Twos - Ein Märchen von Sommer...

By MaraPaulie

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Als die Herrscher Twos verliessen, kein Ende nahm das Blutvergiessen. Wohin kein Blick der Spinne fällt, ihr... More

Prolog
Kapitel 1 - Es war einmal...
Kapitel 2 - Von Wahnsinn...
Kapitel 3 - ... und Zorn
Kapitel 4 - Buntes Blut
Kapitel 5 - Die Herrscher der Hamronie
Kapitel 6 - Schicksalsfäden
Kapitel 7 - Der Sommermacher
Kapitel 8 - Die Hochburg der Rebellen
Kapitel 9 - Das Attentat von LaRuh
Kapitel 10 - Hüter und Homunculus
Kapitel 11 - Die Last des Schicksals
Kapitel 12 - Tanz der Vampire
Kapitel 13 - Die Verlorenen
Kapitel 14 - Klyuss' Kind
Kapitel 15 - Wunschhandel
Kapitel 17 - Die Schlacht um Aramesia
Kapitel 18 - Lupus memoria
Kapitel 19 - Dom Askur
Kapitel 20 - Das verkaufte Schicksal
Charakterverzeichnis
Götterverzeichnis
Die Prophezeiung von Sommer und Winter

Kapitel 16 - Kaitous Winde

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By MaraPaulie

Der Hüter und das falsche Orakel, der einzige Faden mit einem Makel.
Wenn den Gesandten Flügel fliehen, wird ihnen ein Strum geliehen.
Mit Kaitous Winden Segel hissen. Nimmt hin sein Schicksal mit Gewissen.
Den Zorn zu meistern nicht erlernt, die erste Schlacht nicht weit entfernt.


~Sabrina~
9. Moja 80'024 IV - Nimmerland, Bolwin, Twos

Trotz ihrer Müdigkeit und dem Schutz des Traumfängers erwachte Sabrina am nächsten Tag ohne sich erholt zu fühlen. Mal wieder. Als sie die Augen aufschlug und merkte, dass sie nicht in ihrem eigenen Bett lag, kamen die Erinnerungen an den letzten Tag hoch und sofort flammte die Schuld wieder in ihr auf.

»Guten Morgen... oder guten Abend, Pennsocke?«, rief der Hutmacher, der noch immer genau so auf seinem Stuhl sass, wie gestern, als sie sich in seinem Zimmer schlafen gelegt hatte. Nur war er nicht länger allein. Mondkind und Nebelfinger hatten sich zu ihm an den Teekränzchen-Tisch gesellt. »Willst du dich zu uns setzen?«, fragte er in seine Tasse. »Wir spielen gerade eine Partie Rohrschach und wie es aussieht, sind wir alle verrückt!«

Sabrina rieb sich die verklebten Augen, noch immer geschwollen von den vielen Tränen. »Rohrschach?«, schnaubte sie und setzte sich langsam auf. »Lieber nicht. Ich habe mich lange genug für verrückt gehalten.«

»Hast es doch gehört: Wir Spinner sind unter uns«, meinte Nebelfinger sanft, der ihr vorsichtig zulächelte. Auf dem Schoss des Albinojungen sass Mondkind, die friedlich an ihrem Kuchen knabberte. Doch davon liess Sabrina sich nicht länger täuschen...

»Du auch?«, fragte das blinde Kleinkind, das ihren Blick wohl irgendwie gespürt hatte. Krümelnd streckte sie ihr das angebissene Stück entgegen.

Sabrina lehnte dankend ab. Sie verspürte keinen Hunger. Nur Leere. Und Schuld.

»Du musst etwas essen, Kind. Na komm!«, beharrte Jeremy und schlug mit der Hand auf dem Tisch, sodass sich ein Stapel Spielkarten- und Steine auf dem Fussboden verteilten.

Sabrina seufzte elendig und schob die Beine unter der Decke hervor, um sie auf den Dielen abzustellen. Wie froh sie gewesen war, dass der Hutmacher ihr das freie Bett in seinem Zimmer angeboten hatte. Lieber hätte sie im Flur geschlafen, als in dem Raum, in dem Taami gestorben war.

»Du weisst, dass es nicht deine Schuld war, ja?«, hatte der Hutmacher sie gestern immer wieder gefragt, nachdem sie ihm alles über Erils Verrat und Taamis Tod erzählt hatte. Währenddessen hatte er ihr einen Tee mit Schuss gemacht. Ihrem Gewissen hatte das nicht geholfen, aber immerhin hatte sie danach einschlafen können. Die Schuldgefühle war sie dennoch nicht los.

»Danke«, murmelte sie, als Nebelfinger ihr einen Stuhl zuschob, damit sie sich neben ihn setzen konnte. So unauffällig wie möglich rückte sie dennoch von ihm weg, da sie lieber ausser Reichweite Mondkinds bleiben wollte.

Topper hatte ihr unterdessen ein Stück Kuchen auf den Teller geladen und schob ihn ihr zu.

»Ein etwas zuckriges Frühstück, tut mir leid«, meinte ihr Cousin mit einem entschuldigenden Lächeln. »Es ist schon später Nachmittag und Wendy hat sich vorhin hingelegt...«

»Dann... hab ich den ganzen Tag verpennt?«, seufzte Sabrina.

Nebelfinger lächelte ihr aufmunternd zu. »Das macht nichts. Hier unter der Erde ist das ganz normal.«

»Was für einen Tee hättest du gern?«, fragte der Hutmacher dazwischen, während er den Arm in seinem Zylinder versenkte. »Willst du ein bisschen Hagebuttentee? Oder Holunder? Oder Holinder? Oder Holländer? Oder Zitrone? Oder Pfirsich? Oder Krokodil? Oder Ananas? Oder Gurke? Oder-«

»Zitrone wäre super«, unterbrach Sabrina ihn schnell, bevor er auf die Idee kam, ihr den Holländer zu servieren.

Er zauberte eine gefüllte Teetasse hervor und stellte sie neben ihren Teller. »Dankeschön!«

Sie runzelte die Stirn. »Bitteschön?«

Mondkind kicherte und rief: »Oder Gesundheit?«

»Gute Frage!«, gluckste der Hutmacher. »Schlaues Kind!«

»Wohl eher gefährlich...«, knurrte Sabrina und musterte das Kleinkind argwöhnisch. Die Augenbinde hatte sie wieder auf, doch Sabrina hatte ihre violetten, pupillenlosen Augen nicht vergessen. »Was ist eigentlich wirklich mit ihr los?«, fragte sie ihren Cousin. »Sie hat mich in dieses Nihil getraumwandelt und einfach zurückgelassen! Ich war tagelang dort!«

Nebelfingers Nasenflügel weiteten sich kaum merklich. »Mondkind? Ich weiss nicht, wie du das meinst.«

Sabrina schnaubte. »Dein Ernst?«

Der Albino schien tatsächlich noch ein wenig blasser zu werden und wich ihrem Blick aus.

»Sie ist eine Traumwandlerin. Wie ich. Woher hat sie diese Gabe?«, bohrte Sabrina weiter. Sie war sich sicher, dass Nebelfinger ihr etwas vormachte.

Ihr Cousin wand sich. »Es... I-ich weiss nicht, wovon du sprichst.«

»Hör gefälligst auf! Ich sehe dir doch an, dass du was weisst!«, fauchte sie und Nebelfinger zuckte zusammen. »Und diese verdammten Verse sind auch keine Kinderreime, hab ich recht?«

Bevor er zu einer weiteren Lüge ansetzen konnte, mischte sich Jeremy Topper ein: »Habe ich richtig verstanden? Du bist eine Traumreisende, Sabrina?«, fragte er aufgeregt und rührte energisch in seiner Tasse, sodass der Tee spritzte.

»Unfreiwillig, ja«, seufzte sie.

»Noch eine Gabe Boras...«, brummte der Hutmacher und das dunkle Flackern seiner Augen liess sie intuitiv unruhig werden.

»W-wir sollten langsam los«, meinte Nebelfinger da. Er hob seine Schwester von seinem Schoss und stand auf. »Mondkind sollte nicht so viel Süsskram essen, es dämmert und ich... hab noch etwas zu erledigen.« Eilig machte er sich mit dem kichernden und winkenden Kleinkind auf den Armen zur Tür.

»Hey, hiergeblieben!«, rief sie und sprang von ihrem Stuhl. »So leicht lass ich dich nicht davonkommen!«

Doch schon schob sich der Verlorene in den Flur.

