Twos - Ein Märchen von Sommer...

By MaraPaulie

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Als die Herrscher Twos verliessen, kein Ende nahm das Blutvergiessen. Wohin kein Blick der Spinne fällt, ihr... More

Prolog
Kapitel 1 - Es war einmal...
Kapitel 2 - Von Wahnsinn...
Kapitel 3 - ... und Zorn
Kapitel 4 - Buntes Blut
Kapitel 5 - Die Herrscher der Hamronie
Kapitel 6 - Schicksalsfäden
Kapitel 7 - Der Sommermacher
Kapitel 8 - Die Hochburg der Rebellen
Kapitel 9 - Das Attentat von LaRuh
Kapitel 10 - Hüter und Homunculus
Kapitel 11 - Die Last des Schicksals
Kapitel 12 - Tanz der Vampire
Kapitel 13 - Die Verlorenen
Kapitel 14 - Klyuss' Kind
Kapitel 15 - Wunschhandel
Kapitel 16 - Kaitous Winde
Kapitel 17 - Die Schlacht um Aramesia
Kapitel 19 - Dom Askur
Kapitel 20 - Das verkaufte Schicksal
Charakterverzeichnis
Götterverzeichnis
Die Prophezeiung von Sommer und Winter

Kapitel 18 - Lupus memoria

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By MaraPaulie

Bis hinauf zum Kraterrand, hat der Flammenhass alles verbrannt.
Es ist des Lichterlords Versagen, weshalb die Opfer zu beklagen.
Der Herrschende hat Feuerverbot, selbst der Rattenmann ist tot.
Wer von seinem Gewissen geplagt, in keiner Nacht zu schlafen vermag.

~Mile~
26. Moja 80'024 IV ~ Aramesia, Jeshin, Twos

Seine Leibwachen drängten die Menge, die vor dem Ratsgebäude protestierte, mit ihren Schilden an die Häuserwände zurück. Dabei gingen sie rigoros vor, was die Meute noch mehr aufstachelte. Laut buhend stemmten sie sich gegen die Gardisten.

»FEIGER TRICKSTER!«, brüllte einer von ihnen und spuckte Mile an seiner Wachen vorbei an. Im harten Licht der Wyrselsteine wirkte sein Gesicht wie eine verzerrte Grimasse.

»Nicht stehen bleiben, weitergehen!«, zischte Red in seinem Rücken und stiess ihn weiter.

»Bis zum Rand des Mondkaters, brennt die Wut des Grossvaters«, hallte die Stimme des enigmanischen Hohepriesters von den Wänden wider. »Die Antagonisten sich beklagen, nun geht es ihnen an den Kragen.«

Der Pöbel schien bei den Worten des Ramos noch ungehaltener zu werden, ihr Trupp kam kaum noch voran. Jemand warf eine faule Frucht nach Mile und der junge Herrscher zog den Kopf ein.

Eine Hybridin durchbrach die Reihen seiner Leibgarden. In ihren Händen hielt sie einen Schild, auf den mir roten Lettern das Wort ›Sakrileg‹ gepinselt war.

»IGNORIERT DIE ZEICHEN NICHT!«, schrie sie, packte Mile am Kragen und zog ihn so nahe an sich heran, dass er ihren Atem an der Wange spürte. »Begeht nicht denselben Fehler wie Eure Eltern, junger Lord! Hört auf die Prophezeiung, jedes Wort ist wahr! «, zischte sie ihm ins Ohr. »Tötet die Ratte!«

Mile riss sich los und stiess die Frau von sich. Bevor sie sich aufrappeln konnte, hatte Red sie gepackt und zurück in die Menge gestossen. »VORRÜCKEN!«, brüllte sie dann und die Leibgarden marschierten weiter, wie ein Panzer um den jungen Lichterlord herum.

»In Aramesia herrscht Feuerverbot, die verhasste Ratte ist TOT!«, erschallte erneut die magisch verstärkte Stimme des Priesters durch Aramesias enge Strassen und der Protest buhte im Chor.

Von einer Brücke über ihnen warfen Gegendemonstranten Flugblätter auf sie herab, sodass die Sicht noch schlechter wurde. Als Mile eines der Papiere fing und sich das Motiv darauf ansah, wurde ihm flau im Magen. Die mittelalterliche Karikatur zeigte einen Lichterlord, der mit seinem Schwert einen Inker aufspiesste, während er auf einer dicken Spinne ritt.

Glücklicherweise erreichten sie in diesem Moment den Soldatentrupp, der das Ratsgebäude vor den Protestierenden abschirmte. Sie winkten sie durch, woraufhin Mile und seine rote Gefährtin hastig den Treppenaufgang hinauf rannten.

»Wer von seinem Gewissen geplagt, in keiner Nacht zu schlafen vermag«, war das Letzte, was Mile von den Protesten draussen mitbekam, denn als die grosse Eingangstür hinter ihnen zufiel, verstummte der Lärm. Die Ruhe-Runen am Türrahmen erfüllten ihren Zweck. Nur das leise herabrieseln vom Putz an der Wand sabotierte die Stille.

Verstört fuhr sich der junge Lichterlord durchs kupferne Haar, das unterdessen mal wieder geschnitten gehörte. Er musste sich setzen. Glücklicherweise gab es genug verstaubtes Gerümpel in der zerfallenen Empfangshalle, sodass Mile sich auf einem alten Schreibtisch niederlassen konnte.

Zwei Wochen lag ihr Sieg in der Schlacht um Aramesia zurück. Doch seit die Armee in die Stadt eingezogen war, herrschte das Chaos in den Reihen der Rebellen. Ohne Jilva Frihir, der die Werwölfe und Hybriden unterstellt gewesen waren, hatten die beiden Völker ihre politische Stimme verloren. Dabei befanden sie ich in der gesellschaftlichen Hackordnung Twos' ohnehin schon auf den niedrigsten Stufen.

Doch die politischen Fronten hatten sich für alle verhärtet, jeden Tag protestierten mehr Fatuiten vor dem Ratsgebäude. Selbst im Rat hatte sich eine Opposition gebildet. Mile selbst war bei der Schicksalsdebatte so überfordert, dass er dem Beispiel von Generalin Fluc und Königin Amiéle gefolgt war und sich enthalten hatte. Der Rest des Rats war in zwei Lager gespalten. Orion, Löwenherz und Muhme Trude forderten, dass jede Verletzung der Prophezeiung umgehend und so weit wie möglich nichtig gemacht wurde. – Eine Haltung, die auch die Protestierenden vor dem Rathaus vertraten. Die Opposition bildeten die Barbaren und Ikarus, die darauf beharrten, die Situation auszunutzen und lieber an mehr Informationen über die Pläne der Antagonisten herauszubekommen. - Doch an ihrer letzten Sitzung hatte Drosselbart sein Veto eingelegt, die Diskussionen beendet und die Entscheidung allein getroffen.

Und ausgerechnet in diesen Krisenzeiten mussten die Werwölfe und Hybriden sich auf einen neuen, gemeinsamen Anführer ihrer Truppen einigen, um ein neues Ratsmitglied zu stellen... Es hätte kaum komplizierter sein können.

»Warum sind die Fatuiten mit einem Mal so radikal?«, fragte Mile seine Begleiterin in Samt, die gerade eine der Wyrselstein-Laternen von den Wandhalterungen nahm.

»Jetzt weisst du, was ich damals in LaRuh meinte, als ich sagte, dass die Ramos Fanatiker sind«, antwortete sie nüchtern und trat durch den geräumigen Empfangssaal an ihn heran. Der Schutt knirschte unter ihren Stiefeln, als sie sich neben ihn setzte. »Lass dich von den Idioten dort draussen nicht verunsichern, du hast dein Bestes gegeben.« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

Unterdessen hatte Mile das dicke, handgeschöpfte Papier des Flugblatts glatt gestrichen, um es sich genauer anzusehen. Stirnrunzelnd entzifferte er die gotischen Lettern. »Hast du das gelesen? ›Ruhm den Rebellen! – Ruhm dem Spinnenbezwinger! – Ruhm den Chaosgöttern!‹« Er liess das Blatt sinken. »Das ist ein diplomatischer Albtraum, Azzarro und Rosanna werden mich umbringen!«

Die Rote gluckste. »Und genau deshalb halte ich mich lieber raus aus Politik.«

»Aber es stimmt, Red«, flüsterte er mit trockenem Mund. »Ich habe nicht das gemacht, was in der Prophezeiung steht. Das behaupten nicht nur die Ramos, auch Drosselbart hat das an der letzten Ratssitzung zugegeben! Ich verstehe nur nicht, was falsch gelaufen ist!«

Der Blick ihrer Mondaugen flackerte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Erstens solltest du mir nicht verraten, was ihr an euren Ratssitzungen besprecht«, wies sie ihn zurecht und stellte die Laterne neben ihnen auf den staubigen Boden, um ihm die Hände auf den Arm zu legen. »Und zweitens: Wäre es dir lieber gewesen, du wärst wie dein jähzorniger Vorfahr Aodhan in den Flammenhass verfallen, um wahllos jeden zu Asche zu verbrennen, der dir in die Quere kommt?«

Müde schüttelte Mile den Kopf. »Nein, aber darum geht es mir auch nicht. Feivel hat überlebt, dabei sollte er eigen-«

»Uuund nicht weiter!«, unterbrach Red ihn und ertappt klappte er den Mund zu. »Das sollst du nicht mit mir, sondern mit dem Rat besprechen«, erinnerte sie ihn erneut und richtete sich auf. »Du grübelst zu viel vor dich hin. Selbstzweifel hilft dir nicht weiter. Ausserdem wüsste ich es, wenn du ein Trickster wärst.«

»Also schlägst du mir vor, ich soll dieselbe Strategie nutzen wie du und einfach alles vermeiden, was mit dem Schicksal zu tun haben könnte?«, schnaubte er belustigt, was sie mit einem schuldbewussten Lächeln erwiderte. Fast hatte er ein schlechtes Gewissen, denn seit die Fatuiten unter den Rebellen so durchgedreht waren, war Red weniger distanziert und verbrachte viel Zeit mit ihm. Sie beschützte ihn, wann immer die Proteste ihm zu sehr auf die Pelle rückten. Ihre Zeit als Roter Kommandant, als sie in Aramesia stationiert gewesen war, machten sich nun bezahlt, da sie genau wusste, wie man sich auf dem Brückensystem der Stadt orientierte. So konnten sie dem Pöbel meist ausweichen. Ausserdem blieb sie neuerdings bis zum Morgen, wenn sie bei ihm schlief. Egal, ob man sie gemeinsam das Zelt verlassen sah oder nicht. - Immerhin ein Vorzug, von religiös Verwirrten belagert zu werden.

