Fabelblut

By Wortweberin

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Eigentlich sollte es nur eine Klassenfahrt nach Schottland werden - aber als Lina auf einem Friedhof in Edinb... More

Prolog
Karte
Teil 1: Das Kollegium der Schatten
Fabelnacht (1)
Fabelnacht (2)
Zum tänzelnden Einhorn (1)
Zum tänzelnden Einhorn (2)
Der Junge im Baum (1)
Der Junge im Baum (2)
Die Schwestern von Stormglen (1)
Die Schwestern von Stormglen (2)
Reale Fiktion(1)
Reale Fiktion(2)
Feuerprobe (1)
Feuerprobe (2)
Feuerprobe (3)
Wo Schatten, da auch Licht (1)
Wo Schatten, da auch Licht (2)
Wo Schatten, da auch Licht (3)
Wo Schatten, da auch Licht (4)
Das Falsche, Böse und Hässliche (1)
Das Falsche, Böse und Hässliche (2)
Das Falsche, Böse und Hässliche (3)
Spartakus 2.0 (1)
Spartakus 2.0 (2)
Spartakus 2.0 (3)
Das hier ist ein Anfang
Teil 2: Der geteilte Wald
Schauer und Sterne (1)
Schauer und Sterne (2)
Schauer und Sterne (3)
In the bleak midwinter(1)
In the bleak midwinter (2)
In the bleak midwinter (3)
Scherbengericht (2)
Tiefere Magie (1)
Tiefere Magie(2)
Tiefere Magie (3)
Komme, was da will
Magdalen College (1)
Magdalen College (2)
Alter Wald, neue Wünsche (1)
Alter Wald, neue Wünsche (2)
Der Fremde im Schatten
Götter und Dämonen (1)
Götter und Dämonen (2)
Die Prophetin (1)
Die Prophetin (2)
Maulwürfe und Giftschlangen (1)
Maulwürfe und Giftschlangen (2)
Teil 3: Die blinde Festung
Das hier ist ein Anfang
Lethe
Lethe (2)
Im Haus der Spiegel (1)
Im Haus der Spiegel (2)
Im Haus der Spiegel (3)
Gretchenkomplex (1)
Gretchenkomplex (2)
Geschwisterliebe (1)
Geschwisterliebe (2)
Pater Familias
Pater Familias (2)
Im Auge des Sturms
Im Auge des Sturms (2)
Nänie für den Frühling (1)
Nänie für den Frühling (2)
Nänie für den Frühling (3)
Nänie für den Frühling (4)
Eine Bitte zum Schluss
Nachwort
Fabelfluch
Prolog
Erster Teil: Die Allegorie der Nacht
Dunkle Tunnel (1)
Dunkle Tunnel (2)
Dunkle Tunnel (3)
Was kein Auge je gesehen
Was kein Auge je gesehen (2)
Dolch, Eule, Mond
Myrthas Geheimnis
Die Herrin von Schatten und Wellen
Auge um Auge
Der Pakt der schwarzen Waage
Zwischenspiel: Das Abschiedsglas
Zwischenspiel: Das Abschiedsglas (2)
Zweiter Teil: Soteria
Bei Tageslicht
Spreu von Weizen
Spreu von Weizen (2)
Wachstumsschmerzen
Zwischenspiel: Das Haus der Schatten
Von der Ordnung der Dinge
Von der Ordnung der Dinge (2)
In den Hallen von Eleos
In den Hallen von Eleos (2)
Das Mädchen mit dem grauen Haar
Das Mädchen mit dem grauen Haar (2)
Die Eirenen
Die Eirenen (2)
Die Eirenen (3)
Die Eirenen (4)
Die Eirenen (5)
Dritter Teil: Der Garten der Ideen
Zwischenspiel: Der Erbe der Schatten
Ante Portas (1)
Umfrage
Ante Portas (2)
Ante Portas (3)
Heimspiel (1)
Heimspiel (2)
Zwischenspiel: De profundis
Der letzte Flug der Elfen
Der letzte Flug der Elfen (2)
Bei Mond und Stein
Zwischenspiel: Schattenschwestern
Zwischenspiel: Schattenschwestern (2)
Dem Schicksal zum Trotz
Dem Schicksal zum Trotz (2)
Zwischenspiel: Der Erbe der Schatten 2 (neues Kapitel!)
Die Muse und die Gärtnerin
Die Muse und die Gärtnerin (2)
Dreifach verraten (1)
Dreifach verraten (2)
Dreifach verraten (3)
Epilog (Neu!)
Fabelblut Agentur-Einsendung?
Bitte um Feedback
Fabelblut Band 3
Kommentare (2)
Fabelblut offline
Kommentare (3)
Figureninterviews: Eleanor
Epilog (alternativ)
Playlist
Eine kurze Frage an alle, die Fabelblut schon gelesen haben
Neues zu Band 3
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Scherbengericht (1)

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By Wortweberin

In Fabelreich ist der Schnee über Nacht geschmolzen. Nur an einigen schattigen Stellen ist ein matschiger Rest zurückgeblieben und als wir dummerweise in genau so einem landen, reißt es mich fast von den Füßen. Mo kann gerade noch verhindern, dass ich der Länge nach ins Gras fliege.