»Lass sie, Sabrina, wir haben viel zu tun«, knurrte Jeremy Topper, während er Pergament und Federkiel aus den Tiefen seines Zylinder zog. »Hilf mir lieber, eine semiontische Nachricht an den Rat zu schicken. Er muss erfahren, was geschehen ist und dass wir die Rastaban nicht mehr zu unseren Verbündeten zählen können.«

Grimmig sah Sabrina der Tür beim Zufallen zu und setzte sich mit verschränkten Armen wieder an den Tisch. »Nur weil meine Mutter die Eiszarin war, heisst das doch noch lange nicht, dass ich das auch sein kann. Ihr solltet euch lieber eine andere suchen, die sagt, wo es langgeht.« In Gedanken an Taami fügte sie hinzu: »Jemanden, der vorausschauender handelt als ich.«

Erst seufzte der Hutmacher, der Blick düster wie die Nacht, doch dann glimmte etwas Grün in ihnen auf. »Jetzt hör schon auf, so hart mit dir zu sein. Du wolltest diese Mission nicht verzögern, deshalb hast du Sadaf und Dolorkane hierbehalten. Du hast dich deiner Pflicht bewusst entschieden. Woher hättest du wissen sollen, dass alles so den Bach runtergehen wird? Das ist, was die Guten nun einmal tun müssen: Schwierige Entscheidungen treffen. Und manchmal sind es leider die Falschen.«

»Aber jetzt ist jemand tot!«, widersprach sie und spürte, wie sich wieder ein Kloss in ihrem Hals bildete. »Wie kann das gut sein?«

Der Hutmacher sah sie traurig an und legte ihr seine Hand auf den Arm. »So düster der Weg, den die Spinne für uns vorsieht, zu manchen Zeiten auch sein mag: Wir können nur darauf vertrauen, dass sie uns am Ende ins Licht führt.«

Sie blinzelte die Tränen weg und nickte. »Vertraust du der Spinne denn, Jeremy?«

Verblüfft hob der Hutmacher die Brauen und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Nun... Ich habe erkannt, dass es die einzige Wahl ist, die einem bleibt.«

»Aber dann ist es doch keine Wahl«, widersprach sie kopfschüttelnd. »Und nach Vertrauen klingt das auch nicht gerade.«

Der Hüter presste die Lippen aufeinander. »Ich vertraue darauf, dass es das Richtige ist, der Spinne treu zu bleiben«, korrigierte er sich dann, um jedes Wort bedacht. »Und das solltest du auch tun, Kind.«

»Du wusstest, dass Taami sterben wird, nicht wahr?«, fragte sie da, doch der Hutmacher ging nicht weiter darauf ein. Stattdessen streckte er ihr das Pergament entgegen und nahm den Federkiel an sich.

»Zeit für die semiontische Nachricht«, seufzte er und setzte den Kiel an seinen Unterarm an. »Fällt dir etwas ein, womit wir die Nachricht verschlüsseln könnten?«

Sabrina seufzte frustriert, doch sie beliess es dabei. Sie würde diesem Hüterzeugs schon noch auf die Spur kommen, jedenfalls sobald sie Nebelfinger in die Finger bekam... Erst wollte sie Jeremys Frage verneinen, doch dann fiel ihr etwas ein. »Gibt es in Twos das Morsen?«

Er hob die Brauen. »Mir sagt es jedenfalls nichts.«

Mit den Fingerknöcheln klopfte sie ein »H-A-L-L-O« auf den Tisch. »Das ist Morsen«, erklärte sie dann. »Ein Alphabet, bestehend aus langen oder kurzen Einheiten. Man kann es akustisch oder optisch nutzen.«

»Faszinierend«, lachte der Hutmacher. »Lehrt man euch das in Modo?«

»Bei den Pfadfindern«, winkte sie ab. Sie selbst war nie Mitglied gewesen, aber Mile schon. Und der hatte seiner Schwester das Morsealphabet beigebrach, damit sie miteinander kommunizieren konnten, ohne dass die anderen Pflegekinder oder der Pater sie verstanden. Das war nun schon einige Jahre her, doch Sabrina erinnerte sich noch gut an die Abfolgen kurzer und langer Schläge, die sie zum Ärger ihrer Pflegefamilie an das Mobiliar geklopft hatten.

»Nun gut«, meinte Topper schulterzuckend und bohrte sich die Stahlkappe der Feder in den Arm, bis die Tinten den Kiel hinauflief. »Mal hoffen, dass dein Bruder dieses Alphabet genauso gut beherrscht wie du.«


~Mile~
Ebenen von Hebrorie, Jeshin, Twos

Pinocchios Nachricht hatte den Rat in blanke Panik versetzt. Muhme Trude hatte sogar vorgeschlagen, die Armee zurück nach LaRuh zu führen, doch daraufhin waren Azzarro und Rosanna auf die Barrikaden gegangen und am Ende hatten alle nur noch gestritten.

Schliesslich hatte Drosselbart die Sitzung abgebrochen und vorgeschlagen, dass sie alle erst eine Nacht darüber schlafen und sich am nächsten Abend erneut treffen sollten.

Doch Mile hatte diese Nacht kaum ein Auge zubekommen. Stunden war er hellwach neben seiner schlummernden Gefährtin gelegen, die Gedanken unaufhörlich um das Mitternachtsmassaker kreisend. Und um die Furcht, die er in den Augen der anderen Ratsmitglieder gesehen hatte. Das Schlimmste an dem ganzen Schlamassel war, dass er nicht einmal mit Red darüber sprechen durfte. Drosselbart hatte ihnen allen verboten, auch nur ein Wort darüber ausserhalb des Ratzelts zu verlieren. Eine solche Hiobsbotschaft würde nur Unruhe unter den Rebellen verbreiten.

Nun wartete er den Tag ab, bis es endlich soweit war und die nächste Ratssitzung einberufen wurde. Das Reiten und Marschieren hatte er schon hinter sich, unterdessen war es später Nachmittag. Todmüde war er, doch Red wollte ihn nicht schonen. Zu allem Überfluss hatte sie den Anspruch ihrer Kämpfe deutlich erhöht, was er ziemlich zu spüren bekam. Aber jedes Mal, wenn er sich beschwerte, erinnerte sie ihn daran, dass Aramesia mit jedem Tagesmarsch näher rückte.

»Konzentrier dich!«, rief die Rote, als sie ihn zum wiederholten Mal mit einer Finte und einer gekonnten Pirouette ausser Gefecht setzte. »Fuchtel nicht so rum, das ist eine Flamberge, Mile, kein Degen!«

Er schnappte nach Luft, einerseits aus Empörung und andererseits, weil ihm die Luft ausging. »Ich bin halt müde!« Er liess sich Zeit beim Aufheben seines Schwerts, um etwas länger verschnaufen zu können. »Ausserdem bist du ein Tier, Red! Wie soll ich da mithalten?«

Sie verzog keine Miene. »Los jetzt! Grundhaltung!«

Seufzend winkelte er die Beine an, schwenkte Kayat in einer Acht, hielt es vor sich und stiess pfeifend den Atem aus. Er hatte überhaupt keine Lust auf das Training heute. Statt es einfach mal schön mit Red zu haben und sich von all den schlechten Nachrichten abzulenken, musste er sich von ihr mit dem Schwert vermöbeln lassen. »Nur eine Runde noch, okay?«

»Nein.«

Zack, zack, machte es, schon lag er wieder in der mittlerweile von ihnen plattgekämpften Wiese, schnappte nach Luft und hielt sich die Seite. »Musst du immer so reinhauen?«, maulte er, während er sich von ihr aufhelfen liess.

»Reiss dich mal zusammen! Erstens war das mit der flachen Seite und zweitens musst du bereit für diese Schlacht sein, Mile! Dort geht es um töten und getötet werden, verstehst du?«

Hätten sie Zuschauer gehabt, hätte Mile natürlich nie zugegeben, dass ihm etwas wehtat. Zu sehr gefiel es ihm, den glorifizierten Herrscher zu geben, der die Rebellen zum Sieg führen würde – wie Drosselbart es immer so schön sagte. Doch heute hatten sie kein Publikum, denn das Paar hatte sich für dieses Training etwas vom Lager der Rebellen entfernt. Das war eine weitere von Reds Änderungen in seinem Trainingsplan gewesen, da sie sich so mehr Konzentration von ihm erhoffte.