Mit einem Nicken in Richtung der Eingangstür rechtfertigte sie sich: »Ich will nichts mehr von dieser verfluchten Prophezeiungen hören. Weder von den Ramos, noch von Drosselbart. Das macht alles nur viel komplizierter.«

»Ich weiss, tut mir leid«, seufzte er, stand auf und nahm die Laterne an sich.

Versöhnlich strich sie ihm über den Arm. »Wir sehen uns morgen wieder«, sagte sie sanft, während sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um ihn zu küssen. »Guck nicht so traurig, du schaffst das schon!« Dann drehte die Rote sich um und stieg die Stufen zu den oberen Stöcken des Hochhauses hinauf, um den Protesten über eine der Brücken auszuweichen.

Seufzend sah er ihr nach, dann griff er sein Donnerhorn fester und nahm die entgegengesetzte Richtung, hinab in die Katakomben der Stadt der Toten.

~

An den Wänden aus Knochen reihten sich die riesigen Fässer, in denen noch immer feinster jeshinischer Wein lagerte und vor sich hin gärte. Aus leeren Augenhöhlen gafften die Schädel ihm nach, als Mile beklommen mit seiner Laterne an ihnen vorbeischritt. Arkans Gräber-Gewölbe waren ihm unheimlich, egal wie sehr er sich in Erinnerung rief, dass ihm die Skelette nichts anhaben konnten. Deshalb war er froh, als er wenige Gänge weiter die anderen Rebellen-Anführer antraf. Sie warteten beinahe vollständig an der Tür zu einer der vielen Kammern des Gewölbekomplexes. Nur Azzarro und Rosanna fehlten noch.

Gerade kniete König Orion, der eine verdächtig süsse Fahne hatte, am Boden und drückte sein Ohr auf den Fels. »Eindeutig«, grunzte er seinen übrigen Ratsmitgliedern zu und klopfte auf den Stein. »Die Gänge reichen tief hinab. Und ganz unten liegen Höhlen... oder Kammern. Aber... ich kann keinen Zugang ausmachen, da ist zu viel Obsidian im Boden...«

»Hah! Da habt Ihr es! Das Grabmal des Urherrschers Aram liegt unter dem Fundament dieser Stadt!«, trällerte Königin Amiéle und rieb sich die zarten Hände. »Man stelle sich vor, welche Schätze dort noch verborgen liegen.«

Der Scopter schüttelte den Kopf. »Nur weil dort unten irgendwo eine Höhle ist, heisst das noch lange nicht, dass dieses legendäre Grabmal wirklich existiert«, widersprach er und schob sich die blonden Locken aus dem Gesicht. »Höchstens, dass die Katakomben womöglich noch viel tiefer reichen, als wir dachten.«

Die verwirrten Blicke von Agaue Fluc, Löwenherz und der Wache neben der Tür verrieten Mile, dass er nicht der einzige war, der nur Bahnhof verstand, deshalb erkundigte er sich: »Öhm... Welcher von den vier Urherrschern war Aram nochmal?«

Bereitwillig begann Muhme Trude zu erklären: »Der Urherrscher des Herbsts, auch Klagekönig genannt. Er fiel bei der heldenhaften Verteidigung des Schicksalsnetzes während des ersten Kriegs, weshalb diese Stadt ihm zu Ehren benannt wurde. Zu Lebzeiten verbrachte Aram die meiste Zeit damit-«

»Damit ein wahnsinniger Despot zu sein, der mit dem Gott Isra ganze Völker auslöscht haben soll. Bis dieser sich gegen ihn wendete«, unterbrach sie der Scopter. »Für ein Grabmal Arams gibt es keinen Beleg und da die tieferen Tunnel unter Aramesia als verflucht galten, wurden sie verschüttet und unzugänglich gemacht«, ratterte der Scopter herunter. Den bösen Blick der Hexe beantwortete er mit einem Schulterzucken. »Diese Information sollte man vielleicht vorgreifen.«

»Es spielt keine Rolle, ob das Grabmal je existiert hat oder nicht: Der Sturz des Mondes Onwa hat alles in seinem Einschlagsradius zerstört. Aramesia und diese Katakomben wurde erst viele tausend Jahre später errichtet«, seufzte Drosselbart, der den Unfug seines Rates bisher still geduldet hatte. »Ausserdem sind wir nicht hier, um uns auf Schatzsuche zu begeben.«

»Darum geht es auch gar nicht«, schnaubte die Elfe und streckte Ikarus die Hand entgegen. »Wir haben um Indizien gewettet. Ihr schuldet mir fünf Goldmünzen, General!«

Der Scopter erwiderte ihr Schnauben und schüttelte den Kopf. »Das habe ich anders in Erinnerung,«

Amiéle schnappte nach Luft, doch bevor ihr Streit von vorne losging, bogen die Barbaren um die Ecke. Mile rutschte das Herz in die Hose, als er sah, dass Rosanna eines der Flugblätter in der Hand hatte. Er konnte nur hoffen, dass sie wie die meisten der Garraeli Analphabetin war...

»Ruhm der Rebellion, Ruhm den Chaosgöttern«, begrüsste Häuptling Azzarro den Rat. »Was macht der Zwerg auf dem Boden?«, fragte er dann, irritiert die buschigen Brauen zusammengezogen.

»Ich habe – hicks – in den Stein hineingehorcht«, erklärte Orion und zog sich an einem der Fässer hoch. Dass er ein wenig schwankte, konnte er damit nicht kaschieren.

Die Wache grunzte und hustete, als würde sie ein Lachen unterdrücken.

»Genug mit dem Unsinn, wir haben zu tun«, wies Drosselbart seinen Rat müde zurecht. »Ich erwarte von euch Geschlossenheit, wir müssen als Einheit auftreten. Wir haben das besprochen!« Einen Moment bedachte er sie alle mit einem strengen Blick, dann wandte er sich an den Zwerg, der im Hintergrund schonwieder mit einem Zapfhahn hantierte »Und ab jetzt lasst Ihr die Hände von den Weinfässern, Orion!« Mit wallendem Königsumhang drehte er sich um, liess den Soldaten die Tür öffnen und trat als Erster in Feivels Gefängniszelle ein.

~

Der Rattenfänger von Hameln hing an seinen Füssen von der Decke. Sein Kopf baumelte einen halben Meter über dem Boden der düsteren Grabkammer. Die mit Obsidian behandelten Ketten schnitten ihm sichtlich in die Knöchel, seine Samtgewänder unter den Fesseln waren zerschlissen und er wirkte kraftlos. Dennoch breitete sich beim Eintreten des Rebellenrats ein finsteres Grinsen auf dem hamsterartigen Gesicht aus.

»Und ich dachte schon, ihr würdet mich einfach hier drin vergammeln lassen«, begrüsste sie der Rattenmann kopfüber und verrenkte den Hals, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. So schön sein Flötenspiel auch war, eine Gesangsstimme hatte er jedenfalls nicht, denn sie war unangenehm hoch und nasal. »Uh und das muss der junge Herrscher sein, von dem ganz Twos spricht. Wo habt Ihr Eure Schwester gelassen, Mylord?«

Mile gab keinen Kommentar ab und stellte sich lieber in die hintere Reihe der Rebellenanführer.

»Dich vergessen wir nicht, Feivel«, schnurrte Löwenherz und zuckte amüsiert mit den Schnurrhaaren, als der Gefangene angriffslustig die Hasenzähne bleckte. »Genauso wenig wie deine zahlreichen Verbrechen an den humanoiden Völkern.«

»Ach, das ist doch nun schon Jahrhunderte her«, tat der Flötenspieler ab. »Genau genommen habe ich der Rebellion damit sogar geholfen. Wie viele der Draconauten, die Ihr heute zu Soldaten der Schwarzen Armee zählt, haben ihre Ausbildung bei den Rastaban wohl durch mich erhalten, hmm?«

»Ihr habt diese Kinder mit eurem Flötenspiel entführt und an denjenigen verkauft, der am meisten dafür gezahlt hatte. Und das waren die Rastaban«, stellte Ikarus nüchtern richtig. »Ihr habt Familien zerrissen und seid reich damit geworden. Das ist alles.«

»Wie steht es eigentlich um Eure Beziehungen zu den Rastaban?«, säuselte Feivel unbeeindruckt und blickte zu Drosselbart auf. »Ich frage nur, da ich vor Eurem Angriff hunderte von Drachen das Rebellenheer verlassen sah.«

Mile beobachtete, wie Deron sich, wie immer, wenn er Bedenkzeit brauchte, durch den Bart strich. »Um ehrlich zu sein, hat die Schwarze Armee ihr Bündnis mit den Rastaban aufgelöst. Wir fürchteten, dass der Geschuppte Graf die Seiten gewechselt haben könnte. Oder dass er ein Trickster ist«, brummte er schliesslich und liess die beringte Hand sinken. »Doch nun hängt Ihr hier vor mir und da frage ich mich, ob nicht beides wahr ist.«

Mile hob die Brauen. Warum posaunte er das so heraus? Auch die anderen Ratsmitglieder tauschten nervöse Blicke.

Feivel schüttelte den Kopf und rümpfte verständnislos die Nase. »Der Geschuppte Graf? Ein Trickster? Meint Ihr das ernst?«

Plötzlich machte Drosselbart einen Schritt vor und packte den Gefangenen am Kragen. Dieser jaulte, als er ihn an sich heranzog und die Ketten ihm noch tiefer ins Fleisch schnitten. »Arbeiten die Antagonisten mit den Rastaban zusammen?«

»Keine Ahnung!«, jammerte Feivel. Seine Augen tränten vor Schmerz.

Der Rebellenkönig zog ihn noch näher heran, sodass sein Bart beinahe das Gesicht des Rattenmannes streifte. »Sabotieren die Antagonisten die Prophezeiung? RAUS DAMIT!«

Noch nie hatte Mile Drosselbart so brüllen gehört. Selbst Häuptling Azzarro zuckte kaum merklich zusammen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Rosanna die Faust um das Flugblatt ballte. Löwenherz' Schwanz peitschte im Sand.

Da begann Feivel mit einem Mal zu lachen, während ihm die Tränen von der Stirn tropften. »Ihr habt eine blühende Fantasie, Drosselbart, das muss man euch lassen!«

»Es ist sinnlos«, knurrte Löwenherz frustriert. »Sobald dieser Mann den Mund aufmacht, lügt er.«

»Er ist ein Schurke. Etwas anderes ist nicht zu erwarten«, pflichtete die Elfe ihm bei.

»Ihr seid kein Fatuit, Feivel?«, mischte sich Ikarus ein und das Schlangentattoo rasselte lauernd mit dem Schwanz in seinem Nacken.

Der Rattenfänger schnaubte. »Ich verdanke dem Gott Lin meine Gaben, nicht der Spinne. Das Fatum interessiert mich nicht.«

»Und warum seid Ihr dann nicht tot?«, fauchte Muhme Trude und stiess dem Rattenmann ihren Stock in die Seite.

