NOT this time [ONC]

By ananasdream

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Engagierte Lehrerin trifft auf Kein-Bock-Lehrer. 𑁍 𑁍 𑁍 Yuna liegt das Wohl ihrer Schüler sehr am Herzen... More

VORWORT
TRIGGERWARNUNG
1 - HASS IST PERSÖNLICH
2 - DIE BESSERE KLASSE
3 - SONNENSTRAHLEN
4 - ZWISCHEN BURNOUT UND KAFFEETRINKEN
5 - UNSICHTBARER FEIND
6 - NIEMALS ENDENDE GESCHICHTE
7 - EIN FREMDER ORT
8 - AUSSERHALB VON SCHULE
9 - ANREISE BEI REGEN
10 - NACHTKLARER HIMMEL
11 - TRÄNEN BEI NACHT
12 - MEIN RÜCKZUGSORT
13 - SCHLAFLOSE NÄCHTE
14 - DER ERSTE SCHRITT
15 - OFFENBARUNGEN
16 - SCHWERE NORMALITÄT
18 - EIN EINGEFRORENES JAHR
19 - PFLASTER FÜR MEINE SEELE
NACHWORT

17 - BOTSCHAFT EINES FREMDEN

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By ananasdream

Julian Schwab

𑁍 𑁍 𑁍

HEUTE Morgen habe ich mir nichts dabei gedacht, dass Junis darauf beharrt hat, alleine mit dem Fahrrad zu fahren. Ich habe es eben gehörig verbockt. Jetzt ist es vier Uhr am Nachmittag und ich warte vergeblich mit kaltwerdenden Essen. Wo zur Hölle ist er? Versöhnt er sich mit Ben? Ist er zu ihm gefahren? Ist er bei seiner neuen Freundin Camilla? Eine Schwere schenkt sich auf meiner Brust nieder. Etwas zieht sich zusammen, was das Atmen beinahe unmöglich macht.

In der Küche marschiere ich auf und ab, rede mir ein, mich unnötig zu sorgen. Jeden Augenblick wird er auf der Türschwelle stehen. Doch aus den Augenblicken wird eine halbe Ewigkeit. Durch das Fenster sehe ich die sinkende Sonne hinter den Birken verschwinden. Was jetzt? Ich hasse es, mit der Situation vollkommen allein zu sein. Verzweifelt krame ich mein Handy aus der Hosentasche. Ist es überstürzt, mich bei der Polizei zu melden? Vielleicht.

Ich öffne die App unserer Schule, wo ich, weil ich den Lehrerstatus besitze, glücklicherweise jeden kontaktieren kann. Zunächst schließe ich mich mit der Mutter von Ben kurz. Martina kenne ich und fühle mich wohl dabei, ihr zu schreiben. Leider antwortet sie prompt, Junis nicht bei sich zuhause zu haben, und sie hoffe, dass er schnell wieder auftaucht. Wie ich die Eltern von Camilla anschreiben soll, weiß ich nicht.

Es benötigt einige Ansätze, ehe ich mit der Nachricht zufrieden bin:

Liebe Familie Groth, da ich mitbekommen habe, dass ihre Tochter und mein Sohn in letzter Zeit viel Kontakt miteinander haben, wollte ich fragen, ob Junis vielleicht bei Ihnen ist. Er ist bislang nicht nachhause gekommen.

Familie Groth lässt sich mit ihrer Antwort extrem lange Zeit. Mit jeder verstreichenden Sekunde bekomme ich die Krise, bis ich schlussendlich meine Administrationsrechte nutze, um den Onlinestatus von ihnen zu checken. Klasse! Das letzte Mal angemeldet haben sie sich vor vier Monaten. Den Eltern scheint die Schule ja äußerst wichtig zu sein.