Er grinst. „Na, das mit der Landung müssen wir aber nochmal üben." Kurios, wie sich seine Laune automatisch bessert, sobald er wieder magischen Boden unter den Füßen hat.

„Lina! Mo!" Roxy kommt über den Rasen auf uns zu gerannt. Fast wäre sie an derselben Stelle ausgerutscht wie ich. Sie muss sich an unseren Schultern festhalten und kommt gerade noch schlitternd zum Stehen. „Da seid ihr ja endlich!"

„Was heißt hier endlich?" Mos Grinsen rutscht von seinem Gesicht. „Demetra hat doch gesagt, wir sollen nicht vor dem Mittag zurück sein."

„Hä?" Roxys Brust hebt und senkt sich, als sie sie einen Marathon gelaufen. Verwirrt schaut sie von Mo zu mir und wieder zurück. „Hat...hat euch keiner was gesagt?"

„Uns was gesagt?" In meinem Magen breitet sich ein flaues Gefühl aus. Es ist das gleiche Gefühl, das ich habe, wenn ich unbemerkt die Abgabefrist für einen Aufsatz verpasst habe. „Jetzt spuck's schon aus!"

„Es geht um Eleanor." Roxy scheint sich sichtlich unwohl in ihrer Haut zu fühlen. Sie meidet Mos Blick. „Die Alumni haben ein Tribunal einberufen."

„Was!?" Mos buschige Augenbrauen haben sich zusammengezogen. Bei ihm immer ein Zeichen von heraufziehendem Ärger. „Und das wollte Demetra uns wann genau sagen? Wenn sie Eleanor verurteilt haben?"

„Sorry, ich wusste doch nicht-"

„Komm!" Mo packt mich am Arm und zieht mich in Richtung Kolleg.

Im Haus empfängt uns gähnende Leere. Ungewöhnlich für diese Tageszeit, wo sich die Erwachsenen sonst zu Kaffee oder High tea im Refektorium versammeln und das Kuchenbuffet plündern.

„Es sind schon alle oben", flüstert mir Roxy zu, als hätte sie meine Gedanken erraten und keucht Mo hinterher.

Wie sich herausstellt ist mit oben der Kapitelsaal gemeint. Ich erkenne den Raum mit seinen Malereien und dunklen Holzvertäfelungen sofort wieder. Hier war ich das letzte Mal am Tag meiner Aufnahme in die Reihen der Wächter. Obwohl es kaum ein Vierteljahr her ist, kommt es mir schon wie eine Ewigkeit vor.

Anders als bei meiner Zeremonie ist diesmal die Hölle los. Auf den Bänken und Tischen drängen sich die Leute und vom Schachbrettboden ist im Gedränge kaum noch was zu sehen. Der Geräuschpegel erinnert an ein Sportevent. Alles, was in Fabelreich Rang und Namen hat, scheint da zu sein.

Mo drängelt sich schubsend und rempelnd durch die Menge. Vereinzelte erntet er empörte Blicke, aber die meisten machen ihm Platz. Ein paar Mädchen rutschen sogar zur Seite, damit wir uns mit Roxy auf die vorderste Bank quetschen können. Dabei verziehen sie die Gesichter wie auf einer Beerdigung. Wenn ich zufällig Blicke mit jemandem in der Menge kreuze, sehe ich vor allem drei Ausdrücke: Mitleid, Angst und - kann das wirklich sein? Vorfreude...?

Mos Augenbrauen haben sich mittlerweile so fest zusammengezogen, dass sie wie ein einziger Strich wirken. Ich wage nicht, ihn anzusprechen.

In diesem Moment wird eine Glocke geläutet. Nach und nach ebben die Gespräche ab, die Zuschauer nehmen ihre Plätze ein. Es ist so surreal. Wie im Theater, kurz bevor die Vorstellung beginnt. Nicht jeder findet einen Sitzplatz. Mehrere dutzend Wächter drängen sich entlang der Rückwand, hinter den Bänken und sogar draußen im Gang.

Die lauten Gespräche sind mittlerweile verstummt und einem verhaltenen Tuscheln gewichen. Oberflächlich scheint alles ruhig und gesittet, aber da ist dieser Grundpegel an fiebriger Nervosität, der meinen Nacken prickeln lässt. Nicht ängstlich, aber gespannt erwartungsvoll.

Gierig.