»Genug!«, donnerte Drosselbart. Verdrossen liess er Feivel los, sodass dieser schimpfend hin und her pendelte. Dann zog er das bauchige Glasgefäss an der Lederschnur aus seinem Kragen.

Geschlossenheit hatte der Rebellenkönig von seinem Rat gefordert. Trotzdem liess Muhme Trude es sich nicht nehmen, ihn ein letztes Mal zu warnen: »Verheddert Euch nicht in den Schicksalsfäden, Drosselbart. Wenn Ihr stolpert, werdet Ihr alles mit Euch reissen.«

»Wenn hier ein Trickster am Werk ist und die Antagonisten damit zu tun haben, dürfen wir nicht in ihre Falle tappen«, erwiderte der Rebellenkönig. Dann rieb er über das Fläschchen und brachte das weisse Gas darin in Wallung.

»Endlich, Meister«, gierte es da aus den Schatten und Dougal schwebte ins Licht ihrer Wyrselsteinlaternen. »Endlich habt Ihr mich gerufen!« Mit klirrenden Ketten verbeugte sich das Gespenst vor den Rebellenanführern. »Ich nehme an, Ihr gedenkt, meinen Rat anzunehmen, Meister?«

»Ein Flaschengeist?«, fauchte Feivel und zum ersten Mal schien er beunruhigt. »Was habt Ihr vor?«

Drosselbart, der ungewohnt gestresst wirkte, blieb sowohl Dougal als auch Feivel eine Antwort schuldig. Stattdessen gab er seinem Geist einen Befehl: »Findet heraus, ob die Antagonisten sich den Trickstern angeschlossen haben! Und was der Geschuppte Graf damit zu tun hat.«

»Jawohl«, säuselte Dougal und kam mit klirrenden Ketten auf sein nächstes Opfer zugeschwebt. »Und nun stillhalten, bitte!«

Feivel wand sich, doch er konnte dem Geist nicht entkommen, der ihm die Hände ums Gesicht legte, die Augen verdrehte und in seinen Verstand eindrang. Der Rattenmann keuchte.

»Aaah«, machte der widerwärtige Lauscher versonnen, als er sich in den Gedanken und Erinnerungen des Flötisten suhlte. Doch dann zuckte er mit einem Mal zusammen und wich zurück. Die Runen tanzten wirr über seine kalkweisse Haut.

Feivel, der am ganzen Körper zitterte, blickte seinem Peiniger finster nach.

»Was ist? Hast du schon etwas herausgefunden?«, fragte Drosselbart, doch sein Geist schüttelte den Kopf.

»Nichts«, erklärte er abwesend, doch dann besann er sich und lächelte den Rat mit seinen Metallzähnen an. »Ich habe nichts gefunden.«

Mile runzelte die Stirn. »Das sah aber nicht danach aus«, raunte er Ikarus zu, der den Geist ebenfalls mit Skepsis musterte.

Selbst Drosselbart schien verwirrt. »Bist du dir sicher?«

Der Geist nickte. »Natürlich, Meister.«

»Na also«, rief Muhme Trude erleichtert und klatschte in die Hände. »Dann können wir den verfluchten Rattenmann ja endlich hinrichten lassen!«

»M-moment«, machte Mile. »Normalerweise kann Dougal nicht genug davon bekommen, zu lauschen...«

»Junger Lord«, säuselte der Geist belehrend, »Ihr solltet wissen, dass ich mich dem Willen meines Meisters gar nicht widersetzen kann. Seid also unbesorgt, der Rattenmann weiss nichts.«

»So ist es«, brummte Drosselbart und legte Mile eine schwere Hand auf die Schulter. »Feivel, Eure öffentliche Hinrichtung findet morgen früh statt.« An seinen Rat gerichtet brummte er: »Damit sollten wir das Problem mit den Fatuiten in den Griff bekommen.«

»Vielleicht ist es das Beste so«, seufzte Agaue Fluc erlöst, während der Gardist die Tür hinter ihnen schloss und das Gezeter des Rattenmanns dumpf wurde.

»Hoffentlich«, brummte Ikarus düster.

»Ihr schuldet mir übrigens noch immer fünf Goldmünzen«, erinnerte ihn die Elfenkönigin.


~Sabrina~
Finnbarro, Om'agri, Twos

Wieder war es eine dieser Nächte, in denen Sabrina von ihren kreisenden Gedanken geplagt in ihrer Hängematte lag und keinen Schlaf fand. Sie dachte an Eril und wo er nun war. Sie vermisste Mile, dem sie schon lang eine semiontische Nachricht senden wollte, jedoch nicht die richtigen Worte dafür fand, was sie hier erlebte. Und sie fürchtete sich vor dem, was sie morgen in Dom Askur erwarten würde. Sorgen über Sorgen, dabei war nun nicht die Zeit zu grübeln, sondern zu schlafen. Aber wie?

Seufzend kletterte sie aus der Hängematte und warf sich die Decke über. Ohne Obsidian war ihr zwar nie kalt, doch bisher hatte sie nirgends davon gehört, dass Eiszarinnen immun gegen Erkältungen waren. Auf leisen Sohlen schlich sie sich an den Hängematten ihrer Reisegefährten vorbei zu dem Flur, durch den man zum Treppenaufgang und an Deck gelangte. Vielleicht würden Kaitous Winde ihr etwas den Kopf durchlüften.

Hook hatte recht gehabt. Seit sich das abendliche Feiern, Tanzen und Kartenspielen vor Sonnenaufgang zu einem Ritual entwickelte, war die Stimmung auf der Jolly Roger völlig anders als im Baum der Verlorenen. Die Kinder waren heiter, selbst Hänsel schien sich langsam zu entspannen und sogar Nimmertiger war erträglicher geworden. - Der Pirat wusste, wie er eine Mannschaft zu führen hatte. Immer nach dem morgendlichen Korrigieren des Kurses setzte er sich mit seiner neuen Crew zusammen und brachte ihnen bei, wie man das Schiff see- und sturmtauglich hielt. Sie knoteten Taue, reparierten die Planken, holten die Segel ein, hissten sie wieder und enterten den Mast auf und ab. - Er lobte sie, wenn sie sich bemühten und schallte sie, wenn sie schlampig arbeiteten. Und er versprach ihnen, sie zu richtigen Matrosen zu machen, was die Augen der Kinder jedes Mal zum Leuchten brachte und die älteren unter ihnen stolz lächeln liess. - Ihre Reise wurde somit nicht nur fröhlicher, sondern auch sicherer, da das Schiff trotz fehlender Crew einigermassen gewartet wurde.

Als sie nun den Treppenaufgang hinauf durch die Luke stieg, war das Deck verlassen. Nur das Schiff knarzte leise vor sich hin, die Segel flatterten, der Wind pfiff dazu und die fernen Geräusche des Urwalds echoten durch die Nacht. Sie trat an die Reling und blickte über den Wald des Elfenreichs hinweg.

Der Finnbarro, der Om'agri säumte, sah aus der Luft aus wie ein unendliches, grünes Meer. Der Urwald war so alt, so ineinander verwachsen, dass er wie eine blättrige Decke über dem Land lag. Zu Fuss wären sie hier niemals durchgekommen.

Müde lauschte sie den Rufen der nachtaktiven Vögel und dem leisen Singen der Dryaden in den Bäumen, als sie mit einem Mal ein Räuspern hinter ihr zusammenzucken liess. Als sie sich umdrehte und Mondkind in einem weissen Nachthemd und mit einem Raben im Schoss auf den Planken sitzen sah, rutschte ihr das Herz in die Hose.

»Oh nein! Komm mir ja nicht zu nahe!«, fauchte sie das Kleinkind an. »Mit dir gehe ich nie wieder auf Traumreisen!«

»Nicht heute«, kicherte das Mädchen und strich dem Raben zärtlich über das Köpfchen. Der Vogel sass ganz still da und schmiegte sich an Mondkinds Hand.

Ängstlich, aber auch neugierig blickte Sabrina auf ihre Cousine hinab. »Ist das einer deiner Brüder?«, fragte sie, als sie sich den Raben genauer ansah. »Sollten wir ihn nicht lieber unter Deck behalten, sodass er nicht davonfliegt? Im Finnbarro finden wir ihn nie mehr.«

Doch die Kleine schüttelte den Kopf und der Rabe bauschte stolz sein Gefieder. »Das ist Nachtauge«, erklärte sie und küsste den Schnabel ihres Rabenbruders. »Er ist gerne ein Vogel, weil er schlau wie ein Mensch bleibt. Er kann nicht reden, aber er versteht alles.«

Sabrina zögerte noch immer, doch dann überwand sie sich. Langsam kam sie auf das Kleinkind zu und zog sich die Decke von den Schultern, um sie der Kleinen umzulegen. In dem dünnen Nachthemdchen würde sie sich hier draussen noch den Tod holen. »Das ist bei den anderen aber nicht so, oder?«, fragte sie dann und rief sich Nimmertigers Worte in Erinnerung. »Der Fluch der anderen beraubt sie ihres Verstands.«

Die Kleine nickte. »Flüche sind nicht sicher. Manchmal passieren Fehler. Bei mir auch, ich war nicht immer so.« Bei ihren Worten zog sie sich die Augenbinde ein Stück hoch, sodass die seltsamen violetten, pupillenlosen Iriden zum Vorschein kamen.

Sabrina setzte sich neben ihre Cousine. »Dann wurdest du auch von Damaris Malefizius verflucht?«

Mondkind nickte und schob die Binde wieder über die Augen. »Ja, mit einem Unglückszauber, aber dabei ist das Schicksal durcheinander gekommen. Ich hätte eigentlich nie so sein sollen, doch es gab keinen Ausweg... Das haben die anderen gesagt.«

»Diese Anderen hast du schon einmal erwähnt«, murmelte Sabrina und blickte nachdenklich den beiden Monden auf. Lema war nur eine schmale Sichel, doch Onwa strahlte voll. »Wer sind die?« Doch als sie sich nach der Kleinen umblickte, stand diese an der Reling und liess Nachtauge von ihren Händen in die Luft abheben. Freudig krächzend segelte er mit ausgebreiteten Schwingen um die Jolly Roger herum und liess sich von Kaitous Winden in die Höhe tragen.

»Keine Angst«, kicherte ihre Cousine, als sie Sabrinas erschrockenes Gesicht sah. »Ich bringe ihn oft in der Nacht hier hoch. Er liebt das Fliegen und er kommt immer zurück.« Mit einem verschmitzten Lächeln tapste sie in Richtung der Luke. »Ich bin müde, ich gehe schlafen.«

Als Sabrina sich aufrichtete, um ihr zu folgen, schüttelte das Kleinkind den Kopf, sodass die Glöckchen und Glasperlen in ihrem Haar bimmelten. »Nein, nein, du musst hierbleiben.«

Die Zarin gluckste. »Was denn, ich bin aber auch müde!«

»Nein«, wiederholde das Kleinkind bestimmend. »Du hast noch eine Schuld zu begleichen.«

»Eine Schuld?«

Doch die Kleine gähnte nur und streckte sich. »Gute Nacht«, sagte sie dann und watschelte durch die Luke. Die Decke nahm sie mit.

