHTE
7 - EIN FREMDER ORT
8 - AUSSERHALB VON SCHULE
9 - ANREISE BEI REGEN
10 - NACHTKLARER HIMMEL
11 - TRÄNEN BEI NACHT
12 - MEIN RÜCKZUGSORT
13 - SCHLAFLOSE NÄCHTE
14 - DER ERSTE SCHRITT
15 - OFFENBARUNGEN
16 - SCHWERE NORMALITÄT
17 - BOTSCHAFT EINES FREMDEN
19 - PFLASTER FÜR MEINE SEELE
NACHWORT

18 - EIN EINGEFRORENES JAHR

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By ananasdream

𑁍 𑁍 𑁍

KURZ nach Junis Tod hat Julian seinen Job gekündigt. Er hat uns mit dem Grund verlassen, sich künftig auf das Schreiben von Romanen konzentrieren zu wollen. Ob er tatsächlich schreibt, weiß niemand so genau. Anfangs habe ich ihn öfter beim Joggen getroffen. Den Blick, den ich ihm zu warf, hat er ignoriert. Er lässt sich nicht bemitleiden und ich schaue zu, wie er mit einer fremden Frau über Banales lacht. Die Fünfte in dieser Woche? Ich habe akzeptiert, dass das zwischen uns vorbei ist. Im Gegensatz dazu fehlt Julian jegliche Akzeptanz, da er den Tod seines Sohns eher verdrängt. Hätte ich nicht eine andere Seite von ihm kennengelernt, käme er mir herzlos vor. In Wahrheit schmerzt der Verlust zu intensiv, um es wahrzuhaben.

𑁍 𑁍 𑁍

Vier Monate später

Er taucht bei uns in der Schule auf, weil er seinen Job wiederhaben möchte. Noch nie habe ich ihn so aus der Haut fahren gehört, wie an dem Tag in Reginas Büro, wo sie ihn abwimmelt, dass das höchstens zum nächsten Schuljahr möglich wäre. »Verarschen kann ich mich alleine! In unseren Klassen sind Schüler, wo es nicht schadet, wenn man Lehrer doppelt steckt.«

Er schlägt auf die Tischunterlage und mir wird bewusst, warum ich ihn schon länger nicht mehr gesehen habe. In seinem Gesicht zeichnen sich tiefe Augenringe ab. Seine Haare liegen so chaotisch, als haben sie Wochen keine Bürste gesichtet. Das Hemd ist schief zugeknöpft. »Julian, du weißt, dass ich das nicht entscheiden kann.«

Sie wird beim Kultusministerium ein Wort für ihn einlegen können. Ob sie das nicht macht, weil sie es für unklug hält, ihn in seinem Zustand unterrichten zu lassen? Sein Kopf hebt sich und als er geradewegs in meine Richtung schaut, entgleiten ihm die Gesichtszüge. Er stürmt aus dem Büro der Rektorin, als habe ich ihn beleidigt.

Regina seufzt auf. »Von seinem Nachbarn weiß ich, dass er in letzter Zeit kaum das Haus verlässt. Es schmerzt mir in der Seele, aber wir bekommen momentan keine Stellen ausgeschrieben, selbst wenn wir welche brauchen.« Ich lasse ihre Rechtfertigung links liegen und folge stattdessen Julian. Habe ich etwas getan, was ihn verärgert hat?

Obwohl ich das Gefühl habe, um mein Leben zu rennen – oder wie Julians Protagonist sagen würde – schneller als die Polizei erlaubt, schaffe ich es erst am Haupteingang, ihn abzupassen. Erschrocken stelle ich fest, dass seine Augen von Tränen vollkommen verquollen sind. Eigentlich, nach dem, was ihm widerfahren ist, die normalste Reaktion der Welt. Da ich ihn zuvor jedoch nie weinengesehen habe, trifft es mich unvorbereitet.

»Julian«, hauche ich seinen Namen. Leider fällt mir nicht mehr ein, aber es reicht, damit er gequält sein Gesicht verzieht.

