Inhumanity

By memory4u

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"Ich sollte sie in das Verderben führen. Nun werde ich jeden dafür zahlen lassen, der auch nur daran denkt, d... More

Menschlichkeit
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By memory4u

Meine Augen brauchen mehrere Momente, bis sie sich an die drückende Dunkelheit gewöhnt haben. Der plötzliche Wechsel aus dem Tageslicht in das alte Gebäude bekommt ihnen nicht gut, dennoch erkenne ich die massigen Pfosten, die das Dach stützen. Der Boden ist dreckig, staubig, zeugt davon, dass das Lager vermutlich schon länger verlassen ist. Den Splittern in den Ecken nach wurde hier Holz bearbeitet, möglicherweise zu Möbeln. Doch ich widme mich nicht länger den Spuren der Vergangenheit, verenge die Augen.

In der Mitte des Raumes kniet ein Mann. Gegen das Licht durch die große Glasfront mir gegenüber nehme ich nichts weiter als seine Silhouette wahr und doch glaube ich zu erahnen, dass seine Arme streng auf den Rücken gedreht sind. Ist er gefesselt?

Bedacht setze ich einen Fuß vor den anderen, stoppe sofort, als er träge den Kopf hebt. Wohin ist Kaya so plötzlich verschwunden? Und wo bleibt Ash?
"Lia."

Mein Herz bleibt fast stehen. Seine Stimme, sein Spitzname für mich. Das kann nicht sein. Oder doch?
"Luan?", hauche ich tonlos, habe Angst, er verschwindet, sollte ich seinen Namen laut aussprechen. Ein weiterer, vorsichtiger Schritt nach vorne. Sein Gesicht liegt im Schatten, erlaubt mir keinen Blick in seine Augen und doch bin ich mir sicher. Die Art, wie er die Schultern bewegt, als er versucht, seine Arme zu befreien, die Weise, wie er frustriert seufzt, als es ihm kein Stück gelingt. "Oh mein Gott, Luan."

Ich stürze nach vorne, bremse abrupt ab, kaum bemerke ich sie. Kaya lehnt an einem der Pfosten zu meiner Linken, völlig gelassen und unbekümmert. Was bedeutet das? Ist sie etwa verantwortlich für das Ganze hier? Dafür, dass Luan gefesselt ist? Hatte sie ihn etwa Tage, nein, Wochen bei sich?
"Schön dich endlich kennenzulernen, Talia."

Mein Blick huscht unruhig zwischen meinem Bruder und ihr hin und her, kann das mulmige Gefühl tief in mir nicht verleugnen. Ash hatte Recht - irgendetwas ist faul. Ganz gewaltig faul. Luan dreht den Kopf zur Seite, offenbart zahlreiche Blessuren um sein Auge. Ich hole entsetzt Luft, mag mir nicht vorstellen, was noch unter seinen Klamotten verborgen ist. Was ihm widerfahren ist. Was sie mit ihm gemacht hat.

"Warum?", hauche ich, bringe nicht mehr hervor. Warum richtet sie meinen Bruder so zu? Meinen Bruder, der keinerlei Magie besitzt und nur meinetwegen in diesem Zustand ist?

Sie tritt neben Luan, legt ihm eine Hand auf die Schulter. Es sieht so falsch aus, so bedrohlich. Zweifelsohne, sie ist der Grund, warum Luan verschwunden ist. Aber warum sollte sie das tun?
"Dazu kommen wir noch." Sie neigt den Kopf kaum merklich. "Ich hatte gehofft, dass ich dich nicht hineinziehen muss. Weder deinen Bruder, noch dich."

Bestimmte Schritte auf dem Boden, dann steht Ash neben mir. Ich muss den Kopf nicht wenden, kann den Blick nicht einen Moment von Luan abwenden, und doch weiß ich, dass er es ist. Obwohl ich mich frage, warum er so lange hierher gebraucht hat, beruhigt es mich ungemein, ihn neben mir zu wissen.

"Kaya." Ash klingt nicht annähernd so erfreut darüber, sie wiederzusehen, wie ich es mir erhofft hatte. Wie er es sich vermutlich selbst ausgemalt hatte. "Lass sie gehen. Beide. Was auch immer du willst, können wir zwischen uns klären."