~

›Das ist lächerlich‹, dachte Sabrina, die grimmig auf dem Treppenaufgang zum Achterdeck sass und gelangweilt mit dem Schliessmechanismus einer Laterne spielte. ›Warum lasse ich mich von diesem verrückten Kleinkind manipulieren? Ich sollte einfach schlafen gehen und-‹

Mit einem Mal knallte es, als hätte jemand einen Frauenfurz neben ihr gezündet. Qualm bliess ihr ins Gesicht und es stank nach Schwefel. Hustend sprang Sabrina auf und rieb sich über die brennenden Augen. »W-was zum Teufel?!«

»Kein Teufel, nur ein Dämon«, lachte es aus der Rauchschwade und als sich ihr ein breites Haifischgrinsen entgegenreckte, atmete Sabrina auf.

»Ach, du bist es!«, seufzte sie und blitzte Faritales Luziusus erleichtert an. Dann zog sie die Braune zusammen und brummte: »Mach das nie wieder!«

»Jetzt mach es nicht kaputt«, maulte der Nachtmahr pikiert und vertrieb mit peitschendem Schwanz den Qualm. »Du hast dich doch gerade so schön erschrocken...«

Sabrina grinste und begrüsste ihren Traumreisegefährten mit einer Verbeugung mit überkreuzten Armen, wie sie es sich bei den Rebellen abgeschaut hatte. »Es ist mir ein Grauen, dich wiederzusehen, Fari.«

Der Dämon nickte, lamentierte aber über den Spitznamen.

»Womit verdiene ich überhaupt die Ehre?«, fragte sie, obwohl sie dank Mondkind schon eine Ahnung hatte, was den Mahr herführte...

»Du hast mir Träume zum Futtern versprochen«, erklärte Fari und leckte sich die Haifischzähne. »Ich darf mir die Besatzung des gesamten Schiffs vornehmen, ja?«

»Warte, warte, warte«, stoppte sie ihn, bevor er sich blindlings in Jeremy Toppers Kopf träumte. Wer konnte schon wissen, ob er da je heil rauskäme... »Wir haben Kinder an Bord«, erklärte sie dann. »Die reisst du nicht aus ihrem Schlummer und plagst sie mit Albträumen.«

»Vor mir aus, aber dann hilf du mir aussuchen!« Er streckte ihr eine Kralle entgegen. »Und ich helfe dir beim Träumen.«

Sabrina seufzte. Dann stand ihr heute also doch noch eine Traumreise bevor... »Okay, aber nur kurz. Und du versprichst mir, dass du mich nicht ausversehen in der Starre... also diesem Nihil zurücklässt.«

»Wann habe ich dich je im Stich gelassen?«, echauffierte er sich gekünstelt, doch dann nickte er. »Versprochen!«

Also zog Sabrina sich den Traumfänger vom Hals und verstaute ihn in der Hosentasche ihres Leinenpyjamas. »Na dann«, machte sie und ergriff die Klaue des Nachtmahrs. Augenblicklich setzte ein fernes Summen ein und Sabrina zuckte zurück.

»Du muss es zulassen«, erklärte der Traumdämon geduldig und nahm sie wieder an der Hand. Das Summen setzte erneut ein. »Vertrau mir und mach die Augen zu. Ich passe schon auf, dass du nicht verloren gehst.«

Sabrina schluckte, doch sie hörte auf ihn, schloss die Lider und liess das Summen auf sich zukommen.

›... haben die Wendigowak uns genommen und...‹

›Das ist das letzte Stück Kuchen, Michael und John, ihr...‹

Dieses Mal fühlte sich das Träumen ähnlich wie ihre Telepathie an. Doch statt dass ihr fremde Gedanken entgegenpeitschten, flossen die Träume ihrer Reisegefährten sanft um sie herum.

›... und mein Name ist nicht Tatze...‹

›Warum stinken Füsse, aber Nasen riechen?‹

Vor ihrem inneren Auge erschienen die blauen Wälder Nimmerlands, dann blickte sie in den nächsten Traum und stand am Strand, wo die Gischt von sachten Wellen angespült wurde...

›... bleib bei mir, flieg nicht davon...‹

»Gib Bescheid, wenn du einen Traum findest, den ich fressen darf, ja?«, bat sie der Dämon.

»Werde ich.«

Die Eiszarin und der Nachtmahr glitten dahin, von Traum zu Traum, liessen sich gleiten wie Vögel auf einer Briese. Manchmal gelang es Sabrina, sich auf einen einzelnen Traum zu konzentrieren, sich an ihm festzuhalten und ihm beizuwohnen. Und so vernahm sie irgendwann einen wunderschönen Gesang, dem sie folgte, bis sie seine Quelle fand.

›If I were a falcon, the wind 'neath my wings
I would follow the ship that my true love sails in‹

Sie kannte dieses Lied, nur von einer tiefen, rauen Stimme gesungen. Diese hier war hell und klar; eine Frau... Neugierig näherte sie sich dem Traum, um seinen Träumer auszumachen. Da verspürte sie mit einem Mal eine Art Sog und ehe sie es sich versah, stand sie auf einem Pier. Leichte Wellen schwappten ihr entgegen und reckten sich an den Bordwänden kleiner Boote. Der Geruch von Salz und Fisch lag in der Luft. Es war sehr neblig und legte man den Kopf in den Nacken sah man die Monde nur als milchige, verschwommene Punkte am Himmel. Aus der Ferne erklang wieder die Frauenstimme, ihr wunderschönes Lied anstimmend: »And on the top rigging I'd there build my nest
I'd flutter my wings on his lily-white chest«

»Was ist denn jetzt passiert?«, murmelte Sabrina verwirrt und drehte sich um die eigene Achse. Wo war sie denn nun schon wieder gelandet?

»Sag bloss, das ist deine erste Traumreise? Also in einen Traum hinein?«

»Verflixt noch eins, Faritales!«, fauchte Sabrina, die vor Schreck beinahe auf den feuchten Brettern des Piers ausgerutscht und ins Meer gefallen wäre. »Jetzt reicht es mit dem Erschrecken!«

Der Dämon, der sich, faul wie er war, auf ihre Schulter hockte, zuckte die seinen. »Ich habe gemerkt, dass du in einem Traum verschwunden bist, da bin ich hinterher. Dachte, du hättest was für mich gefunden.«

»He offered to take me to Donnybrook Fair
To buy me fine ribbons to tie up my hair«

Sabrina runzelte die Stirn. »Wir... befinden uns in einem Traum?«

Der Nachtmahr nickte, während er sich mit seinen glühenden Katzenaugen umblickte, seine bläuliche Zunge rausstreckte und die Luft abschmeckte. »Süsslich«, murmelte er, »aber hat was ziemlich Bitteres. Iiih, grusig! Der Abgang schmeckt ganz scheusslich!« Er schüttelte sich und fuhr sich mit den Klauen die Zunge ab, um den Geschmack loszuwerden. »Hier sind wir total falsch. Ungeniessbar, wirklich!«

Sabrina schluckte. »Dann ist das hier ein Albtraum?«

Mit einem Mal näherten sich dumpfe Schritte auf dem Holz und die beiden Traumreisenden blickten auf.

»Schnell! Es ist nicht gut, wenn dich wer in seinen Träumen trifft, das verstört«, zischte Fari und zerrte an ihr, bis sie sich mit ihm unter der Plane eines kleinen Kutters versteckte.

»We wanted to stay here to age side by side
But by the next morning he sailed with the tide«, sang die Stimme in der Ferne.

Durch den Nebel eilte eine Gestalt auf sie zu, bis sie nahe genug war, um sie zu erkennen.

Sabrina sog scharf die Luft ein. »Das ist Hook!«, flüsterte sie und sah zu, wie der Junge mit den schwarzen Locken unter sichtlichem Stress den Pier hinablief. Sein Bart war kaum mehr als ein Flaum über der Oberlippe, seine Glieder waren drahtig und seine Augen waren genauso braun wie Peters. Dies war noch nicht Käpt'n Hook. Dies war der junge Falk O'Jesper, bevor er zu einem gesegneten Kind Klyuss' geworden war.

Sobald der Junge ausser Sicht war, befreite Sabrina sich von der Plane und kletterte zurück auf den Pier.

»Wir sollten hier weg!«, meinte der Dämon und nestelte nervös am Bund seiner Klöppelhose. »Ich mag keine Albträume.«

Sabrina schnaubte, während sie dem Jungen, der irgendwann mal ein Himmelspirat werden würde, hinterherschlich. »Was bist denn du für ein Nachtmahr? Ich dachte, deinesgleichen erschafft Albträume.«

»Meine eigenen sind ja in Ordnung, mit denen habe ich kein Problem. Fremde hingegen... Das ist wie mit Fürzen – die eigenen stinken auch nicht.« Er zupfte an ihrem Haar. »Bitte, lass uns wieder gehen. Du musst dich nur auf deinen Körper besinnen und an den Ort denken, wo du ihn zurückgelassen hast. Bitte, Sabrina.«

Hook ohne Haken hatte unterdessen fast das Ende des Piers erreicht. Langsam ging er auf die Schemen zweier Personen zu. Das Licht einer Laterne, die auf einem der Poller stand, blendete, sodass Sabrina sie kaum erkennen konnte.

Eilig hastete sie näher und kauerte sich hinter eine Holzkiste, von wo aus sie das Geschehen wunderbar beobachten konnte. »Ruhe jetzt!«, zischte sie dem Nachtmahr zu. »Ich will hören, worüber die sprechen!«

»If I were a falcon, the wind 'neath my wings
I would follow the ship that my true love sails in«, sang die Frau mittleren Alters, die den Kopf eines acht- bis neunjährigen Jungen an ihren Bauch presste. Da beide das gleiche rotblonde Haar besassen, ging Sabrina davon aus, dass es sich um Mutter und Sohn handeln musste.

Nur wenige Schritte trennten den jungen Hook noch von den beiden. Sie sah, wie er die Hände zu Fäusten ballte, doch er sagte nichts, bis die Frau ihr Lied beendet hatte.

»And on the top rigging I'd there build my nest
I'd flutter my wings on his lily-white chest«, sang die Frau eben die letzte Strophe. Der kleine Junge schlang die Arme um ihre Taille und begann leise zu weinen.

»Bitte, komm nach Hause«, bat Hook und streckte den Arm nach der Frau aus.