Als mit einem Mal Gelächter zu ihnen herüberschallte und Rosanna zwischen ihren Leibgarden an sie herantrat, verfluchte Mile sich umso mehr für sein Gejammer.

»Heulst du etwa, Lichterlord?«, zündelte sie sofort drauf los, stützte sich auf ihren mitgebrachten Speer und grinste zu ihm auf.

»Wer ist das Kind?«, fragte Red verwirrt und ihr Blick pendelte zwischen den Wachen, die teilnahmslos danebenstanden, und der Jugendlichen hin und her.

»Das ist Häuptling Azzarros Tochter, Rosanna Lodbrock«, erklärte er missmutig und wischte sich den Schweiss vom Gesicht. »Was willst du hier?«, brummte er Rosanna entgegen und verschränkte die Arme. »Hast du nichts Besseres zu tun?«

»Laut eures Drosselkönigs gebührt mir dieselbe Behandlung wie euch Herrschern«, erklärte die kleine Wilde und liess lässig ihren Speer in der schwülen Nachmittagsluft kreisen. »Ich will mitmachen!«

»Kommt nicht in Frage!«, schnaubte Red, doch schon begab die Jugendliche sich in Kampfhaltung und stiess angriffslustig den Speer in die Luft. Erst schien die Rote überfordert, doch dann schlich sich fast schon ein Lächeln auf ihr Gesicht. »Das ist eigentlich ein gutes Training...«

»Bist du verrückt? Ich mach doch keine Kinder platt!«, zeterte Mile da. »Ausserdem... hat die 'nen Speer. Es tut schon genug weh, wenn du mich mit deinem Schwert vermöbelst!«

Sie schnaubte nur und trat in die Reihen der Soldaten, die ihren Kampfplatz bewachten »Wenn ihr bereit seid-«

»Attacke!«, brüllte Rosanna und ging auf Mile los, der eilig nach seinem Schwert griff...

~

Die Barbarentochter nahm ihn ordentlich in die Mangel. In kürzester Zeit hatte sie den ohnehin schon geschafften Lichterlord mit ihren Hieben und Stichen ausser Atem kommen lassen. Sie liess ihm keine Verschnaufpause, immer wieder musste er ihren fatalen Hieben ausweichen. Viel schlimmer war jedoch, wie sie ihn dabei mit ihrem hämischen Gequassel vorführte.

»Geht dir schon die Puste aus, Schwächling?«, piesacken sie ihn, als er gerade einem weiteren ihrer Speerstösse auswich. Er hatte keine Chance, an sie heranzukommen.

»Benutz deine Waffe, Mile!«, rief Red ihm zu. »Das ist eine Flamberge! Die ist perfekt fürs Parieren!«

Mit dieser Information konnte er zwar nur wenig anfangen, dennoch liess ihn der Apell seinen Schwertarm hochreissen und die Speerspitze wegschlagen.

Rosanna lachte nur, riss ihre Waffe herum und traf Mile mit einem Hieb an Arm. Immerhin nur mit dem Schaft. »Du bist so schlecht! Haben deine scheiss Herrscher-Eltern dir denn gar nichts beigebracht?«

»Fick dich doch!«, schnauzte Mile zurück und wehrte einen weiteren ihrer Hiebe mit Kayat ab.

»Du wirst ja richtig rot im Gesicht, wenn du wütend wirst!« Rosannas Augen blitzten böse. Provokant hob sie das Kinn. »Du bist noch nutzloser als deine verdammten Eltern! Bist du auch so feige wie deine Schwester?«

»Wer sagt denn so was?«, knurrte er gepresst, bemüht sich nicht reizen zu lassen. Nun versuchte er es mit einem Gegenangriff und sprintete auf Rosanna los, die blitzschnell auswich und ihm die Beine wegtrat. Mile flog durch die Luft und landete im Dreck. Doch statt der Erde schmeckte er mit einem Mal Russ auf der Zunge.

»Konzentriert euch lieber aufs Kämpfen!«, rief die Rote ihnen zu, was beide jedoch gekonnt ignorierten.

Die Barbarin lachte noch lauter, während sie auf ihn zu kam. »Spricht sich unter den Soldaten halt so rum«, säuselte sie und trat ihm in die Seite, während er versuchte, sich aufzurappeln. Mile keuchte und fiel erneut in den Dreck.

»Rosanna!«, bellte Red, doch die Barbarin streckte ihr nur die Zunge raus.

An Mile gewandt zündelte sie weiter: »Genauso wie dass du jede Nacht Besuch von einer Azblaka-Hure hast...«

Nun sah er doch rot. Gerade als Rosanna ihm wieder einen Hieb mit ihrem Speer verpassen wollte, streckte er die Hand aus und bekam den Schaft zu fassen. Mit einem kräftigen Ruck riss er ihr die Waffe aus den Händen.

Wäre er nicht so verdammt wütend gewesen, hätte er über Rosannas Gesichtsausdruck vermutlich gelacht, doch nun empfand er nichts als flammenden Zorn. Und so rappelte er sich hoch, brach den Speer entzwei und schlug damit Rosanna mit voller Wucht auf den Kopf.

Das Mädchen ging in die Knie und hielt sich mit einem Ausdruck von Verwunderung und Schmerz die Stirn, wo aus einer Platzwunde rotes Blut sickerte.

»Mile! Halt!«

Jemand hielt ihn fest, doch er riss sich los und stapfte auf die Barbarin zu. Es rauschte in seinen Ohren, sengende Hitze schoss durch seine Adern. Er hob die lichterloh brennende Hand, ballte sie zur Faust und griff das Mädchen am Kragen.

»Mile!« Plötzlich stand Red vor ihm, das Schwert gezückt. »Hör auf!«

Nur langsam kam er wieder zu Sinnen. Sein Feuer versiegte, er senkte den russigen Arm, liess los und trat zurück. »I-ich, ähm...« Er blinzelte zu Rosanna herab, die ihm hasserfüllt die Zunge rausstreckte. »Entschuldigung...« Dann lief er davon, zurück ins Lager.


~Sabrina~

Der Pirat sass zusammengesunken in einer Ecke des kargen Zimmers, in dem Hänsel ihn versteckt hatte. Die dunklen Locken fielen dem Kapitän in das müde Gesicht, nur erhellt von dem Wyrselstein, den Hänsel in der Mitte des Raums auf die Dielen gelegt hatte. Seine Lider waren geschlossen, er schien zu schlafen.

»Da bist du ja endlich!«, begrüsste Hänsel sie leise, der sich am anderen Ende des Raums postiert hatte, von wo aus er den Inker noch immer aus Argusaugen beobachtete.

Kaum war sie von Topper losgekommen, hatte Sabrina sich nach Hänsel und seinen Gefangenen auf die Suche gemacht. Sie hatte den die beiden schliesslich in irgendeinem entlegenen Gang des riesigen Höhlensystems des Baums gefunden. Ein leerer Abstellraum, nur ein paar Kisten an der Wand. Kein besonders gutes Versteck, aber immerhin abgelegen von den Haupthöhlen.

»Tut mir leid, es war einiges los...«

Bestürzt stützte der Hüne sich an die erdige Wand, als Sabrina ihm leise und verkürzt vom Tod der jungen Lamia erzählte. »Oh Götter...«, machte er und fuhr sich über den narbigen Haaransatz. »Möge Isra Sadafs Geist und Seele gnädig sein.«

»Was ist mit dem Angebot, das Ihr meinem Bruder machen wolltet?«

Sabrina zuckte zusammen und funkelte Hook böse an.

»Peter will mich tot sehen.« Er hatte den müden Blick auf die Dielen geheftet, während er sprach. »Seid Ihr hier, um mich zum Schafott zu führen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe Peter nichts von Euch verraten. Ich habe ihn zu einem anderen Handel überreden können.«

Nun hob Hook doch den Kopf und sah erstaunt zu ihr auf. Unterdessen hatte sich die Farbe von seinen Lippen gelöst, sodass ihr Blaustich augenfällig wurde. Zudem liess sich eine kleine Narbe erkennen, die sich senkrecht über die linke Seite seiner Unterlippe zog.