"Dazu ist es zu spät. Zwei Jahre zu spät, Ash." Sie läuft hinter Luan auf und ab, dreht etwas in ihrer Hand. Als sich das Licht auf der Klinge spiegelt, mich geradewegs blendet, erkenne ich das Messer. Schlagartig wird mir schlecht. Vor Panik, voller Angst um Luan. "Weißt du, Talia, Ash ist ein fantastischer Bruder. Ein fantastischer Bruder, solange man lebt, wie es ihm passt. Nie werde ich wieder so viel Liebe erfahren, wie bei ihm, aber da ist das Problem. Mein Bruder ist besessen."
"Liegt wohl in der Familie", wirft Luan ein, schüttelt kaum merklich den Kopf.

"Damit schlage ich mich schon seit Wochen herum." Kaya schnalzt genervt mit der Zunge, richtet die Klinge auf Luan. "Zurück zum Thema - ich weiß nicht, wie viel er dir über unsere Kindheit erzählt hat, aber ich habe ihn geliebt. Wie Luan dich zu lieben scheint - wir sind eine Familie, wir hatten nur uns."

"Kaya-"
"Sei ruhig!" Sie fährt zu Ash herum, unterbricht ihn fauchend. "Sei bloß ruhig! Glaubst du nicht, sie hat die Wahrheit verdient? Nachdem sie sich dir anvertraut hat? Nachdem sie dich hat Sachen mit ihr machen lassen, von denen wir ihm lieber nicht erzählen."

Sie deutet auf Luan, der sofort hellhörig wird. "Wir müssen wohl reden, Talia. Danach."
Mein ganzer Name, verflucht. Er nutzt ihn nur, wenn er wütend oder enttäuscht ist. Oder beides. Panisch suche ich nach den passenden Worten, bringe sie einfach nicht sortiert. Wie soll ich mich auch für etwas entschuldigen, das ich nicht bereue? Für das ich mich bei ihm nicht entschuldigen muss? Aber kann ich ihm sein Entsetzen verübeln? Er war Wochen gefangen - ich mag mir nicht erst vorstellen, wie - und erfährt dann das. "Luan, ... ich kann das erklären."

Kaya lacht auf. "Die Erklärung ist ganz einfach. Er hat dich um seinen Finger gewickelt. Und ja, sicherlich weiß mein Bruder, wie er eine Frau gut fühlen lässt - ich meine, es war nicht zu übersehen - aber-"
"Wie bitte?" Mein Blick zuckt entrüstet zu Ash, der Kaya unentwegt fixiert, als würde er sich jeden Moment auf sie stürzen. Sie hat es gesehen?

"Glaub mir, ich wünschte, ich könnte diese Bilder aus meinem Kopf verbannen."
"Können wir verdammt nochmal das Thema wechseln?" Luan reißt den Kopf zu ihr herum, renkt sich dabei fast die Schulter aus. "Bitte."

Kaya seufzt. "Gut, wir wollen deinen lieben Bruder nicht traumatisieren." Sie zuckt mit den Schultern. "Wie auch immer, Talia, du weißt doch sicherlich von Simon und mir, nicht wahr?" Sie wartet keine Antwort ab, fährt ununterbrochen fort. "Ich habe auch Simon geliebt und da kommt das Problem - Ash kann nicht teilen. Er braucht einen für sich. Nur für sich. Was war also seine Lösung? Dienende Magier auf Simon zu jagen."

"Das ist eine Lüge", wirft Ash ein.
"Oh wirklich, ist es?" Ihre Stimme sprüht voller Verachtung. "Wie sollen sie denn sonst gewusst haben, wo wir sind?"

Wie benebelt blicke ich zu Ash. Ich öffne den Mund, will ihn fragen, was stimmt, was die Wahrheit ist, doch woher weiß ich, dass er ehrlich zu mir ist?
"Talia", redet er auf mich ein, will nach meiner Hand greifen, doch ich weiche ihm aus. "Ich hätte sie niemals solch einer Gefahr ausgesetzt, das weißt du. Simon hat das inszeniert, um die Schuld auf mich zu schieben."