Die Fremde nahm den kleinen Jungen an der Hand und schob ihn an ihre Seite. Dort versteckte er sich hinter ihrem Rock. An Hook gewandt erklärte sie: »Ich habe dir und Peter dieses Lied vorgesungen, als das Meer euren Vater geholt hat. Es hat euch geholfen, Abschied von ihm zu nehmen, also dachte ich-«

»Du dachtest was?«, fauchte er da voller Wut und der kleine Junge begann laut zu schluchzen. »Dass es uns bei dir auch helfen würde?«

Die Frau blinzelte, sie wirkte angespannt. »Ach Falky, lass uns diesen letzten Moment miteinander doch nicht mit Streiten verbringen, ja?« Sie winkte ihn zu sich heran, selig lächelnd.

»Nein, Mum, ich verabschiede mich nicht von dir!« Hook wich vor ihr zurück, seine Stimme klang belegt. »Du darfst nicht gehen, verstehst du nicht? Was soll denn aus Peter und mir werden?«

Mrs O'Jesper hörte nicht auf zu lächeln und je länger Sabrina hinsah, desto unwohler wurde ihr dabei.

»Meine Jungs, meine wunderschönen, klugen, tapferen Söhne...« Versonnen begann sie Peters Kopf zu streicheln. »Ihr dürft keine Angst haben, ihr werdet es ohne mich schaffen.«

»So ein Unsinn! Schon gar nicht hier in Twos!«, widersprach ihr Falk, doch seine Mutter schien ihm gar nicht mehr zuzuhören. Ihr Blick war abwesend geworden, als sie aufs Meer blickte. Nun streckte sie den Arm aus und deutete auf die Wellen.

»Da ist er! Seht nur!«, rief sie, als die See barst und eine Kreatur auf den Pier zuschwamm. Es war grösser als ein Mensch, aber in Gestalt von einem, wenn auch geschuppt wie ein Fisch.

»Ach du Kacke«, machte Fari leise und schlug die Klauen vors Gesicht, als könne er nicht hinsehen.

»Mummy, was ist das?«, fragte der kleine Peter mit weit aufgerissenen Augen. Ängstlich hielt er sich an ihrem Rockzipfel fest.

»Das ist Nöck«, erklärte Mrs O'Jesper überglücklich und winkte der Kreatur zu, die den Pier beinahe erreicht hatte. »Wie schön seine Schuppen heute glänzen, er hat sich für mich herausgeputzt.« Sie kicherte vor sich hin.

Hook schüttelte den Kopf. »I-ich dachte, dein Liebhaber wäre ein Fischer, Mum...«, murmelte er und trat auf sie zu. »Ich dachte, er würde dich hier mit seinem Kutter abholen.«

»Nöck ist auch Fischer«, säuselte Mrs O'Jesper, die verträumt ihrem Geliebten entgegenblickte. »Er hat mir von den schillernden Sardellenschwärmen in seinem Königreich erzählt. Er ist ein Prinz, müsst ihr wissen. Und er wird mich zu seiner Prinzessin machen.«

Der Fischerprinz hatte den Pier unterdessen erreicht. Er krallte die Hand in die Holzbalken und zog sich daran hoch. An den Schwimmhäuten zwischen seinen Fingern perlte das Salzwasser herab. Grün wie Algen waren seine Schuppen. Als er den Kopf über den Rand des Stegs zog, sah man die Kiemen unter schimmernden Flossen, die sein Gesicht umkränzten. Die bösen, schwarzen Augen reflektierten das Licht...

»Mum, das ist kein Wassermann!«, brüllte Falk auf einmal und sprang vor, um die Kreatur vom Steg zu stossen. Doch das Monster packte seinen Arm, zog sich daran hoch, riss das gigantische Haifischmaul auf und vergrub die schwarzen Zähe in der rechten Hand des Jungen. Falk schrie und verdrehte die Augen vor Schmerz. Doch er besann sich rechtzeitig, trat zu und die Bestie klatschte zurück ins Meer, die Zähne rot von seinem Blut.

»FALK JAMES O'JESPER, DU VERDAMMTER SATANSBRATEN!«, keifte die Frau und ihr liebliches Gesicht verzog sich zu einer wütenden Fratze.

Ihr dunkelhaariger Sohn heulte und wimmerte vor Pein, den blutüberströmten Arm an die Brust gepresst. Irgendwie gelang es ihm, sich zurück auf die Füsse zu kämpfen.

»Weg hier! Halt dich fest, Peter!« Er riss seinen kleinen Bruder vom Rockzipfel seiner Mutter und warf ihn sich über die Schulter. Mit der gesunden Hand versuchte er, seine Mutter mit sich zu ziehen, doch diese weigerte sich.

»Lass mich los! Was fällt dir eigentlich-«

»Bist du wahnsinnig geworden? Das ist ein Nix!«, unterbrach sie Hook unter Tränen. »Hast du seine Augen nicht gesehen? Mum! Du unterstehst seinem Zauber, du musst dich wehren! Sieh dir die Augen an! Die sind nicht menschlich, das ist ein Monster!«

»Unsinn, Junge! Das ist kein Zauber, es ist Liebe! Aber das kannst du nicht verstehen!«, fauchte seine Mutter. Sie entwand sich seinem Griff, warf sich auf die Knie und streckte die Arme dem Wasser entgegen. »Nöck, hier bin ich, komm, komm zu mir. Nimm mich mit in dein Reich!«

Hook stellte seinen weinenden Bruder wieder auf die Füsse. »Renn, Peter!«

»Nein, ich bleibe bei Mum!«

»Lauf, bei Drillon!«

»Bei den Göttern«, flüsterte Sabrina. »Das geht nicht gut aus...«

Ein Röcheln ertönte, als der Nix sich wieder am Pier hochgezogen hatte. Nun streckte er den schuppigen Arm nach den langen, rotblonden Haaren Mrs O'Jesper aus. »Arielle«, grollte die Kreatur aus der Tiefsee. »Komm, das dunkle Wasser wartet auf uns...«

Peter stand da wie versteinert und starrte das Monster an, das gekommen war, um seine Mutter zu holen.

»Jetzt hau endlich ab!«, schrie Falk ihn an und auch wenn sein kleiner Bruder sich nicht rührte, musste er handeln. Er sprang vor und riss seine Mutter von dem Ungeheuer weg. Dann hatte er plötzlich eine Pistole in der Hand. Ein Schuss hallte über die See, gefolgt von einem grässlichen Schrei und einem lauten Klatschen, als der leblose Nix zurück ins Wasser fiel. Falk hatte ihm in den Kopf geschossen, mitten in die schuppige Stirn.

»Nein! Nein! Wie konntest du nur!« Arielle O'Jesper stürzte an den Rand des Stegs und fuhr mit den Fingern durch die Blutlache. Doch Nöcks Körper im trüben Wasser ging bereits gluckernd unter. »Mörder!«, heulte sie und fiel ihren ältesten Sohn an, der noch immer völlig perplex auf die Blutlache starrte.

»Mummy, nein, hör auf!«, heulte Peter, als seine Mutter brutal mit den Fäusten auf seinen Bruder einzuprügeln begann, der sich unter ihren Schlägen krümmte.

»Wieso hast du ihn mir genommen, Falk? Warum?«, keifte sie, packte seine zerbissene Hand und drückte zu, bis er schrie.

»Mum, bitte hör auf!«

»Du siehst aus wie dein Vater und du bist auch wie er! Ein schlechter Mensch, das bist du! Ich hasse dich! Ich hasse dich!« Plötzlich hielt sie ein Stillet in den Händen und holte aus, wollte die Klinge in ihrem Sohn versenken, doch der konnte gerade noch abwehrend seine linke Hand hochreissen, doch in der hielt er noch immer die Pistole...

Erneut hallte ein Schuss durch die Nacht, gefolgt von einer Stille, markerschütternder als jeder Schrei.

~

Sabrina war so übel geworden, dass es sie glatt zurück in ihren Körper gerissen hatte. Sie hörte das Blut in ihrem Kopf rauschen, hörte diesen Knall, den Schuss und sah Arielle O'Jespers Gesicht vor sich, zerfetzt von der Kugel...

Mit zittrigen Fingern tastete sie nach dem Traumfänger und ballte die Faust darum. Bloss keine Albträume mehr, keine Albträume mehr!

»Ohgottohgottohgott«, flüsterte sie vor sich hin, setzte sich auf und hielt sich an der Reling fest.

»Ich hab ja gesagt, dass wir nicht bleiben sollten!«, zeterte Faritales, der nun auch wieder da war, auf ihrer Schulter sass und ihr ins Ohr brüllte. »Warum hört nie jemand auf mich? Wegen diesem verdammten Piraten brauch ich jetzt 'ne Therapie!«

›Hook!‹ Mit einem Mal war Sabrina wieder auf den Beinen und rannte Richtung Achterdeck.

»Ey, was ist denn jetzt los?«, fragte der Nachtmahr, der sich geradeso noch an ihrem Kragen festhalten konnte, um nicht von ihrer Schulter zu plumpsen.

»Hey«, brüllte sie und hämmerte gegen die schwere Tür der Kapitänskajüte. »Aufwachen! Es ist nur ein böser Traum!«

Von drinnen kam keine Antwort. »Hook!«, versuchte sie es erneut. »Aufwachen!« Zögernd griff sie nach der Klinke und drückte sie runter.

~Mile~

Aramesia war einst sicher eine lebendige Grossstadt gewesen. Mile konnte sich gut vorstellen, wie die Brücken und Strassen von den Kreaturen Twos' gefüllt gewesen waren. Belebte Märkte auf dem Platz vor dem Aramsdom, Strassenfeste mit Gauklern, die zwischen den Brücken auf Seilen balancierten, Kinder, die in den Gassen herumtollten...

Er seufzte und lehnte die Stirn an die kalte Scheibe, gegen die der Regen tropfte. Er konnte nicht schlafen und ihm war schrecklich langweilig. Mit einem mal vermisste er seine Heimatstadt.

Gerne hätte er sein Schwert angelegt und sich in das bunte Nachtleben wie damals in Berlin gestürzt, als er sich mit seinen Freunden an Sommerabenden im Skatepark getroffen hatte. Doch wegen der vielen Unruhen herrschte seit ein paar Tagen Sperrstunde in Aramesia, sobald die Sonne unterging. Selbst die Vampire mussten für ihre Feste die Stadt verlassen. Es war zu gefährlich bei Nacht, die Stadt bot zu viele dunkle Gassen. Ausserdem waren einige der Gebäude durch das Drachenfeuer instabil geworden. Wenn eines davon einstürzte, könnte das weitere wie Dominosteine mitreissen. Deshalb durften auch nur die Bauwerke betreten werden, die zuvor von den Zwergen gewartet oder mindestens auf ihre Stabilität geprüft worden waren.

Nur zelteten die beiden Völker, die ohne Jilva Frihir keinen Antrag bei den Zwergen auf ein Quartier hatten einlegen können, auf der Strasse. So wie die Hybriden es schon in Turdus getan hatten.