»Ihr werdet nicht sterben Pirat«, stellte sie mit fester Stimme klar. »Jedenfalls nicht in meinem Namen.«

Nun runzelte Hook die Stirn. »Warum die Mühe?«, fragte er misstrauisch. »Warum zeigt Ihr Gnade?«

»Geschwister sollten einander nicht umbringen. Das will ich nicht unterstützen«, meinte sie und fügte langsam hinzu: »Ausserdem sagtet Ihr, dass Ihr Euch den Rebellen anschliessen wollt. Ist das noch immer der Fall?«

»Sabrina«, brummte der Garraeli neben ihr angespannt. »Das ist keine gute Idee!«

»Wenn ich schon die Eiszarin sein muss, dann will ich selbst entscheiden, wie ich diese Rolle ausführe«, entgegnete sie entschlossen und tatsächlich akzeptierte Hänsel das und liess sie gewähren, wenn auch sichtlich widerwillig. Grimmig wandte sie sich wieder Hook zu. »Nun, Pirat?«

Noch immer schien der Kapitän misstrauisch, doch dann nickte er. »Aye«, antwortete er mit kratziger Stimme und richtete sich auf. »So ist es, Zarin.«

»Euer Schiff«, kam Sabrina zu dem Punkt, weswegen sie eigentlich hier war. »Gibt es eine Möglichkeit, wie wir damit nach Dom Askur reisen können?«

Da breitete sich wieder der Spott auf dem Gesicht des jungen Piraten aus und nun schien er sich zu entspannen. »Das ist es also... Ihr wollt die Jolly Roger?«

»Was hast du ausgeheckt?«, wollte nun auch Hänsel wissen.

»Die Draconauten und ihre Kiter sind weg und wir sitzen auf Nimmerland fest«, entgegnete sie nüchtern. »Das bedeutet, wir brauchen eine andere Möglichkeit, um nach Dom Askur zu gelangen. Und auf einem Schiff kämen wir sicherlich schneller voran als zu Fuss.«

»Ihr wisst gar nicht, wie richtig Ihr damit liegt«, lachte Hook da, der mit einem mal wieder viel wacher wirkte. Er griff an seinen Gürtel und zog aus einem der daran befestigten Säckchen ein goldenes Instrument hervor, einem Kompass ähnlich. Doch als der Pirat das Ding in drei kreisrunde Scheiben auffächern liess, wurde klar, dass es etwas anderes sein musste. Wie ein Schweizer Taschenmesser konnte man mehrere Werkzeuge herausklappen: Verschiedene Lupen, Zeiger, Hebel und flache Ringe, auf die kleine Ziffern und Buchstaben geprägt waren. Zudem war das Instrument zweifellos magisch, denn hinter ein bläuliches Schutzglas schien ein wabernder Nebelstreif eingesperrt zu sein.

»Was soll das sein?«, fragte Sabrina und betrachtete das fremdartige Gerät mit Skepsis, gab Hänsel jedoch ein Zeichen, nicht gleich wieder mit dem Chepesch zu schwingen.

»Ein Sturmglas«, verkündete der Pirat stolz. »Ein differenzmagisches Instrument, ganz und gar einzigartig. Es enthält die Stürme Kaitous, sodass sich damit Winde lenken lassen.«

»Woher hat ein Inker so was?«, wollte Hänsel unnötig barsch wissen. Zum ersten Mal erinnerte er Sabrina ein wenig an Gretel.

»Es ist nicht gestohlen, falls Ihr das vermutet«, schnauzte der Pirat zurück und funkelte den Dämonenschlächter böse an. »Es gehört mir. Und niemand sonst kann es bedienen.«

»Und wie soll dieses Ding uns nun weiterhelfen?«, hakte Sabrina weiter nach, ohne sich von dem Gezanke der beiden ablenken zu lassen.

Der Schalk blitze in den tiefblauen Augen Hooks auf. »Das demonstriere ich Euch gern.« Mir flinken Fingern hatte er das Instrument mit nur einer Hand verstellt. Kaum hatte er eines der Rädchen gedreht und zwei kleine Hebelchen umgelegt, durchfuhr sie in dem fensterlosen Raum tief unter der Erde der Wind. Staub wirbelte auf, es zerrte an den von der Decke hängenden Wurzeln, ihren Haaren und Kleidern...

»Stopp!«, rief Hänsel gegen den Wind und der Pirat lachte, gehorchte aber und liess den kleinen Sturm versiegen.

»Mit dem Sturmglas kann mein Schiff nicht nur auf Klyuss' Wellen sondern auch auf Kaitous Winden segeln«, erklärte Falk »Hook« O'Jesper stolz. »Wenn Ihr wollt, werde ich damit die Jolly Roger herbringen. Und wenn Ihr mir helft, die Inker an Deck loszuwerden, bringe ich Euch, wohin Ihr wollt.« Er hielt ihr den Haken entgegen. »Klingt das nach einem Deal?«

Sabrina blickte auf das Metall. »Es kommt, wie es kommen muss«, murmelte sie leise, dann hob sie zögernd die Hand, schloss die Finger um den Haken und sah zu ihm auf. »Ich hoffe, das Wort eines Piraten ist es wert.«

Wieder schenkte er ihr ein spöttisches Lächeln, das sie nicht recht zu lesen vermochte. »Ich sagte doch bereits: Ich bin ein ehrlicher Schurke.«


~Mile~

Red fand ihn in seinem Zelt. Die Wachen, die vermaledeiten Tratschtaschen, liessen sie ein, da sie sie unterdessen kannten.

»Hey«, machte sie sanft und setzte sich zu ihm aufs Bett. »Ist alles in Ordnung?«

Mile schnaubte. »Das solltest du wohl eher das Kind fragen, das ich vermöbelt habe.«

»Erstens war das eine Jugendliche und zweitens hatte sie es auch ein bisschen verdient«, witzelte sie, doch Mile gelang nicht einmal ein Lächeln.

»Auch wenn sie es verdient hätte, ist es keine Ausrede«, murmelte er.

Red seufzte und legte ihm eine Hand in den Nacken. »Was war denn los?«

Mile schloss die Augen und genoss ihre warme Hand an seinem Haaransatz. »Wenn ich wütend werde, dann... eskaliert es. Ich will das nicht, ich wäre gern besonnener, aber... ich weiss nicht, wie.«

»War das schon immer so?«

»Na ja, ich war ein ziemlich wütendes Kind. Vor allem seit dem Tod meiner Eltern.« Beschämt blickte er auf seinen Arm, der noch immer voll Russ war. »Es tut mir leid, dass es passiert ist. Und ich wollte nicht, dass du mich so siehst...«

Ihre Hand wanderte seinen Rücken hinab und strich ihm tröstend über den Rücken. »Ich denke, das ist normal. Ich... war auch sehr lange wütend, als ich meine Erinnerungen verloren hatte...«

Überrascht sah er zu ihr auf. »Wie war das? Wie ist das überhaupt passiert?«

Sie lächelte matt. »Wie es dazu kam, weiss ich ja selbst nicht mehr. Ich erwachte irgendwann in dieser Hütte im Ertrunkenen Wald, wohin ich auch dich und Sabrina damals gebracht hatte... und wusste nicht mehr, wer ich war... Ich war niemand. Deshalb bin ich zu Beginn der Usurpation der Antagonisten auf die Wandernden Inseln gereist, um an der irdischen Universität Lexikas Medizin zu studieren, sodass mein Leben einen Sinn bekam. Doch als der Krieg immer schlimmer wurde, habe ich mich den Rebellen angeschlossen. - Und dennoch hatte ich nie wirklich das Gefühl, irgendwohin zu gehören. Ich komme mir immer wie ein Fremdkörper vor.«

Es war wohl das erste Mal, dass Red wirklich offen von sich erzählte und Mile war berührt. »Das... muss eine einsame Zeit gewesen sein.«

Mit flatternden Lidern nickte sie. »Ohne Oskar wäre ich verloren gewesen...«

»Wie habt ihr euch eigentlich«, er hob die Hände und machte Gänsefüsschen in die Luft, »kennengelernt?«

Wieder lächelte sie ihr mattes Lächeln und antwortete: »Er war da, seit ich mich erinnern kann.« Bevor er sie weiter ausfragen konnte, legte sie ihm eine Hand auf die Wange. »Mile... wegen deiner Wut... Wusstest du, dass bekannt ist, dass viele Lichterlords mit ihrer Wut zu kämpfen hatten?«

Er hob die Schultern. »Nein.«

Sie nickte. »Man nennt es den Flammenhass«, erklärte sie. »Als grösste Schwäche der Lichterlords galten schon immer ihr Jähzorn. Besonders Aodhan, dein Grossvater war für seine cholerischen Ausbrüche bekannt.«

›Hat Muhme Trude das gemeint?‹, schoss es Mile durch den Kopf und sofort fühlte er sich wieder schlechter. Erschüttert wollte er sich abwenden, doch Red hielt ihn zurück.