Ich tigere mit dem Tastenfeld vor meiner Brust nervös durchs Haus. Mir bleibt nichts anderes übrig, oder? Mit zittrigen Fingern habe ich die 110 bereits eingetippt. Das ist das erste Mal, dass ich bei der Polizei anrufe. Zu Schulzeiten haben wir geübt, wie man sich bei solch einem Gespräch verhält. Ehrlich habe ich das gerade alles vergessen. Am Ende der Leitung tutet es. Eine Frauenstimme meldet sich, doch in dem Moment nehme ich nur den Brief wahr, der gefaltet auf dem Küchentisch liegt. Zuvor ist er mir nicht aufgefallen, aber dort stehen die Worte: für Papa.

𑁍 𑁍 𑁍

Yuna Rodriguez

Am Freitagmorgen stehe ich vor dem Vertretungsplan und rege mich auf, dass Julian heute ausfällt. Das bedeutet, ich werde die Hofaufsicht in der zweiten großen Pause übernehmen. Die Uhrzeit, wo sich die meisten Vorfälle ereignen und man immer beide Ohren offenhalten muss. Des Öfteren hat man das Bedürfnis, sich in zwei zu teilen. Im Schrank mit den Klassenbüchern fehlt das der 10a mal wieder. Hoffentlich hat er es nicht eingesteckt und fällt länger aus. Es ist ein Graus, sich nach einer Woche zu überlegen, was wir im Unterricht erledigt haben und welche Hausaufgaben es aufgab.

Im Lehrerzimmer herrscht gähnende Leere. Ich bin mal wieder die Erste. Insbesondere freitags bin ich lieber pünktlicher, weil wir dann den Briefkasten öffnen. Gerne weiß ich vorher schon, was mich dort drinnen erwartet. Selbst wenn er oft nicht befüllt ist. Zeitweise war es Trend in der Klasse, die verschiedensten Nachrichten hereinzuwerfen. Da ist der Kummerkasten fast geplatzt und ich habe Unsinniges aussortiert. Sie sprechen sich meistens ab, daher wundert es mich umso mehr, an diesem Morgen einen einzigen Zettel vorzufinden. Ich hole ihn hervor, verschließe die Tür dann wieder und lehne mich auf dem Drehstuhl zurück.

Die Schrift ist gerade – fast wie gedruckt, weshalb ich sofort weiß, von wem die Nachricht stammt. Junis. Das ist das erste Mal, dass er den Kummerkasten nutzt. Die ganze Seite ist vollgeschrieben. Er hat sich sogar bemüht, es wie einen Brief aufzubauen – mit Anrede und allem.

In meiner Magengrube sammeln sich Steine beim Lesen der ersten Worte.

Liebe Klasse 7b,

Zwar weiß ich nicht, ob euch die Worte je erreichen werden, dennoch schreibe ich sie in der Hoffnung auf, dass Frau Rodriguez abgebrüht genug ist, um sie laut vorzulesen. Mir wäre es auch lieber, den folgenden Satz zu Papier zu bringen: »Ich werde euch vermissen. Ihr wart die beste Klasse, die man sich vorstellen kann.« Leider stimmt das nicht. Damit möchte ich gar nicht sagen, dass ihr allesamt Monster seid, sondern Menschen, die an die falschen Dinge geglaubt haben. Manchmal reicht eine Person oder ein Ereignis aus und alle stellen sich gegen dich.

Ich wünsche mir gerade, die Gerüchte stimmen. Ben, ich wäre gerne das Monster, was du in mir siehst. Wenn ich dich wegen deiner Sexualität hassen würde, ist die Abneigung gegen mich selbst vielleicht groß genug – um mit eurer Verachtung mitzuhalten.

Bedauerlicherweise kenne ich meinen Wert selbst am besten. An dem Tag, an dem du mir deine Liebe gestanden hast, habe ich einen Freund verloren. Niemand von euch weiß, wie lange ich den Verlust betrauert habe. Schade, aber leider auch verständlich, dass du danach keinen Kontakt mehr wolltest. Ich bin die Sorte Mensch, die ihre Komfortserie fünf Mal hintereinander bingt, aus Angst, eine Neue würde sie enttäuschen.