»Nicht«, er schüttelt meinen Arm ab, weil ich unterbewusst nach ihm gegriffen habe. Was habe ich mir dabei gedacht? Schnell setze ich ein paar Schritte zurück. Sofort macht sich wieder das vertraute schlechte Gewissen in mir breit. Junis hat das Gefühl gehabt, ich raube ihm Zeit mit seinem Vater. Es ist unerträglich, sich vorzuwerfen, dass jetzt alles anders wäre, hätten wir uns nie angenähert.

»Tut mir leid, ich-«, bin sprachlos. Da ist so viel, was ich sagen möchte, um ihm seinen Kummer zu nehmen. Es wird nur nicht ausreichen.

»Yuna, bitte. Ich ertrage es nicht, dich zu sehen. Am liebsten würde ich dich an mich ziehen und nie wieder loslassen. Aber das darf ich nicht, weil das bedeuten würde, ich würde seinen Vorschlag akzeptieren. Und das tue ich nicht.«

Keine Ahnung, von welchem Vorschlag er spricht, aber es wird um Junis gehen – um seinen Tod. Also renne ich ihm nicht hinterher, als er die Schule verlässt. Etwas anderes bleibt mir kaum übrig.

𑁍 𑁍 𑁍

5 Monate später

Er arbeitet wieder in der Schule, in einer siebten Klasse, während ich mich in der Dritten einlebe. Im Lehrerzimmer laufen wir uns über den Weg. Manchmal erwische ich ihn, wenn er alleine ist, wie er das Lehrwerk aufgebracht in die Ecke schmeißt. In solchen Situationen bleibt mir nicht viel übrig, außer den Raum zu verlassen.

Am Donnerstag steht die Tür zu unserem Lehrmittelraum offen. Jemand knallt mit voller Inbrunst die Schranktüren und wühlt drin herum. Durch das Fluchen erkenne ich sofort, dass Julian dort ist. Fast wäre ich weitergegangen, doch dann höre ich, wie er Selbstgespräche führt - und ich sorge mich. »Das ist alles deine Schuld. Ich verbocke es deinetwegen. Davor hat es wenigstens ein bisschen funktioniert.«

Meint er mich? Oder sieht er Junis' toten Geist? Hoffentlich nicht Letzteres. Wie kann ich ihn davon überzeugen, dass nicht alles in seinem Leben schief läuft? Mein Räuspern lässt ihn zusammenzucken, scheinbar hat er sich wirklich mit einem toten Geist unterhalten.

»Nein«, faucht er. »Ich finde die verfluchten Landkarten nicht. Und mein Unterricht ist scheiße. So richtig. Noch grauenvoller als zu dem Zeitpunkt, wo du meintest, ich soll mich mal mehr ins Zeug legen.«

»Das nimmt dir keiner übel«, murmele ich.

»Sollten sie aber! Das ist schließlich mein Job.« Er räumt weiterhin Lehrbücher aus den Regalen, um sie auf den Schrank drauf zu stapeln. Ich vermute, selbst wenn hier irgendwo Landkarten existieren, würde er sie vor blinder Wut nicht finden. Daher stelle ich meine Tasche ab, öffne die andere Seite und helfe ihm beim Suchen. Er spannt sich an, deshalb weiche ich aber nicht von ihm ab.

Frustriert lässt er den Kopf gegen das Regalbrett sinken. »Ist okay. Ich vermisse ihn auch«, entfährt es mir.

Durch den Kommentar bebt sein Oberkörper nur noch stärker. Seine Hände zittern unkontrolliert, bis ihm erneut Tränen über die Wangen laufen. Ich bin mit der Situation überfordert. Gerne würde ich ihn trösten, nur habe ich Angst, damit eine Grenze zu überschreiten. Ich wende mich ihm lediglich zu, als Zeichen für ihn da zu sein, falls er mich braucht.