»Dein Vater hingegen«, fuhr sie fort, »hatte seine Wut bereits im jungen Alter unter Kontrolle. Und es heisst, ein Lichterlord erreicht die Spitze seiner Macht, wenn er seine Balance findet. Es gibt also auch Wege, diese Wut zu kontrollieren.«

Er schluckte und nahm ihre Hand in seine. »Wie?«

Sie zuckte die Schultern. »Das werden wir herausfinden. Du bist doch schliesslich ein Optimist, nicht?«

»Dann glaubst du mir jetzt, dass ich diese Schlacht um Aramesia schaffen werde?«

Mit einem tiefen Seufzen gab sie sich geschlagen. »Vielleicht brauchst du ja die Feuertaufe...«

Mile lächelte und fühlte sich immerhin ein wenig erleichtert. Dann beugte er sich vor, um sie zu küssen, als sie plötzlich zurückwich.

Gekränkt blinzelte er sie an, als hinter ihm mit einem Mal ein Räuspern ertönte und Mile sich umblickte.

Ein Soldat war in das Zelt getreten. »Verzeihung, Mylord«, erklärte der Rebell und verbeugte sich mit überkreuzten Armen. »König Drosselbart bittet alle Ratsmitglieder, sich für eine Sitzung einzufinden. Sofort.«

~

Wieder sassen sie um den runden Tisch des nachtblauen Sitzungszelts des Rebellenrats, dessen Wände magische Runen trugen, die ungebetene Lauscher erblinden und ertauben liessen. Wyrselsteine erhellten die schlaflosen Gesichter der Rebellenanführer. - Doch etwas hatte sich seit gestern verändert: Auf dem runden Tisch in ihrer Mitte war ein Muster aus Punkten und Strichen eingebrannt, als hätte jemand die ganze Nacht mit einem Lötkolben darangesessen.

»Was ist das?«, fragte Mile, als er das Zelt betreten und wie die anderen Rebellenführer irritiert das Muster betrachtete. Aus dem Augenwinkel sah er, dass auch Rosanna anwesend war. Sie hatte sich ihre Wunde am Kopf verbunden und starrte grimmig an ihm vorbei.

»Eine semiontische Nachricht von Jeremy Topper und Eurer Schwester, junger Lord«, antwortete ihm Löwenherz grollend und wandte den grossen, dunklen Kopf in Richtung der unteren Tischhälfte. »Immerhin signiert haben sie es verständlich...«

Tatsächlich prangte am anderen Tischende die Akronyme von Sabrina und dem Hutmacher.

Da ging Mile auf einmal ein Licht auf. Eilig hastete er um den Tisch herum und betrachtete die angesenkte Platte von der anderen Seite aus. »Das ist Morsecode«, stellte er verblüfft fest. »Eine verschlüsselte Nachricht. Verdammt schlau, daran zu denken!«

»Ihr könnt das lesen?«, fragte Drosselbart erfreut.

Agaue Fluc klatschte in die Schwimmhaut-Hände. »Was steht da?«

Mile musste um ein Stück Papier und einen Stift bitten. Als er kurz darauf ein Pergament und einen Kohlestift in den Händen hielt, begann er den Code zu entschlüsseln. »Da steht, Sabrina und ihr Trupp sind auf Nimmerland angekommen. Aber... der Geschuppte Graf hat die Rebellen verraten und versucht, die Mission mithilfe von Offizier Dolorkane zu intrigieren«, erklärte er, als er fertig war. »Sie schreiben, dass er es war, der den Attentäter von LaRuh beauftragt hatte. Den Rastaban ist nicht mehr zu vertrauen...« Er schluckte und fügte hinzu: »Ausserdem ist Offizierin Sadaf tot, an einem Fieber gestorben. Die Drachen sind weg. Sabrina und die anderen stecken auf Nimmerland fest und müssen einen anderen Weg nach Dom Askur finden. Ihre Reise wird sich also verzögern.«

›Ich wusste es doch‹, dachte er und legte bestürzt Kohlestift und Pergament auf dem Tisch ab. ›Hoffentlich geht es Sabrina gut.‹ Fast war er ein wenig enttäuscht, dass sie kein Wort direkt an ihn verloren hatte... Aber die Nachricht war ja auch für den Rat bestimmt, nicht an ihn, auch wenn es gemorst war.

Die aufbrausende Elfenkönigin riss ihn aus seinen Gedanken: »Natürlich hat Dolorkane uns verraten!« Mit ausgestrecktem Finger deutete sie auf Ikarus. »Steckt Ihr da auch mit drin? Ihr wart es doch, der Dolorkane ständig verteidigt hat!«

Entrüstet verschränkte der Scopter die Arme und die Klapperschlange an seinem Hals zeigte ihre Giftzähne. »Habt Ihr nicht zugehört, Amiéle? Die Rastaban haben uns verraten, nicht die Lamier. Und ja, ich mag mich in Dolorkane getäuscht haben, doch ich kann beteuern, dass die Lamier nichts mit diesen Intrigen zu tun haben!« Er nickte in Dougals Richtung. »Von mir aus kann der Lauscher das gerne überprüfen.«

Der Flaschengeist rieb sich bereits die Hände, doch bevor sein Meister ihn bestätigen oder massregeln konnte, hieb mit einem Mal Azzarro mit der Faust auf den Tisch.

»Und woher wissen wir, dass der Herrscher die Wahrheit sagt?«, bellte der Barbarenhäuptling. »Keiner kann dieses... Muster lesen, bis auf diesen Bengel. Und eure Zarin hat die Nachricht verfasst! Was, wenn diese Informationen falsch sind?«

»Die Botschaft ist auch von Jeremy Topper unterzeichnet – einem Mann, den ich mit auf diese Mission gesandt habe, weil ich ihm vertraue«, erklärte Drosselbart beschwichtigend. Dann seufzte er tief und blickte müde in die Runde. »Wir haben Wichtigeres zu tun, als uns zu streiten. Das ist genau das, was unsere Feinde wollen.« Er pochte mit den beringten Fingern auf die Tischplatte. »Zudem haben wir keinen Grund den Geschwister Beltran, noch den Lamiern zu misstrauen.« Er bedachte sowohl Mile als auch den Scopter-Prinzen mit einem warmen Blick. »Wir dürfen uns nicht spalten lassen«, verkündete er dann in die Runde. »Nur gemeinsam können wir die Antagonisten stürzen!«

Die Rebellen brummten zustimmen. Selbst die Elfe und der Garraeli schienen das einzusehen, wenn auch mit Unmut.

»Und was gedenkt Ihr gegen die Rastaban zu unternehmen?«, fragte König Orion, der nervös im hinteren Teil des Zelts auf und ab tigerte.

Der Rebellenkönig schwieg einen Moment. Langsam erklärte er: »Ich sehe keinen anderen Weg, als die Rastaban aus den Reihen der Rebellen zu verbannen und-« Die übrigen Ratsmitglieder schnitten ihm mit ihrem Widerspruch das Wort ab.

Mit Mühe bekam Deron sie wieder unter Kontrolle und erteilte Jilva Frihir das Wort.

»Wir wollen Aramesia angreifen und schlussendlich Tempus einnehmen«, argumentierte die Werwölfin. »Die Drachen sind unser wichtigster strategischer Vorteil. Ohne die Rastaban wird die Kiter-Flotte beträchtlich schrumpfen!«

»Das steht nicht zur Diskussion«, widersprach der Rebellenkönig. »Der Graf hat versucht, die Rebellion zu intrigieren. Jeder, der sich nicht von ihm losgesagt hat, ist eine potentielle Gefahr für uns.« Mit strenger Miene fügte er hinzu: »In der Prophezeiung gibt es keine Erwähnung einer Intrige der Rastaban!«

»Na also!«, rief Rosanna, die Barbarentochter frech hinter dem Rücken ihres Vaters hervor. »Dann habt ihr Spinnen-Schisser ja nichts zu befürchten!«

Mile rollte mit den Augen, was Rosanna nicht entging. Sie streckte ihm die Zunge raus.

»Im Gegenteil«, erklärte Drosselbart mit tiefen Sorgenfalten auf der Stirn.