Mile seufzte, als er auf die verregneten Blachen hinabblickte, die zwischen die Häuserwände unter ihnen aufgespannt waren. Er musste wirklich dringend mal mit Orion darüber reden... Schon wollte er sich umdrehen, um es doch noch einmal mit Schlafen zu versuchen, da glitt sein Blick auf einmal über nassen, apiumischen Samt.

Wie schon in der Nacht, als er mit den Vampiren getanzt hatte, rieb Mile sich ungläubig über die Lider. Doch dieses Mal verschwand der fremde Mann in dem roten Umhang und der Narbe auf der Stirn nicht. Er stand einfach da, zwischen den Zelten der Hybriden und liess sich im Licht der Wyrselsteine auf das wirre, kinnlange Haar regnen. Nun hob er die Hand und winkte.

Der junge Lichterlord war sich nicht sicher, was er tun sollte. Der Fremde schien unbewaffnet - nicht nur das, unter dem Umhang war er nackt. Also verliess er das Zimmer, schritt an den Gardisten vorbei und überredete die Pförtner, ihm die Türen zu öffnen. Sie staunten nicht schlecht, als er den nackten, nassen Mann in Rot ins Haus zog und zu sich aufs Zimmer führte.

~

»Das sollte dir passen, ist vielleicht etwas eng, aber dir steht so was sicher. Die Ärmel kannst du ja hochkrämpeln.« Mile reichte dem Fremden, verschmutzt und nass von oben bis unten, einen Pullover zu der Hose, die er ihm bereits geschenkt hatte.

Der muskelbepackte Mann, der ein wenig älter als er zu sein schien, nickte nur und brummte mit einer sehr heiseren, rostigen Stimme: »Danke.« Umständlich, als wäre es nicht gewohnt, sich anzuziehen, stieg er in die Hose. Als er den Umhang abzog, um sich den Pullover über den Kopf zu stülpen, sah Mile, dass die Narbe an seiner Stirn nicht seine einzige war. Drei frisch verheilte, rote Striemen zogen sich über seinen Bauch. An seiner Brust blitzte ein Spiegel, kleiner als eine Münze. Doch das Seltsamste war, dass sein Gesicht ihm irgendwie vertraut vorkam...

»Also. Wer bist du? Und warum trägst du einen Umhang aus apiumischem Samt?«, fragte er, doch der Mann gab ihm keine Antwort.

Der junge Lichterlord ballte die schwitzigen Hände zu Fäusten. Red hatte ihm nicht gesagt, wohin sie gegangen war – wie immer. Er hatte gelernt, damit umzugehen, doch jetzt keimte Sorge in ihm auf.

Als der Fremde wieder zu dem Umhang griff, sah Mile, dass in den Innentaschen ein Paar roter Samthandschuhe steckte. ›Das sieht nicht nur aus wie Reds Umhang, das ist Reds Umhang‹, schoss es ihm durch den Kopf und er versteifte sich.

Als hätte der Unbekannte seinen Stimmungswechsel gespürt, hielt er inne und sah Mile aufmerksam an, die Nasenflügel gebläht. »Was?«, fragte er knapp.

Mile deutete auf den Umhang. »Der gehört meiner Freundin«, stellte er fest. Drohend machte er einen Schritt auf den Fremden zu. »Wo ist sie? Wenn du ihr etwas angetan hast, dann-«

»Er gehört meiner Schwester«, knurrte der Mann und seine braunen Augen funkelten.

Und mit einem Mal ging Mile ein Licht auf, warum dieser Kerl ihm vertraut vorkam. Auch wenn er nicht die silbernen Wolfsaugen seiner Schwester besass, so glichen sie sich unverkennbar.

»Oskar?«, fragte er ungläubig und dem Fremden schlich sich ein animalisches Grinsen auf die bläulichen Lippen.

»Richtig!«, brummte er zufrieden. »Oskar Farkash mein Name. Red ist meine Zwillingsschwester.«

»Zwillings-... Schwester«, wiederholte Mile und fuhr sich verwirrt durchs Haar. »Aber... wie? Und wo ist Red?«

Der Wolfsmann liess sich auf dem Bett nieder, sodass sich der Rost unter dem Gewicht seiner Muskeln bog. Den Umhang bettete er in seinen Schoss. »Unsere Mutter war ein Werwolf, unser Vater ein Mensch. – Anders als vollblütige Lykanthen können wir nicht nach Belieben die Form wechseln. Unser gemischtes Blut verursacht, dass Red einmal im Monat, wenn der Mond Onwa voll am Himmel steht, zum Wolf wird. Und ich werde für eine Nacht zum Menschen.«

Mile klappte den Mund auf und zu wie ein Fisch an Land. »Also... ist sie... jetzt gerade ein Wolf?«

Oskar nickte. »Sie ist draussen auf den Rebenfeldern und jagt Wachteln. Da sie die Wolfsgestalt nicht gewohnt ist, treiben sie leider nur ihre Instinkte, wir sollten ihr also lieber fernblieben, bis sie wieder ein Mensch ist.«

In seinem Schädel ratterte es. Er hatte längst bemerkt, dass der schwarze Wolf und die rote Frau eine besondere Bindung zueinander hatten, aber dass sie Geschwister waren, wäre ihm nie eingefallen. »Moment«, machte er, als er noch etwas bemerkte: »Du erinnerst dich!«, rief er und riss die Augen auf. »Dann weisst du, warum Red diese Erinnerungslücken hat?«

»Sie erinnert sich nicht, weil sie es nicht soll«, erklärte er heiser. »Ich bin es, der ihre Erinnerungen für sie aufbewahrt.«

Der junge Lord hob verwirrt die Brauen. »Was? Wie? Und weiss Red davon?«

»Nein und dabei soll es auch bleiben«, entgegnete Reds Bruder, der sich bedrohlich vorbeugte, sodass der Lattenrost erneut unter seinem Gewicht knarzte. »Du darfst ihr nichts hiervon erzählen, hörst du?«

Mile schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Warum nicht? Hast du eine Ahnung, wie scheisse es für sie ist, nicht zu wissen, was mit ihr geschehen ist? Sie kennt ihre eigene Identität nicht!«

Tatsächlich nickte der Wolfsmann und entspannte sich wieder etwas. »Ich weiss. Aber sie wollte es so«, erklärte er und legte den Samtumhang von seinem Schoss auf das Kissen. »Wenn du möchtest, beweise ich es dir mit einer ihrer Erinnerungen.«

Er horchte auf. »Beweisen?«

Der Hybrid nickte und tätschelte die leere Stelle auf der Matratze neben sich. »Komm.«

Zögernd setzte er sich neben Wolfsmann.

»Schau genau hin«, brummte Oskar und deutete auf die Narbe auf seiner Stirn. Dann schloss er die Augen und flüsterte: »Lupus memoria.«

Mile sah, wie sich mit einem Mal die Haut auf Oskars Stirn spannte und die Narbe auseinanderzog, sodass sich ein drittes Auge öffnete und ihn anblinzelte.

»Uaahaaa«, machte er entsetzt und wich zurück.

Der Dreiäugige lachte kehlig. »Keine Angst. Das muss so.« Grinsend winkte er ihn wieder an sich heran. »Sieh hinein«, forderte er ihn erneut auf.

Zögernd rutschte Mile an ihn heran. »Ha-hat Red s-so was auch?«, stammelte er und versuchte, sich auf das eklige, silberne Werwolfsauge auf Oskars Stirn zu fokussieren.

Falls er ihm antwortete, bekam Mile es nicht mehr mit. Das silberne Auge sah ihn an und als er die goldenen Sprenkel in der Iris entdeckte, war es sich mit einem Mal sicher, dass dies Reds Blick war. Und er verlor sich darin...

Plötzlich stand Mile bis zu den Knien im Schnee. Eisiger Wind peitschte ihm ins Gesicht und zerrte an seinem roten Samtumhang.

›Was ist denn jetzt?‹, dachte er und wollte sich umsehen, doch seine Glieder gehorchten ihm nicht. Stattdessen blickte er vor sich, wo Oskar in Wolfsgestalt im Schnee stand und heisse Atemwölkchen in die Kälte hechelte.

»Ich habe mich entschieden«, hörte er sich mit Reds Stimme sagen. »Ich muss alles vergessen. Wer ich war, was ich bin und auch dich, Oskar. Von diesem Tag an bist du mein zahmer Wolf und das wird alles sein, woran ich mich erinnere.«

Das Tier, das keines war, fiepte und bellte.

»Ich weiss«, antwortete die rote Frau und kraulte ihren Bruder hinter den pelzigen Ohren. »Ich werde dich auch vermissen!« Sie küsste ihn auf die Stirn.

Mile spürte ihren Schmerz, als wäre es sein eigener. Eine tiefe Wunde in ihrem Inneren, gefüllt mit Wut und unnachgiebiger Entschlossenheit.

Dann verblasste der Wolf, der Schnee und die roten Handschuhe vor seinem Sichtfeld und der junge Lichterlord blinzelte verwirrt an die Wand seines Zimmers. Als er wieder alle Sinne beisammen hatte, blickte er sich nach dem Wolfsmann um. Im ersten Moment glaubte er, Oskar wäre wieder verschwunden, doch dann entdeckte er ihn am Fenster stehend.

»Siehst du?«, meinte er, als er bemerkte, dass Mile aus seiner Trance erwacht war. »Es ist ihr Wille. Sie wusste, worauf sie sich einlässt.«

Verwirrt stand Mile auf und trat zu ihm ans Fenster. »Wozu das alles?«, fragte er. »Warum hat Red ihre Erinnerungen weggegeben? Worauf hat sie sich eingelassen?«

Der Wolfshybrid lachte leise und fast klang es wie ein Hecheln. »Sie hat ein Geheimnis, von dem niemand wissen darf«, erklärte er ausweichend. »Nicht einmal sie selbst.«

»Aber du schon?«, schnaubte Mile.