So hemmungslos, wie er gerade am Schluchzen ist, spielt es ohnehin keine Rolle. Sein Verstand ist ausgeschaltet. Ihm ist völlig egal, wer ihn in diesem Moment auffängt – also nehme ich ihn in den Arm. Das beruhigende Tätscheln auf seiner Schulter hilft nur bedingt. An meinem Brustkorb pulsiert sein Herz. »Nichts ist okay«, schnieft er nach einer Weile, wo er sich ein kleines bisschen beruhigt hat. »Ich habe einen Schüler in der Klasse, der nicht nur wie Junis aussieht. Er verhält sich genauso. Jeden Tag sehe ich ihn, aber irgendwie auch nicht.«

Meine Kehle schnürt sich zu. Es ist grauenvoll, wie er leidet. »Du wirst dich für den Rest deines Lebens an Junis erinnern und ihn in allen möglichen Menschen oder Dingen sehen. Das ist normal und bedeutet nur, dass du ihn sehr geliebt hast.«

Er vergräbt seine Nase weiter in den Stoff meines T-Shirts. »Ich träume oft von ihm. Wie er mir vorwirft, dass ich sein Versprechen nicht einhalte.«

»Welches Versprechen?«

Er versteift sich. »In seinem Abschiedsbrief stand, ich solle genug Mut aufbringen, um mit dir glücklich zu werden.« Von Peinlichkeit erfüllt, löst er sich von mir, um sich wieder den Landkarten zu widmen. »Manchmal werfe ich es auch mir selbst vor. Wahrscheinlich wegen diesen komischen Worten von ihm, er sei der Überzeugung, seine Seele würde in mir weiterleben.«

Fast kommen mir jetzt auch die Tränen, denn den Gedanken finde ich rührend. Es fällt mir sogar leicht, es mir vorzustellen, weil ich im Unterricht die beiden andauernd miteinander verglichen habe. »Da hast du vermutlich recht. Wäre es dein eigener Wunsch, hättest du mir das sicher mitgeteilt, oder?«

»Es spielt keine Rolle, was ich mir wünsche, Yuna.« Die Wut in seiner Stimme ist zurück. Jetzt stellt er die Bücher auf dem Schrank wieder an den rechtmäßigen Platz. Hoffentlich bekommen sie keine Dellen. »Alles, was ich mir erträume, löst sich in Luft auf. Der neue Junis scheint mich übrigens zu hassen. Nicht ohne Grund. Wie gesagt, ich bin ein grottiger Lehrer.«

»Nicht jeder Wunsch wird wahr, aber das heißt doch nicht, dass sie keine Rolle spielen. Ich verstehe, dass du noch immer trauerst und das Gefühl hast, all deine Bedürfnisse hinten anzustellen.« Er sieht nicht nur traurig, sondern auch furchtbar gestresst aus. Dabei ist er es gewesen, der mir den Tipp mit dem Zeit-für-sich-Nehmen gegeben hat. Ich hole mein Handy aus der Hosentasche und öffne einen Instagrambeitrag, den ich mir vor kurzem abgespeichert habe. Es ist eine Methode für den Unterricht, die Mobbing vorbeugt. Ich reiche sie ihm, weil ich dabei sofort an ihn gedacht habe. Das Foto zeigt ein zusammengeknülltes Papier, das weint, und auf dem ein Pflaster geklebt wurde.

»Manche Narben werden für immer bleiben, aber deshalb verdienst du trotzdem jemanden in deinem Leben, der den Schmerz erträglich werden lässt. Und selbst wenn Junis dich in seinem Abschiedsbrief gebeten hat, mit mir glücklich zu werden, bin ich überzeugt davon, dass er mich zu sehr verachtet hat, als dass es ihm um mich ging. Er will nur, dass du glücklich bist.«

Ich räume ihm genügend Zeit ein, um zu erwidern, dass ich ihn glücklich mache, doch er schweigt. Also suche ich weiterhin stumm nach diesen verfluchten Landkarten und beginne zu akzeptieren, dass das mit uns vorbei ist.

𑁍 𑁍 𑁍

3 Monate später

Ganze drei Monate sind verstrichen, seit ich ihm diesen Beitrag auf Instagram gezeigt habe – und heute finde ich ihn nach all der Zeit in seiner Story. Das verwirrt mich ein bisschen, deshalb reagiere ich mit ???.

Die Antwort erfolgt prompt: Ich habe mir vorgenommen, die Methode morgen mal in meiner Verfügungsstunde auszuprobieren.