Dougal ergänzte. »Genau das ist es, was so beunruhigend ist. Was ist, wenn der Geschuppte Graf ein Trickster ist? Was, wenn er versucht, die Fäden des Schicksalsnetz zu zerreissen?«

»Aberglaube«, schnaubte Azzarro und grunzte verdrossen. »Mein Volk hat sich nicht dieser Armee angeschlossen, um nun ängstlichen Fanatikern in den Wahnsinn zu folgen.«

»Er hat nicht unrecht«, pflichtete Amiéle dem Barbar da mit einem Mal bei, was Mile irritiert die Gesichter der anderen Ratsmitglieder absuchen liess. Und tatsächlich entdeckte er hier und da gehobene Brauen.

»Seht es lieber so, Häuptling«, bedachte Deron mit einem Lächeln. »Euer Volk wird reichlich mehr Blut zu vergiessen haben, wenn weniger Drachen an der Front kämpfen. Und das ist es doch, womit Euer Volk dem Kriegsgott Ratko huldigt, nicht?«

Tatsächlich schien das den Garraeli umzustimmen, die Ironie dabei entgingt ihm völlig. Mit einem Grinsen rieb er sich die Hände. »Wohl wahr, Drosselbart«, knurrte er zufrieden. »Ruhm dem Chaosgott!«

Doch Mile bemerkte, wie Rosanna ihrem Vater einen missmutigen Seitenblick zuwarf. Die Barbarin teilte seine Meinung wohl nicht...

An Amiéle gewandt fuhr Deron fort: »Ich habe die Prophezeiung gelesen, Matari. Wir werden siegreich sein, also habt Vertrauen!«

Die Elfe rollte mit den Augen, doch sie widersprach nicht.

Der Rebellenkönig liess müde den Blick durch seinen Rat streichen. »So sei es«, erklärte er. »Und nun zu dem, was viel Wichtiger ist.«

»Der Schatten«, knurrte Orion, der sich unterdessen zu ihnen an den Tisch gesellt hatte, bisher aber ungewohnt ruhig geblieben war.

Deron nickte düster und gab seinem Flaschengeist ein Zeichen. »Dougal, erzähl ihnen, was du mir berichtet hast..«

»Ich habe eine Vermutung, worum es sich bei diesem Talisman handeln könnte«, säuselte der Flaschengeist sofort drauf los. Die spitzen Runen auf seiner Haut tanzten im Licht der Wyrselsteine. »Ist euch die Legende von der Büchse der Pandora geläufig?«

Der Grossteil der Ratsmitglieder schüttelten die Köpfe. Nur Muhme Trude horchte auf und nickte aufgeregt, sodass ihre Knochenkette klapperte. »Eine uralte Geschichte«, krächzte sie. »So alt, dass die meisten Details längst in Vergessenheit geraten sind.«

Der Geist nickte. »Es heisst, dass eine böse Macht darin einsperrt wurde.«

»Was für eine Macht?«, wollte Orion voll Furcht wissen.

»Dieses Wissen ist leider mit dem grossen Brand der Bibliotheksstadt Lexika verloren gegeangen«, erklärte die alte Hexe. »Es heisst, dass die Büchse, wann immer sie in Twos auftauchte, Tod und Verderben verbreitete. Deshalb wurde sie irgendwann versteckt.«

»Und nun ist sie wieder da«, stellte die Nereide fest und blinzelte traurig mit ihren Fischaugen.

»Aber das ist sie ja nun schon länger«, knurrte Jilva mit blitzenden Augen. »Die Antagonisten haben sie zweifellos für das Mitternachtsmassaker benutzt. Und vermutlich haben sie auch die Bevölkerung Bolwins damit ausgelöscht. Aber irgendwann haben sie damit aufgehört. Warum?«

»Gute Frage, Lykanth«, stellte Ikarus fest. »Erinnert ihr euch, was Pinocchio gesagt hat?«

Die Elfenkönigin nickte. »Er sagte doch, die Beschwörungen der Antagonisten hätten mit einem Mal nicht mehr funktioniert. Deshalb haben sie ihm den Talisman – also die Büchse – entfernt.«

Die Ratsmitglieder blickten alarmiert zu Drosselbart auf, der sich nachdenklich den krummen Bart kraulte. »Warum?«, brummte er vor sich hin. »Und wozu?«

»Was, wenn sie die Büchse öffnen wollen?«, sprach Mile seinen Gedanken laut aus und als sich nun alle Augen auf ihn richteten, führte er aus: »Wozu sollten sie Pinocchio den Talisman sonst entnommen haben?«

Dougal wog den Kopf. »Es ist anzunehmen, dass die Antagonisten noch viel weniger über diesen Talisman wissen als wir. Das könnte auch ein Grund dafür sein, dass sie ihn dem Homunculus erst so spät entnommen haben, um nichts zu riskieren.« Er grinste und seine Metallzähne blitzten. »Sie haben keine Ahnung, womit sie es zu tun haben.«

»Und wir auch nicht«, erinnerte ihn Azzarro. »Was wollen wir nun gegen dieses Ding unternehmen?«

»Vorerst«, brummte Drosselbart, »nichts.«

»Nichts?«, wiederholte Rosanna und schlug sich gegen die Stirn. »Selbst in Garrael kennt man die Geschichten über das Mitternachtsmassaker. Irgendwas müssen wir doch tun!«

»Nicht zugehört?«, zog der Scopter sie auf. »So lange die Antagonisten die Büchse nicht benutzen können, sollten wir vor weiteren Angriffen des Schattens in Sicherheit sein.« In Miles Richtung fügte er hinzu: »Dass sie es schaffen, diese Büchse zu öffnen, glaube ich kaum. Geppetto sagte, sie wäre magisch versiegelt gewesen. Um das Siegel zu lösen, müssten die Antagonisten wissen, wie es geschaffen wurde. Und dieses Wissen ist laut Muhme Trude verloren.«

»Aber was, wenn sie es schaffen?«, entgegnete Mile. »Und was, wenn sie die Versieglung der Büchse doch öffnen können? Was wird dann passieren?«

Amiéle seufzte theatralisch. »Fragen über Fragen und für keine davon haben wir eine Antwort. Nichts für Ungut, mein Herrscher, doch wir werden ohnehin erst etwas unternehmen können, wenn wir Tempus erreicht haben.«

Mile verschränkte die Arme. »Aber wir sind doch der Rebellenrat! Können wir denn keine... Spione oder so was nach Tempus schicken?«

»Das haben wir längst versucht«, knurrte Löwenherz düster. »Von keinem, der Arkans Hauptstadt je betreten hat, haben wir je wieder gehört.«

Der Rebellenkönig nickte betreten. »Uns bleibt wohl nichts anderes übrig, als auf das Schicksal zu vertrauen, unseren Marsch Richtung Aramesia fortzusetzen und zu hoffen, dass die Intrigen der Rastaban das Netz der Spinne nicht verletzt haben.«


~Sabrina~
12. Moja 80'024 IV

Als am Horizont die Jolly Roger auf dem Licht der aufgehenden Morgensonne der Gefängnisinsel entgegensegelte, versammelten sich alle Bewohner des Baumes am Ufer.

Nimmertiger führte die Kinder an, die sich mit Keulen, Steinschleudern und angespitzten Stöcken bewaffnet hatten, um ihren Freund Tatze aus den Klauen der Inker zu befreien. Darunter befanden sich John, Bolle, Wolke, Murmel, Knochen, Schattenkrieger, Nachtauge, Regenherz, Lichterfänger und Stilletänzer. Ungewohnt still harrten sie im Sand aus und blickten aufs Meer.

Sabrina war dagegen gewesen, dass die Kinder dabei waren und kämpften, doch Nimmertiger hatte sie nur ausgelacht. »Wir haben uns schon vor Kannibalen und Wendigowaks verteidigen müssen, als Ihr noch in die Windeln geschissen habt, Zarin«, hatte er sie erinnert. »Ausserdem wurden wir noch nicht begnadigt. Noch sind wir Verlorene und bis dahin entscheiden wir alles selbst.«

Immerhin blieben Nebelfinger mit Mondkind auf dem Arm, Wendy und der kleine Knopf an der Böschung zurück, die hinab zum Sandstrand führte, und versteckten sich hinter blauen Büschen.

Auch Sabrina hatte sich für den Kampf gewappnet, auch wenn sie vorhatte, sich möglichst in keinen zu verwickeln. In einer ledernen Brigantine steckend und mit Ellon'da ausgerüstet, wartete sie neben Hänsel und Topper, dass Hook sein Schiff mit dem Sturmglas zu ihnen windete. Und über ihnen in der Luft schwebte Peter Pan wie ein Fallbeil über seinem Bruder.