Oskar grinste. »Ganz genau. Ich bin ihr Bruder.«

»Eure Familie hat's echt mit der Geheimniskrämerei«, schmollte er und lehnte den Kopf an die Wand. »Wenn du mir nichts verraten willst, warum bist du überhaupt hier?«, fragte er frustriert. »Ich habe nicht das Gefühl, dass es dir darum geht, mir deinen Segen zu geben.«

Wieder gluckste Oskar belustigt. »Red trifft ihre Entscheidungen selbst«, brummte er heiser. Dann wandte er den Blick von der Strasse, über die sich gerade eine Wachpatrouille mit ihren Wyrselsteinlaternen durch die Zeltlager schob, und sah zu ihm auf. Das dritte Auge auf seiner Stirn hatte sich wieder zu einer vermeintlichen Narbe verschlossen. »Bring mich zum Rattenfänger von Hamel!«

Mile schluckte. »Was willst du von Feivel?«, fragte er. Wieder fiel ihm der glänzende Spiegel an der Brust des Wolfsmannes auf. Sorgfältig gearbeitet, oval geschliffen und in einen Goldrahmen gefasst. Der Faden, an dem er hing, war dünn wie ein Haar. - Vielleicht war die Paranoia der Fatuiten doch ein wenig auf Mile übergesprungen, denn er spürte, wie ihm beim Anblick des Spiegels flau wurde. »Bist du ein Trickster?«

Der Wolfsmann hechelte erneut sein Lachen. »Nein, nicht wirklich. Ich würde mich eher als Apostat bezeichnen. Du wirst wissen, wenn du einmal einem echten Trickster gegenüberstehst.« Er drehte sich um und trat ans Bett, um den roten Umhang wieder an sich zu nehmen. »Pass auf: Alles was ich will, ist, mit Feivel zu sprechen. Und wenn du mir dabei hilfst, bringe ich dich zu Red, wenn die Sonne aufgeht. Dann kannst du behaupten, ihr nachgeschlichen zu sein und sie kann aufhören, vor dir zu verbergen, was sie ist.«

Das klang tatsächlich verlockend...

»Aber... warum macht sie das überhaupt? Warum hat sie mir nichts davon erzählt, dass sie zur Wölfin wird?«

»Das fragst du sie am besten selbst.« Oskar warf sich das Samt um die Schultern. »Gehen wir? Ich habe leider nur diese Nacht Zeit.«

~Sabrina~

Bleich wie der Tod lag Hook in seiner Koje, die gesunde Hand in die Bettdecke gekrallt, den vernarbten Armstumpf an die Brust gepresst. Gefangen in seinem Albtraum wand er sich unter der Decke und murmelte etwas Unverständliches vor sich hin.

»Hook, hey, aufwachen!« Sie setzte sich an die Koje, um vorsichtig an seiner Schulter zu rütteln. Das Leinen seines Nachthemds war nass von seinem Schweiss. »Es ist ein Albtraum, hört Ihr?«

Träge flatterten seine Lider, fahrig tastete er um sich.

»Guten Morgen, ham' Sie Sorgen?«, trällerte Faritales und sprang auf die Matratze der Koje.

Hook keuchte, schrak zusammen, warf sich zur Seite und griff unter das Kissen, um eine Pistole darunter hervorzuziehen.

»Aaaaah!«, machte Fari, flatterte in die Luft und versteckte sich eilig hinter Sabrinas Rücken, sodass die schwarze Mündung der Pistole stattdessen ihr entgegen gähnte.

»Falk, ganz ruhig«, beschwichtigte sie ihn und hob die Hände. »Ich bin es. Sabrina Beltran. Die Eiszarin, die Euch begnadigt hat, ja?«

»D-die Zarin?«, stammelte der Pirat noch immer völlig durcheinander, doch dann senkte er endlich die Pistole. Sein Atem war schwer, als wäre er eben wirklich über einen Pier gerannt und seine Hand zitterte, als er die Waffe neben sich auf das Bett legte. »Tut mir leid, ich... W-was macht Ihr hier?«, fragte er und fuhr sich unruhig über die Beine. Der Schrecken seiner Träume stand ihm noch immer ins Gesicht geschrieben.

»Ich... ähm...« Ja genau. Warum war sie eigentlich hier? Sabrina kratzte sich unsicher im Nacken. »Ihr hattet einen Albtraum«, erklärte sie dann. »Und... na ja, ich weiss, wie schlimm so was sein kann, darum... habe ich Euch geweckt.«

Der Pirat nickte und senkte den Kopf. »Ihr wart in meinem Traum, nicht wahr?«, fragte er hinter seinen dunklen Locken, die ihm wie ein Vorhang vors Gesicht hingen. »Das ist doch wieder dieser Nachtmahr, oder?«

»Äh, nein, nein, ich... bin nur eine geflügelte Katze!«, versuchte Faritales sich rauszureden. An Sabrina gewandt zischte er: »Ich geh mir dann mal wo anders mein Abendessen besorgen, bevor die Sonne untergeht und alle aufwachen. Das hier geht mich ohnehin nichts an. Man sieht sich!« Dann verpuffte er und hinterliess eine nach Schwefel stinkende Rauchwolke.

›Na toll‹, dachte Sabrina, während sie den Qualm wegwedelte. ›So viel dazu, dass er mich nicht im Sticht lässt...‹ An den Piraten gewandt gab sie zu: »Ja. Ich habe die Träume unserer Reisegefährten belauscht, um Futter für den Dämon zu finden. Dabei hörte ich dieses Lied, dass Ihr damals gesungen habt, aber von... einer Frauenstimme. Da war ich neugierig. Tut mir leid, dass ich Eure Privatsphäre gestört habe. So etwas wird nicht wieder vorkommen.« Beschämt stand sie auf. »Ich werde niemandem davon erzählen.«

Sie wandte sich bereits zum Gehen, als der Pirat mit einem Mal zu erzählen begann: »Das Portal spülte meine Mutter, Peter und mich vor so vielen Jahren nach Twos, dass ich zu zählen aufgehört habe.« Traurig blickte auf seinen vernarbten Armstumpf hinab. »Es verschlug uns nach Sywarn, eine Hafenstadt an der Hora. Dort lebten wir unter einer Brücke in einer Bretterhütte. Wir ernährten uns von dem, was uns das Betteln auf der Strasse und mein Klavierspiel in den Kneipen einbrachten. Doch dann erzählte Mutter immer wieder von ihrem neuen Liebhaber, der ihr Sachen schenkte. Schmuck, Perlen, Muscheln und frischen Fisch... Irgendwas stimmte da nicht, warum sollte ein reicher Fischer eine Bettlerin umgarnen? Deshalb habe ich Mum eines dieser Schmuckstücke gestohlen und beim Pfändner gegen die Waffe getauscht. Sie hat es nie bemerkt...« Er schüttelte den Kopf. »Entschuldigt... Skath!« Der Pirat zog die Beine an und vergrub das Gesicht in den Knien. Da kauerte er nun und weinte lautlos.

Die Läufe der Pistole drehten sich leise klickend, als sie die Waffe vorsichtig an sich nahm und auf den Nachttisch neben den Haken legte. Dann setzte sie sich zu ihm.

Nichts an Hook war mehr der ständig spottende Piratenkapitän oder gar ein feiger Inker. Nichts unterschied ihn noch von den Verlorenen unter Deck, den Pflegekindern in Alec Frasers Pastorenhaus oder den Geschwistern Beltran. Er war ein Waise wie sie, ein zorniges Kind des Krieges, Opfer einer grausamen Welt und eines gnadenlosen Schicksals.

»Es tut mir so leid. Es ist schrecklich, was dir und Peter zugestossen ist«, flüsterte sie, legte den Arm um seine Schultern und hielt ihn, bis die Tränen versiegten und ihnen beiden die Augen zufielen.

Als Faritales nach ein paar Stunden zurückkehrte, um zu sehen, ob alles in Ordnung war, fand er die beiden schlummernd nebeneinander. Und obwohl der Nachtmahr den verlockenden Duft ihrer friedlichen Träume riechen konnte, liess er sie ihnen...


~Mile~
27. Moja 80'024 IV

Sie mussten aus einem Fenster in den oberen Stockwerken klettern und auf eine der Brücken zwischen den Gebäuden springen, um den Pförtnern an jedem der Ausgänge von Miles Unterkunft auszuweichen. Seit die Fatuiten Randale in der Stadt machten, hatte Drosselbart seinen Leibesschutz verstärkt. Somit war es vorbei mit den Ausflügen allein mit Floyd durch das Rebellenlager.

Doch Mile konnte seine neu gewonnene Freiheit nicht geniessen, denn Oskars Motive nicht zu kennen, machte ihn nervös. Einerseits glaubte er kaum, dass Oskar etwas anstellen würde, was auf Red zurückfallen könnte, dennoch irritierte ihn der Spiegel an seiner Brust sehr.

»Und, wo ist die Ratte versteckt?«, knurrte Oskar, als sie die Brücke überquert und sich in eine der Gassen zurückgezogen hatten.

»In den Katakomben des Rathauses«, seufzte Mile. »Aber das wird bewacht.«

»Ich denke, ich erinnere mich, wo das ist«, grübelte der Wolfsmann vor sich hin und kratzte sich unter dem Pullover. Die Kleidung schien ihm gar nicht zu behagen. »Komm mit«, brummte er dann und zog den Lichterlord mit sich.

›Wozu braucht er mich überhaupt?‹, dachte Mile, als er Oskar nacheilte. ›Er kennt sich besser in Aramesia aus als ich.‹

Die Frage beantwortete sich, als sie den Rathausplatz erreichten. Der Hybrid zog sich die Kapuze des Umhangs über den Kopf und schob sich hinter Mile. »Hast du Gold dabei?«

Er langte in seine Tasche und spürte ein paar der Münzen an den Fingern, die Drosselbart ihm ab und an in die Hände drückte. »Ja, ein wenig.«

»Gib es den Wachen. Erzähl ihnen, dass du deiner Freundin das Weinlager in den Katakomben zeigen willst«, zischte er und stiess ihn vorwärts.

Er schüttelte den Kopf. »Vergiss es, ich ziehe Red da nicht mit rein!«

»Etwas anderes bleibt uns nicht«, erwiderte der Mann in Rot. »Stell dich nicht so an!«

Ein Zurück gab es ohnehin nicht mehr, denn in diesem Moment entdeckten sie die Wachen. Eine Pfeife hallte von den Hauswänden wider und die Soldaten kamen auf sie zugehastet.

Mile seufzte. Er hasste es, zu lügen, denn er wusste, wie schlecht er darin war. Nervös trat er an die Gardisten heran. »Guten Abend«, grüsste er und verbeugte sich mit überkreuzten Armen.

»Seid Ihr das, Mylord?«, fragte eine von ihnen, eine geschuppte Fischfrau mit Finne am Rücken. Eilig erwiderte sie den Gruss und die übrigen Soldaten taten es ihr gleich.

»Nichts für ungut, junger Herrscher«, sprach ein spitzohriger Soldat mit feléenischem Akzent ihn an, »aber es herrscht Sperrstunde. Ihr dürft Euch nicht ausserhalb Eurer Unterkunft aufhalten, bis die Sonne aufgeht.«

»Ach, es is' noch nich' Morgen?«, fragte Mile lallend und schlang den Arm um Oskars Hüfte. »Tut mir fuuurchtbar leid, mit all den Brücken überm Schädel vergess' ich manchmal glatt, wie spät es is'...«

»Was machst du denn?«, fauchte Oskar leise unter seiner Kapuze hervor.