Camilla, ich habe mich in die Art verliebt, wie du dich um deine kleine Schwester kümmerst. Mit einer Liebe, wie es deine eigenen Eltern nie geschafft haben. Ich habe dir vom Verlust meiner Mutter erzählt und gesehen, dass hinter der herzlosen Fassade ein Mensch steckt. Zwar habe ich dich und Ben belauscht und weiß daher, dass du mich benutzt hast. Ich verübele es dir nicht. Dein gutmütiges Herz wollte einem armen Mitschüler helfen, der homophoben Anfeindungen verfallen ist.

Ich habe dir angesehen, wie du Puzzleteile in deinem Kopf zusammengefügt hast, die nicht zusammen passen. Ein homophobes Arschloch, mit dem du nachmittags über die Verschwörungstheoretiker im Internet lachst. Der dir von Verlust erzählt, dem man hoffnungslos ausgeliefert ist. Du hast mich gefragt, was ich Ben fragen würde, wenn ich könnte. Damals habe ich gelogen und gesagt: »Warum sind wir nicht normal?« Ich kenne die Antwort: Weil niemand das ist.

Die eigentliche Frage, die ich mir stelle, auf die ich keine Erwiderung habe, ist: »Warum nimmst du an, ich sei es wert, so viel von dir selbst zu opfern? Unsere Freundschaft zum Beispiel. Warum glaubst du, niemals jemanden zu finden, der dich bedingungslos liebt?«

Weil sie es dir jahrelang eingeredet haben? Ben, ich würde dir gerne schreiben, dass ich es verstehe und dir vergebe, aber ich kann nicht.

Wegen dir und mir bin ich für unsere Mitschüler nur ein Fremder. Ein Mensch ohne Gesicht. Der Streber, der auf tragische Weise gemobbt wurde. Sie werden meine Geschichte nie erfahren. Sie und wir hörten nicht hin.

Auf der ganzen weiten Welt gab es zuletzt nur eine Person, die sich für mich interessiert hat. Frau Rodriguez, ich würde ihnen gerne schreiben, dass ich mich freue und teile, aber in Wahrheit hasse ich jede Minute, die ich nicht mit Papa verbringe. Und dann, wenn wir Zeit haben, rauben sie mir diese auch. Falls er nicht davon schwärmt, was für eine tolle Lehrerin Sie sind, regt er sich über Sie auf. Ich will nicht der Typ sein, der seinem eigenen Vater kein Glück gönnt. Daher verachte ich Sie leider dafür, dass Sie mich zu solch einem Menschen machen.

Am liebsten würde ich in die Welt schreien, dass ihr beide füreinander bestimmt seid. Es ist wundervoll, zu sehen, wie Papa nach all der Zeit endlich wieder Gefühlsregungen in seinem Gesicht zeigt. Er verdient eine Geschichte, wo ihr zusammen glücklich werdet. Bitte, erweise mir den Gefallen, und gib sie ihm.

Und ich? Habe genug erzählt.

Grüße von einem Fremden

Regina betritt den Klassenraum der 7b mit einer Maske im Gesicht. Ich falte den Brief zusammen. Erst als sich unsere Blicke begegnen, entgleisen ihr die Züge. In dem Moment spüre ich, was sie spürt. Ihre wässrigen Augen kämpfen damit, dass der Damm voller Verzweiflung bricht.

Die Welt ist nicht fair, schreien wir.

Ihr Mund öffnet sich, doch unserer beider Kehlen sind zu verschnürt, um zu sprechen. Im Moment brauche ich sie gar nicht hören. Zu groß ist die Angst, dass sich meine Horrorvorstellungen bewahrheiten.

»Du musst in der ersten Stunde in deiner Klasse bleiben. Junis Schwab ist gestern Nachmittag verstorben.«

𑁍 𑁍 𑁍

Julian Schwab

Hallo Papa,

Das ist der Moment, um dir zu sagen, dass du der beste Papa aller Zeiten bist. Wenn jemand im Leben etwas richtig gemacht hat, dann du. Dass du mein Lieblingsmensch bist, weißt du bereits. Nichts Neues, daher antworte ich heute auf eine Aussage von dir, auf die ich zuvor nie eingegangen bin. Du meintest, ich wäre dir sehr ähnlich.