»Du hast mich hintergangen!«, hatte er gebrüllt und ihr vor die Füsse gespuckt, nachdem Sabrina ihm von ihrem Plan und Hooks Partizipation darin berichtet hatte. Hänsel hatte Peter festhalten müssen. Wie ein wütendes, strampelndes Insekt hatte er in den Pranken des Garraelis ausgesehen, während die Zarin umständlich befahl, sich von Hook fernzuhalten. – Was er befolgte. Er hielt Distanz, beschattete den Piraten, lauerte ihm auf und ging still seinen Rachefantasien nach.

›Dabei wollte ich mich doch gar nie in diese Scheisse reinziehen lassen‹, dachte sie grimmig. Sie versuchte nicht daran zu denken und hielt daran fest, dass sie das Richtige tat. Sie hoffte es. Um sich abzulenken, sah sie dem Piraten dabei zu, wie er an seinem Sturmglas hantierte. Geduldig und mit geübten Fingern verstellte der Einhändige hier und da ein Rädchen, klappte das Instrument zusammen, liess es in das Säckchen am Gürtel fallen und zog stattdessen ein Fernglas hervor. Mit Schwung liess er es ausfahren, setzte es an und blickte konzentriert hindurch. Dann tauschte er das Fern- wieder mit dem Sturmglas und das Ganze ging von vorne los.

»Warum dauert das so lange, Inker?«, knurrte Hänsel und rasselte mit seinem Chepesch. »Ihr habt uns versprochen, das Schiff würde im Morgengrauen uns gehören.«

»Geduld, Barbar«, spottete der Pirat. »Die Westwinde sind widerspenstig.«

Bald darauf hatte das Schiff sie fast erreicht. Rufe und Schreie drangen zu ihnen herüber. Eine Kanonenkugel schlug nicht weit von ihnen in den Sand ein.

»Los jetzt, bevor sie nah genug sind, dass sie uns treffen!«, scheuchte nun auch der Hutmacher den Piraten, der verbissen an seinem Instrument schraubte.

»Aye«, knurrte Hook, grinste in die Runde und zwinkerte Sabrina zu. »Haltet euch fest!« Dann legte er ein Hebelchen um und liess all seine Stürme aufziehen.

Sabrina keuchte gegen den Wind an, der ihr entgegenschlug, das Atmen erschwerte und in den Ohren rauschte. Sie griff nach Hänsels Arm, der sich wie sie gegen die Böen stemmte.

Erst als die Jolly Roger in die Luft gehoben wurde, flachte das Getöse ab. Das Schiff hob der Sturm jedoch höher und höher, bis die Masten in den Wolken verschwanden. Tropfend hing die Galeone in der Luft, dann legte Hook ein weiteres Hebelchen um und das Schiff wurde auf den Kopf gekehrt.

Die Schreie der Inker waren leise, wurden lauter, dann prallten sie auf das Wasser, Fontänen spritzten auf und schliesslich trieben sie leblos an die Oberfläche.

Sabrina schluckte und kämpfte gegen ihr Entsetzen an. Dennoch brach ihr der kalte Schweiss aus. ›Es ist Krieg‹, rief sie sich ins Gedächtnis. ›Vielleicht gewöhnt man sich daran...‹

»Und jetzt wieder runter«, knurrte der Garraeli und schwang kampflustig sein Chepesch.

Der Pirat nickte und schaltete sein Sturmglas um, sodass die Jolly Roger sich wieder kehrte, in einem ziemlichen Tempo kielvoran herunterkam und wenige Meter vor ihnen zurück ins Meer klatschte.

»Gut«, meinte der Hutmacher. »Das wird den Rest von ihnen ordentlich durchgeschüttelt haben.«

»Hoffen wir es«, knurrte Hänsel und trabte auf das Wasser zu.

»Angriff!«, brüllte Nimmertiger. Seine Kindersoldaten stürmten los und stiessen laut krakeelend ihre Waffen in die Luft.

Sabrina und ihre Gefolgschaft taten es Hänsel und den Verlorenen nach und wateten auf das Schiff zu.

Hook war am schnellsten an Bord geklettert. Es erklangen Rufe und Schreie, Schüsse, dann ging ein erstochener Inker von Bord. Der Kapitän warf ihnen eine Strickleiter hinab. »Kommt an Bord!«

Einer nach dem anderen zog sich hoch, während die Kinder es lieber Hook gleichtaten und die Bordwand hinaufkletterten.

Es schallten die Alarmglocken und der Kampflärm über den Strand.

Mit schwitzigen Händen wartete Sabrina darauf, dass sie die Strickleiter hochklettern durfte. Topper hatte bei der Planung des Überfalls mit ihr abgemacht, dass sie als Letzte an Deck kommen würde. Sie wusste selbst, dass sie für einen echten Kampf noch nicht bereit war und es graute ihr davor, in einen verwickelt zu werden, also war sie mehr als einverstanden. Somit war der Kampf auch schon so gut wie vorbei, als sie an Deck kamen. Hook, Topper und zu ihrer Überraschung auch die Kinder hatten die Inker kaltgemacht. Es schienen nur wenige ¨von ihnen den Flug überlebt zu haben und auf das Deck gekommen zu sein, um die Angreifer abzuwehren. Nun lagen sie tot auf den Planken.

»Soweit so gut, Pirat. Euer Kaperplan hat bisher standgehalten. Waren das schon alle?«, grunzte Hänsel mit geblähten Nasenflügeln und verrutschter Augenklappe.

Hook wischte sich das rote Inkerblut vom Haken. »Es waren etwa 50 Männer. Ich habe bisher 30 Tote gezählt.«

»Ich gehe unter Deck und prüfe, ob noch wer überlebt hat«, erklärte Topper und machte sich die Treppe hinab, die auf die unteren Decks führte. Nimmertiger und seine Brüder schlossen sich ihm an.

»Wir halten Wache«, rief Hänsel ihnen nach.

Eine Weile standen sie da, lauschten den rollenden Wellen und warteten. Doch es tat sich nichts.

Irgendwann trat Hook an Sabrina heran und grinste ihr entgegen. »Wenn Ihr möchtet, zeige ich Euch das Schiff«, mit einer einladenden Bewegung winkte er sie mit sich. Sabrina blickte sich zu Hänsel um, doch der beobachtete den Piraten nur böse, mischte sich aber nicht ein. Verziehen hatte er dem einstigen Inker noch nicht. Doch zu sehen, dass der Pirat seine ehemaligen Seemänner ebenfalls bekämpft hatte, schien das Verhältnis ein wenig zu verbessern. Also folgte Sabrina dem Piraten.

Als sie sich vor einigen Tagen unfreiwillig auf das Schiff getraumwandelt hatte, war es zu dunkel gewesen, um die Imposanz des Dreimasters bewundern zu können, doch im goldenen Morgenlicht erstrahlte das Schiff in ganzer Pracht.

Die Jolly Roger war riesig. Vom Bugspriet bis zum Heck mass sie sicher über fünfzig Meter. Der Rumpf der Galeone war leider von den Inkern in grau übermalt worden, wie schon die Segel. Aus rechteckigen Luken mit aufgeklappten Stückpforten lugten die Mündungen der Geschütze der Kanonendecks – jedenfalls die, die vom letzten Flug übrig geblieben waren. Das Heck des Schiffs war mit Schnitzereien um die Buntglasfenster verziert. An den Treppen links und rechts von der Tür der Kapitänskajüte gelangte man auf die erhöhte Plattform am Heck, wo auch das Steuerrad der Galeone angebracht war. Dies nannte man das Achterdeck, wie Hook erklärte. Am Vorschiff entsprang dem Bug ebenfalls ein erhöhtes Deck. Dort konnte man der Gallionsfigur über den Scheitel streichen: In ein Tuch gehüllt reckte sich die geschnitzte Frau mit langem Haar Gischt, Wellen und Wind entgegen.

»Klyuss?«, vermutet Sabrina, was Hook mit einem andächtigen »Aye« bestätigte.

Sie blieben einen Moment vor dem Bugspriet stehen und lauschten den Wellen und dem sanften Knarzen des Schiffs. Nach dem Kampfgeschrei von eben eine erholsame Stille.

»Gefällt Euch mein Schiff?«, fragte der Pirat dann und strich liebevoll über die Reling.