»Ich improvisiere halt!«, zischte er zurück und wandte sich wieder den Wachen zu, die ihn aus einer Mischung aus Belustigung und Überforderung musterten. »Ich weiss, wir dürfen eigentlich nich' raus, aber uns is' der Zwergenschnaps ausgegangen. Da hab ich an den jeshinischen Wein gedacht und meiner Süssen hier versprochen, dass ich ihr mal was richtig Gutes zum Trinken ausgebe.« Er beugte sich vor und zwinkerte der dritten Wache zu. »Wenn ihr wollt, bring ich euch auf dem Rückweg auch was vorbei...« Angespannt biss er sich auf die Lippe.

Der kräftige Zwerg bekam ganz rote Wangen vor Freude und blickte zu seinen Kumpanen auf. Die Aquanerin nickte und der Elf zuckte die Schultern. »In Ordnung«, sagte er da und zwirbelte sich fröhlich den Bart. »Ihr könnt durch.«

Mile grinste Oskar an und gab ihm einen Klapps auf den Hintern, sodass der Halb-Lykanth leise knurrte. Er nahm ihn an der groben Hand und führte ihn an den Wachen vorbei. Einer davon drückte er dabei die Münzen in die Hand. »Vielen Dank für die Diskretion«, brummte er, was der Soldat mit einem Grinsen und einem Nicken bestätigte.

Als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, liess Mile sich an eine der hohen Wände des Empfangsaals fallen und atmete tief ein.

»Das war gar nicht so schlecht«, brummte Oskar anerkennend.

»Red wird mir den Kopf abreissen«, seufzte er und schüttelte den Kopf. »Sie will nicht, dass sich das mit uns herumspricht.«

»Du musst das verstehen«, gab ihr Bruder zu bedenken, »denn als Hybrid ist man in Twos auf sich allein gestellt. Dir wird kaum jemand etwas anhaben können, du bist der Lichterlord, allein deshalb hast du grundsätzlich den Grossteil der Rebellen auf deiner Seite, egal was kommt. - Red wäre die Zielscheibe für ihren Hass und ihre Angst.« Dann schüttelte er den Kopf und zog Mile von der Wand weg. »Wir verschwenden schonwieder Zeit. Lass uns weitergehen.«

~

»Aber warum werden sie überhaupt ausgegrenzt?«, fragte Mile leise, als sie wenig später hinter einer Knochenwand sassen und darauf warten, dass die Wache an der nächsten Kreuzung ihren Rundgang fortsetzte. »Und warum tun die Hybriden sich nicht zusammen?«

Beinahe hätte der Wolfsmann laut aufgelacht. »Es gibt immer einen Lückenbüsser. Eine Minderheit, auf die man hinabtreten kann«, erklärte er dann bitter und lugte vorsichtig um eine Ecke. »Und um sich zusammenzutun, müssten sie sich einigen. Hinzu kommt, dass sie einen Ort bräuchten, wo sie nicht vertrieben werden.« Verdrossen schüttelte den Kopf, als er sich wieder hinter ihr Versteck verzog. »Wenn du mich fragst, ist es tragisch, dass Hybriden überhaupt ausgegrenzt werden. Aber um dieses Problem zu lösen, müssten sich die Völker Twos' einander annähern. Und dafür sehe ich zur Zeit leider schwarz.« Erneut beugte er sich vor, um nach der Wache zu sehen. »Die Luft ist rein, wir können weiter!«

»Aber ist die Rebellion nicht genau so eine Annäherung?«, hakte Mile weiter nach, als er ihm hinterherschlich. »All diese Völker auf einem Haufen...«

»Und dennoch lagern die Elfen in den höheren Etagen, die Zwerge im Keller, die Aquaner im See und die Scopter auf ihren Luftschiffen. Selbst die Menschen bevorzugen es, unter ihren Stämmen zu bleiben.«

»Aber daran könnte man doch sicher etwas verändern!«, liess er nicht locker. »Immerhin soweit, dass die Hybriden und Werwölfe nicht mehr auf der Strasse leben müssen.«

»Das solltest du nicht mit mir, sondern mit deinem Rat besprechen«, knurrte Oskar und klang dabei genau wie Red. »Von ganz oben lässt es sich am einfachsten nach unten treten.«

Der Lichterlord runzelte die Stirn. »Du meinst, der Fisch stinkt am Kopf?«

Der Wolfsmann lachte hechelnd. »Das hat mit Macht zu tun. Wenn man einen Lückenbüsser hat, muss man sich selbst keine Fehler eingestehen.«

»Du klingst ziemlich abgebrüht«, murmelte Mile.

»Ich bin ja auch schon uralt, da-« Mit einem mal hielt Oskar inne und hob die Nase. Er schnupperte und lauschte. »Hier stimmt was nicht«, brummte er. »Ich rieche... Blut...« Dann hastete er los, Mile hinterher.

Er hatte Mühe, mit dem Hybriden Schritt zu halten, doch schliesslich holte er ihn vor Feivels Tür ein. Der Gardist, der davor Wache gehalten hatte, war mit seinem eigenen Schwert gegen eines der Fässer gespiesst. Blut und Wein vermischten sich am Boden zu einer Pfütze.

Schon stürzte Mile vor, um die Tür aufzureissen und nach dem Gefangenen zu sehen, da hielt Oskar ihn fest und legte sich einen Finger auf die Lippen. Als er sicher war, dass Mile sich nicht rühren würde, beugte er sich an ihm vorbei zum Türrahmen und wischte die darauf gezeichneten Runen weg.

»Es war klug von Euch, dem Rat nichts zu verraten«, drang mit einem Mal Feivels nasale Worte durch das Holz.

»Doch warum sollte sie jemanden wie Euch schicken?«, erklang die lauernde Stimme des Einbrechers. »Warum kommt sie nicht direkt zu mir?«

Mile riss die Augen auf. Er hatte die Stimme sofort erkannt. »Dougal«, flüsterte er, doch Oskar legte ihm mit grimmiger Miene eine Hand auf den Mund. Er roch nach nassem Hund...

»Das wisst Ihr wohl selbst am besten. Ihr seid auch jetzt nur die Notlösung«, schnaubte der Rattenfänger. »Aramesia hätte vom Flammenhass des Herrschers zerstört werden müssen. Und ich sollte tot sein.«

»Leider ist beides nicht eingetreten«, säuselte der Flaschengeist provokant.

Feivel lachte freudlos. »Exakt. Und deshalb müsst Ihr mich losmachen. Wir müssen verhindern, dass das Sakrileg des Lichterlords weitere Konsequenzen hat. Diese Stadt birgt Geheimnisse, die wir schützen müssen!«

»Und wie wollt Ihr das anstellen?«, schnaubte der Geist.

Als kostete er den Moment aus, machte er eine Kunstpause, bis er fortfuhr: »Meine Ratten werden uns früher oder später zu Nannes Grabmal führen. Wir werden es zerstören!«

Oskar nahm die Hand von seinem Mund und liess sich in eine Haltung fallen, die Ärger versprach.

Alarmiert versuchte Mile, sich dem roten Apostat in den Weg zu stellen, doch der schob ihn einfach zur Seite.

»Was soll das, was hast du vor?«

»Den Schaden begrenzen«, antwortete der Wolfsmann heiser, dann stiess er die Tür auf und warf sich in die Zelle.

Feivel kreischte, als Oskar auf ihn losging. Als wäre er wieder in seiner Tiergestalt, verbiss er sich in dem Hals des Rattenmanns und riss ein Stück Fleisch heraus. Die Tinte war überall und Mile wandte sich würgend ab. Erst nachdem er sich seines Mageninhalts entleert und Feivels Gurgeln erstickt war, drehte er sich um. Der tote Rattenmann baumelte über der Pfütze seines Blutes. Von Dougal war keine Spur.

»OSKAR!«, schrie Mile. Unter seiner Haut begann es zu kribbeln und der Russ vertrieb den Geschmack des Erbrochenen von seiner Zunge.

Der Wolfsmann spuckte schwarz aus und wischte sich mit dem Ärmel erfolglos die Tinte vom Gesicht. »Lass das Feuer lieber.« Schon eilte er zur Tür, zog sie ein Stück auf und blickte durch den Spalt. »Wir sollten hier weg, bevor jemand kommt, um den Toten vor der Tür abzulösen.«

»DU BLEIBST SCHÖN HIER!«, brüllte er und kämpfte mit aller Macht gegen seine Wut an. Wäre er nicht der Bruder seiner Freundin, hätte er ihn so was von geröstet... »Wie kannst du Red das antun?«

»Du hast keine Ahnung von nichts!«, fauchte der Wolfsmann zurück und zog sich den Umhang ab. »Kommst du nun oder nicht? Die Sonne geht bald auf und Red braucht den hier wieder.« Er warf ihm den Ballen apiumischen Samts zu und flüchtete von dem Tatort.

~~~

Hallöchen liebe Leseratten

Voller Stolz präsentiere ich euch Kapitel 18. :) Ich habe hier fast meine ganze Ferienwoche dran gesessen - und ich bereue nichts ;P

Dieses Kapitel hat mega Spass gemacht zu schreiben und ich finde, es ist bisher mein Bestes. :3 Was meint ihr?^^ Bin gespannt auf eure Meinung! - Und hinterher gleich die Frage, welches ihr für das schwächste Kapitel haltet. Danke im Voraus :)

Steigt ihr bei dem Schicksalsplot durch? Es würde mich sehr interessieren, was eure Theorien sind und was ihr von dem Ganzen haltet. Was sind eure Gedanken zum Fatum, der Schicksals-Lehre des Enigmanums? Könnt ihr die Angst der Fatuiten nachvollziehen? Versteht ihr die Beweggründe des Rats? Was denkt ihr über die Trickster?

Was mir besonders gefällt, ist, dass so viel passiert. Einige Rätsel werden aufgelöst, andere werfen neue Fragen auf:
- Feivel & Dougal
Was glaubt ihr, ging da mit dem Geist und dem Rattenmann ab? Warum hat Dougal dem Rat verheimlicht, dass er in Feivels Gedanken auf irgendwas gestossen ist? Und worauf ist er gestossen?
- Red & Oskar
Wer ist Oskar wirklich? Was ist seine Motivation? Was sind eure Gedanken zu Reds Erinnerungen und den Lücken? Lasst mich eure Theorien hören!
- Hook & Peter
Was haltet ihr von dem Piraten? Was steckt wohl hinter seiner Motivation? Warum Peter ihn so hasst, sollte unterdessen ja klar sein. ;P Den alten Twos-Hasen wird aufgefallen sein, dass ich einiges gekürzt habe. War einfach zu viel Gelaber. :3

Herzlichen Dank für eure Kommentare, für die ich wertvolle Hinweise zum Schreiben erhalte. Danke 1000x!

Wir lesen uns im nächsten Kapitel und hoffentlich auch in den Kommentaren :)

Liebe Grüsse
Eure Mara

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