Kaya schnaubt. "Er versucht, dich zu manipulieren. Lass mich dir ein wenig die Augen öffnen, Talia. Du scheinst ein gutes Mädchen zu sein. Du hast Besseres verdient, auch die skrupellose Wahrheit über meinen Bruder."

Ich blicke gerade wieder zu ihr, da sticht sie zu. Ein Ruck, das schmatzende Fleisch, ein gellender Schrei, mein Schrei. Ich starre auf die Messerspitze, die aus seiner Brust ragt, das Blut, das von der Klinge tropft, bekomme keine Luft. Ash greift nach mir, zieht mich an sich, steckt meine wilden Tritte, Schläge wortlos ein.

Die Magie in mir explodiert, bringt mich beinahe um den Verstand, will eingreifen, muss eingreifen.
Lass mich los, denke ich, schreie ich - ich weiß es nicht. Ash lässt nicht locker. Luans Körper zuckt unkontrolliert, versucht sich an das Leben zu klammern. Ein geöffneter Mund, ein stummes Ich liebe dich, Lia. Keine Luft zum Atmen, zum Schreien, zum Leben, nur das Brennen meiner Magie in meinen Adern. Er kämpft, leidet und ich kann nur zusehen.

Es tut mir leid.
Meine Magie klingt ab und ich weiß, es ist zu spät. Der Glanz weicht aus seinen Augen, die Hoffnung aus mir. Ein unverständlicher Ton entfährt mir, ein Ausdruck meiner Qual. Ich sacke kraftlos zusammen, rutsche tiefer in Ashs Griff. Für einen Moment ist alles still - keiner atmet, keiner glaubt, was passiert ist. Keiner, außer ihr.
"Luan", röchele ich ungläubig, bringe nicht mehr zwischen meinen stockenden Atemzügen hervor. Ash löst seine Hände von mir, endlich, zu spät.

Ich krieche zu Luan, bette seinen Kopf in meinen Schoß. Seine leeren Augen treffen meine, starren geradewegs durch mich hindurch, sind kaum zwischen meinen Tränen zu erkennen. Ich sehe es, weiß es und kann es nicht akzeptieren. Das kann nicht sein, das darf nicht sein. Meine Finger tasten über seine Wange, spüren die noch warme Haut, versuchen sie festzuhalten, haben Angst loszulassen. Ich zwinge die Magie herbei, doch sie ebbt augenblicklich wieder ab.

Nein, nein, nein.
Tausende Erinnerungen brechen über mir ein, tausende Male, in denen sich seine Brust ruhig hob und senkte, zugleich zerrt die bittere Realität an mir. Das ist für immer. Luan ist der, der meine Vergangenheit bereichert hat und in Zukunft nur eine Erinnerung sein wird. Mein Körper zittert unter dem Schock, ächzt verzweifelt nach Luft, die meine Lunge nicht fassen kann. Ich ziehe das Messer aus seinem Rücken, kann den Anblick nicht ertragen.

Ashs Hand auf meiner Schulter, ruhig, viel zu ruhig. Ich entwinde mich seiner Berührung, angewidert, ernüchtert. Ich hätte ihn heilen können, ich hätte sein Leben retten können, wäre Ash nicht gewesen. Hätte er mich nicht festgehalten und mich dazu gezwungen, den Tod zu begrüßen. Nur am Rande bemerke ich das Gefäß in seiner Hand, weiß intuitiv, dass es das ist, was die Magie vernichtet. Das, warum er länger hierher brauchte. Das, warum er mich nicht zu Luan gelassen hat.

Ash kann nicht teilen.

Er hätte sie mit seiner Magie aufhalten können. Er hätte mich zu ihm lassen können. Er hat keines davon getan. Ich greife nach dem zarten Glas, blicke nicht einmal auf die Flüssigkeit darin.

"Was zur Hölle ist falsch mit dir?", wispere ich, bringe nicht mehr hervor. Ashs Augen sind ein Spiegel seines Schmerzes, als ihn meine Worte wie ein Schlag treffen. Du hast keinerlei Recht dazu, verletzt zu sein!

Es ist mir egal, wie sehr ihn meine Worte treffen, egal, was er von mir denkt, als ich das Glas gegen die Wand schleudere und sich die duzenden Scherben zu denen in mir gesellen. Was ist denn auch das wert, wenn ich gerade alles verloren habe?

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