Sie rang mit sich und entschied, vorsichtig zu bleiben und dem Kapitän gegenüber noch nicht allzu viel Sympathie zuzulassen. Also rümpfte sie die Nase und blickte sich nach einem der toten Inker um. »Ohne die Leichen und das ganze Blut wäre es hier sicher schöner...«

Er nickte düster, zog seinen Flachmann aus der Hosentasche und nahm einen tiefen Schluck. »Wir werden sie ins Meer werfen, bevor wir lossegeln.« Er hielt ihr den Alkohol hin, doch sie lehnte ab.

Mit einem Anflug von Misstrauen musterte sie ihn. »Wie lange seid Ihr mit ihnen gesegelt?«

Er schnaubte. »Niemand von ihnen war mein Freund«, stellte er klar, als hätte er ihren Stimmungswechsel gespürt. »Ich mag nicht wie die anderen Tintenwesen, die sie jagten, hinter Gittern gelebt haben oder ständig zum Aderlass gezwungen worden sein, doch auch ich war ein Gefangener. Sie behandelten mich nie als einen von ihnen. Ich habe meine Kajüte nur verlassen, um die Winde zu navigieren. Und festen Boden unter den Füssen habe ich auch das erste Mal seit Jahren...«

»Tragt Ihr deshalb die Schminke?«, fragte sie und deutete auf die Lippen des Piraten, die eindeutig wieder bemalt waren.

»Aye. Wenn man in ständiger Gesellschaft von Leuten lebt, die ihre eigene Mutter für etwas Tinte verkaufen würden«, erklärte er ruhig, »will man irgendwann verbergen, dass ebendieses durch die eigenen Adern fliesst.«

Sabrina nickte. »Dann hattet Ihr kein Problem damit, diese Leute zu töten?«

Hook gluckste nur dunkel. »Nein.«

Wieder nickte sie. »Erst habt ihr die Tintenwesen verraten, dann die Inker...«

»Wenn Ihr mir so sehr misstraut«, brummte er langsam, »warum habt Ihr mir Gnade gezeigt? Habt Ihr dieses Schiff so dringend gebraucht?«

Sie zuckte die Schultern. »Ich würde Lügen, würde ich behaupten, ich hätte es nicht gebraucht. Aber das ist eigentlich nicht der Punkt.« Nachdenklich blickte sie auf das Meer. »Gnade braucht keine Gründe. Das macht sie doch aus, nicht?«

Stirnrunzelnd musterte er sie. »Ich weiss nicht, ob ich Euch für naiv oder weise halten sollte...«

Bevor sie sich eine Antwort darauf überlegen konnte, trat mit einem Mal Amadeus Minnet den Aufgang zu dem Deck hoch. Er musste unterdessen von seiner verlorenen Familie befreit worden sein. Die Gefangenschaft hatte ihre Spuren an dem blassen, schwachen Jungen hinterlassen. Dutzende Kielnarben bedeckten seine hageren Arme. Dennoch schien er überglücklich und schloss Sabrina in eine feste Umarmung.

»Verzeiht, Zarin, aber ich bin Euch so unendlich dankbar!«, erklärte er heiser.

Sie lachte und drückte ihn etwas unbeholfen zurück. »Ähm... Gerne!«

»Tatze!«, rief eine helle Stimme von der anderen Seite des Decks und der Junge löste sich von der Zarin, um sich umzusehen.

Wendy, Nebelfinger mit Mondkind auf dem Arm, Michael und Knopf waren in der Zwischenzeit ebenfalls an Bord geklettert. Das älteste der Darlingkinder kam mit wehenden Korkenzieherlocken auf Amadeus zugerannt und fiel ihm um den Hals. »Den Göttern sei Dank! Du bist am Leben!«

Sabrina legte den Kopf in den Nacken und sah zu Peter auf, der noch immer über ihnen schwebte. Als einziger hatte er Amadeus nicht freudig begrüsst. – Nun gut, er hatte ihm auch seine Fee gestohlen.

»Unter Deck ist alles in Ordnung!«, rief es hinter ihnen und als Sabrina sich umblickte, erkannte sie einen ihrer Cousins. Aus der Ferne war es schwierig zu erkennen, welcher es war, doch Sabrina tippte auf Schattenkrieger, den Zweitältesten. »Wir haben ein paar Überlebende gefunden und abgemurkst. Jetzt sollte alles sicher sein!«

»Gut so«, knurrte Hänsel zufrieden und Sabrina hatte das Gefühl, dass er sich nun endlich wieder etwas entspannte.

Das Läuten einer Glocke zog die Aufmerksamkeit aller an Deck auf sich. Hook stand am Aufgang zu dem erhöhten Vorschiff und schlug das Alarmsignal. »Hört mal her, ihr Landratten! Ihr wollt doch alle weg von dieser Insel, oder?«, rief er und winkte sie zu sich.

Neugierig traten die Verlorenen näher.

»Bevor wir ablegen, müssen wir das Schiff wieder flottmachen. Der letzte Flug war etwas unsanft. Ihr da, ihr helft, die Leichen von Bord zu werfen«, erklärte der Pirat und begann, die Gruppe zu dirigieren. »Ihr drei dort schrubbt das Deck. Einen Mob und Lumpen dafür findet ihr dort vorn. Und ihr dort, ihr holt die Segel runter und flickt die Löcher. Wer weiss, wie man einen Nagel sauber einschlägt, kommt zu mir!«

Als die Verlorenen sich etwas verwirrt über die Ansage des Fremden nach Peter oder Nimmertiger umblickten, trat Schattenkrieger vor. »Ihr habt ihn gehört! Lasst uns loslegen, damit wir endlich von dieser Insel wegkommen! Oder wollt ihr noch länger bleiben?«

Das überzeugte die Kinder, die auseinanderstoben, um ihren Aufgaben nachzugehen.

~Mile~
Mondtal, Jeshin, Twos

Die Drachen verliessen sie in der Nacht. Hunderte Kiter und ihre Draconauten. - Das Bündnis der Rebellen und der Rastaban war aufgelöst. Mit mächtigen Flügelschlägen gewannen sie an Höhe und stiegen in den Himmel auf. Die glitzernden Schuppen mischten sich unter die Sterne.

Am Rande des Kraters, den der Mond Onwa laut Reds Geschichten einst in die Erde gerissen hatte, sahen die Rebellen den Drachen nach, bis die Dunkelheit sie verschluckte. Zu ihren Füssen, unten im Tal, lag der Onwasee, von Weinreben umkränzt wie ein Heiligenschein. Und mittendrin reckte sich die riesige Hafenstadt aus den Wassermassen in die Höhe, ein buchstäblicher Dorn im Auge.

Die Stadtmauern mit ihren vielen Seeschleusen schienen vor Gebäuden überzuquellen. Wie das Geäst eines kahlen Baumes rankten sich die Gebäude in die Luft. Verästelte Hochhäuser, die mit Brücken verbunden waren oder aneinanderlehnten wie müde Riesen.

Dies war Aramesia.

Die Schwarze Armee hatte ihr erstes Schlachtfeld erreicht.


~~~

Hallöchen ihr Lieben :)

Sorry, dass ihr so lange auf dieses Kapitel warten musstet. Ich habe ewig darüber gegrübelt und teils auch noch an den anderen Kapiteln rumgeschraubt. So passt es mir aber^^

Jetzt bin ich auf eure Meinung gespannt:

- zum Plot: Ich find ihn so viel flüssiger und weniger sperrig, geradliniger. Was meint ihr? Ist eher eine Frage für alte Twos-Hasen, aber auch die neuen dürfen sich gern beteiligen: Wie empfindet ihr es? Bleibt es übersichtlich? Trotz der vielen Figuren? (Hab übrigens Bernard Fokke und Ilse und Bill rausgestrichen. Ich weiss, gerade letztere waren ein kleiner Favo, aber irgendwie passen sie einfach nicht rein. Sie sind so irrelevant. Und Fokke ist mir zu umständlich xD Da hab ich was anderes im Sinne...)

- Was denkt ihr über das Enigmanum. Was denkt ihr über diese Religion, speziell über das Fatum?

- Was haltet ihr von Hook? Wie findet ihr diese Version des Charakters?

- Das Charakterverzeichnis und Co habe ich nicht vergessen. Es zieht sich nur etwas, weil es einfach nicht ganz so motivierend wie das Kapitelschreiben ist. :3

Freue mich über eure Votes und Kommentare :D

Liebe Grüsse
Mara

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