Ich schicke ihm ein Herzchen und merke erst im Nachhinein, dass das unter Umständen zu viel ist. Schnell schieße ich eine weitere Nachricht hinterher: Deine Schüler werden es lieben. Um das Herz zu erklären.

Können wir uns vorher treffen? Vielleicht kannst du mir noch ein paar Tipps zur Umsetzung geben.

Was ist denn jetzt los? Julian trifft sich freiwillig, um den Unterricht zu planen?

Diesen Nachmittag habe ich Yoga.

:) – dann morgen?

Ich reagiere auf den Vorschlag mit einem Daumen nach oben. Als ich die App schließe, kommt mir die Unterhaltung weiterhin unwirklich vor.

𑁍 𑁍 𑁍

Kurz überlege ich, was ich an Material für unser heutiges Treffen mitnehme. Julian wird sicher nichts vorbereitet haben. Viel wird nicht benötigt. Ein hübsches Plakat zu diesem Projekt besitze ich leider nicht. Am besten, wir gestalten es gemeinsam. Gerade krame ich in allen Schulunterlagen, die wir gebrauchen können, da klingelt es unerwarteterweise an der Tür. Na nu? Haben wir nicht vereinbart, dass ich zu ihm fahre? Oder ist es der Briefträger?

Beim Öffnen der Tür blicke ich auf einen Julian, den ich vor wenigen Monaten gar nicht erkannt hätte. Seine Haare sind gebürstet und ordentlich zusammengebunden. Der trägt ein gebügeltes Hemd und schenkt mir sogar ein leicht verlegendes Lächeln. Ich komme nicht mit.

»Habe ich etwas falsch verstanden?«

Er nickt belustigt. »Hätte ich doch wissen müssen, dass du damals zu der Sorte Mensch gehört hast, die wirklich lernen, wenn sie das ihren Eltern auftischen.«

Hä? »Du willst gar nicht, dass ich dir bei der Vorbereitung helfe?«

Er schüttelt den Kopf. »Nein, das habe ich schon erledigt.« Ich komme mir mit all den Unterlagen albern vor und lege sie auf der Anrichte ab. »Äh, also«, stammelt er und fährt sich schüchtern durch die Haare. Eine Geste, die mein Herz höher schlagen lässt, weil sie Erinnerungen weckt. »Wusstest du, dass es in der Stadt einen neuen Italiener gibt?«

Verwirrt schaue ich ihn an. Bittet er mich gerade um ein Date? »War das eine Einladung?«

Er nickt vorsichtig. »Das heißt, wenn du möchtest. Ich bin nach wie vor ein Wrack, das trauert. Mir ist nur klar geworden, dass das, was mit Junis passiert ist, nicht nochmal passieren darf. Er war zu jung. Deshalb habe ich mir deinen Beitrag auch zu Herzen genommen. Hoffentlich wird er ein Stückchen helfen, dass sich Schüler nicht in die Opferrolle gedrängt fühlen. Und wenn das nichts bringt, dann vielleicht der Roman, den ich bald veröffentlichen werde.« Er atmet langsam seine angestaute Luft aus, verringert dadurch sein rasantes Redetempo. »Yuna, ich vermisse die Zeit, als wir gemeinsam gegen Mobbing vorgegangen sind. Die guten und die schlechten Momente. Es ist schon eine Weile her, bestimmt hast du es wieder vergessen, aber ich nicht. Mein Zug ist wahrscheinlich längst abgefahren, aber wenn du mir die Chance gibst, können wir uns zumindest mal verab-«

Weiter lasse ich ihn nicht kommen. Die letzten Monate seit Junis Tod fühlen sich ohnehin wie eingefroren an. Erst als ich meine Lippen stürmisch auf seine drücke, taut die Zeit auf.

𑁍 𑁍 𑁍

Ich gehöre ja zu der Sorte, die sich erst das Ende überlegt und dann, wie es dazu gekommen ist. Das letzte Kapitel ist also auch hier irgendwie der Grund, warum ich die Geschichte geschrieben habe. Julian würde sich deshalb wünschen, wenn ihr in seinem Unterricht aufpasst 🤣🤣.

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