Leider verdiene ich solch ein großes Kompliment nicht. Mein Leben lang wollte ich Autor werden – so wie du. Es ist nur so: Ich sitze vor einem leeren Papier und mir fehlen die Worte. Über mich gibt es nichts zu erzählen. Ich bin am besten ein Fremder.

Ich denke, ich ahne, warum du uns für ebenbürtig hältst. Wir haben eine ähnlich grausame Vergangenheit erlebt. Du hast immer wieder darauf angespielt. Ich weiß Bescheid. Doch Ereignisse formen uns nicht zu identische Individuen. Mobbing macht uns nicht zu Opfern. Und ein Bedürfnis nach Macht bedeutet nicht automatisch, dass wir Täter sind. In den buntesten Farben erzählt jeder sein Leben anders.

Und ich nutze die Gelegenheit, um dir zu sagen, dass du das am besten hinbekommst. Du bist stark, obwohl andere dir das Gegenteil eingeredet haben. Wenn du mal wieder nach Inspiration für einen Roman suchst, fange bei deinem eigenen Leben an, denn du inspirierst mich jeden Tag aufs Neue.

Trotzdem schaffe ich es nicht, denselben Weg einzuschlagen wie du. Du würdest jetzt sagen, es sei okay – schwach zu sein, und das stimmt. Aber ich kann damit nicht leben, weil ich mir etwas anderes wünsche.

Daher hoffe ich, dass du meinen Traum für mich lebst. Nehme dir eine neue Frau. Nicht, weil du deine erste nicht geliebt hast, sondern weil du unsere Familie genug liebst, um dich selbst glücklich zu machen. Baut euch ein Haus, bekommt Kinder – und schreib weiterhin Romane. Geh wieder mit dem Gefühl von damals in die Schule. Denke weniger an perfekten Unterricht, den du eh nicht auf die Reihe bekommst (sorry) und mehr daran, warum du Lehrer geworden bist: Weil du anderen Kindern helfen willst – welchen wie mir. Zweifle nicht eine Sekunde, dass du mir nicht genug geholfen hast. Weine nicht, weil ich nicht mehr bin, sondern wegen unserer zu schönen, gemeinsamen Erinnerungen. Wir alle werden diese Welt eines Tages verlassen und ich gehe durch dich. Halte mich für verrückt, aber ich schätze, meine Seele wird in dir weiterleben, da du das Leben führst, was ich nicht gemeistert habe.

Dein Junis

Das Papier entgleitet mir. Will er damit sagen-

Nein. Ich stürme aus dem Haus, entschlossen ihn noch in letzter Sekunde zu finden. Meine Stärke existiert nicht ohne ihn. Ihm ist es nicht aufgefallen, aber jeden einzelnen Funken Freude nach Larissas Tod verdanke ich ihm. Hilflos durch die Kleinstadt laufend, frage ich die Passanten über Junis aus. Meine Lunge brennt, allerdings nicht so intensiv wie die letzte Hoffnung darauf, ihn lebendig zu finden. Andere Szenarien sind nicht vorstellbar. Am kompletten Körper zitternd, trotz warmer Außentemperaturen, realisiere ich meine eigene Blödheit. Wieso habe ich die Polizei nicht schon heute Mittag angerufen? Weiß er, dass er immer die oberste Priorität ist?

Kalter Schweiß.

Keine Luft zum Atem.

Schmerzen im Brustkorb.

Ein anschwellender Kloß.

Was, wenn ich zu spät bin?

Was, wenn ich mir die Lebenswelt aus seinem Brief so ohne ihn nicht vorstellen kann?

Wer hat mich gefragt?

Wen kümmert, was ich will?

𑁍 𑁍 𑁍

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