Diese Leute sind nicht für eine trockene Debatte zwischen Juristen gekommen, so viel wird mir jetzt klar. Sie erwarten ein Spektakel. Ein wohliges Schaudern, wie es nur Mord und Tod -aus sicherer Entfernung betrachtet - bieten können.

Gänsehaut kriecht über meine Unterarme. Genau so habe ich mir eine öffentliche Hinrichtung vorgestellt.

Ich lehne mich zu Roxy. „Gibt es in Fabelreich eigentlich die Todesstrafe?", flüstere ich, damit Mo nichts mitbekommt.

„Natürlich nicht! Glaubst du echt, wir sind so rückständig?"

Also, wenn ich ehrlich bin...

Das Klackern selbstbewusster Fußtritte reißt mich aus meinen Gedanken. Ich drehe mich um, gerade rechtzeitig, als die Alumni eintreten. Alle tragen ihre Umhänge. Die in Stein gemeißelte Ernsthaftigkeit im Gesicht, schreiten sie hinter den langen Tisch auf der Stirnseite, Demetra in ihrer Mitte.

„Beginnt." Die Stille trägt Demetras Stimme durch den ganzen Raum. Ich versuche eine Emotion herauszuhören, aber ihr Ton ist absolut neutral.

Ich sehe sie erst, als sich alle Köpfe umwenden.

Eleanor.

Flankiert von zwei Wachen wird sie durch den Mittelgang nach vorn geführt. Sie hat ihr Abendkleid abgelegt, aber anders als die übrigen Alumni erscheint sie ohne ihren Umhang. Stattdessen trägt sie schwarze Jeans, eine weiße Seidenbluse mit langen Ärmeln und einen grauen Pullunder. Sie hält die Hände hinter dem Rücken verschränkt und erst als sie an uns vorbeigeht erkenne ich, dass sie mit einem schwarzen Band gefesselt sind.

Mo zieht scharf die Luft ein.

Aus dem Augenwinkel bekomme ich mit, wie ein junger Mann auf der Bank gegenüber sein Bein ausstreckt, gerade, als Eleanor an ihm vorbeigeht. Für eine Warnung ist es zu spät. Sie stolpert, fällt auf die Knie. Weil ihre Hände am Rücken gefesselt sind, kann sie den Sturz nicht abfangen. Hilflos kippt sie vornüber und schlägt mit der Wange voran auf den Steinboden. Ein Schwall schwarzen Haars rauscht über den Schachbrettbogen und Eleanors Gesicht, dämpft ihren Schmerzenschrei.

Es wird still.

Und dann...

Gelächter.

Der Mann, der Eleanor das Bein gestellt hat, dreht sich feixend zu seinen Freunden um, die beide Daumen recken. Die anderen Wächter tragen ihre Schadenfreude nicht so offen zur Schau, aber ich sehe das kaum unterdrückte Grinsen, die höhnische Genugtuung in ihren Gesichtern.

Eines der Mädchen neben uns hat die Hand vor den Mund geschlagen: „Glaubst du, sie hat sich wehgetan?"

„Und wenn schon", sagt ihre Nachbarin verächtlich, „Geschieht der arroganten Schlampe recht."

Mein Mund klappt auf. Ich schaue zu den Alumni, warte, dass jemand entsetzt ist, wütend wird, irgendwas tut...

Wenigstens Demetra hat den Anstand, schockiert auszusehen.

Mo rennt los. Mit ein paar federnden Schritten kniet er über Eleanor und zieht sie hoch. „El?" Seine Stimme ist leise, nur die ersten Reihen können ihn verstehen. „Bist du verletzt?"

Eleanors Lippen sind fest aufeinander gepresst und haben jede Farbe verloren. Ich spüre, dass sie vor Schmerz die Zähne zusammenbeißt, ihre Augen werden von Sekunde zu Sekunde glasiger. Trotzdem schüttelt sie den Kopf.

Mo umfasst ihr Gesicht mit beiden Händen. Behutsam, als hielte er einen Vogel, der jeden Moment wegfliegen konnte. „Haben sie dir was getan?"

„Nichts, was sie sonst nicht auch tun." Ihre Stimme zittert. „Lina...?"

„...ist da. Wir sind alle beide hier." Seine Daumen fahren über ihre Wangen, wischen Staub und Tränen ab, bevor sie fallen können. „Es tut mir leid. Ich hätte dich nie-"

„Ich weiß. Geh jetzt." Sie schließt die Augen und schluckt. Als sie mir das Gesicht zuwendet sehe ich die tiefen Schatten unter ihren Augen. „Sonst wird es nur noch schwerer."

„Dann keine Tränen, okay?" Seine letzten Worte sind so leise, dass selbst ich sie kaum verstehe. „Zeig ihnen, mit wem sie sich angelegt haben. Rede sie an die Wand."

Ich senke den Blick. Meine Wangen brennen. Es ist die teuflischen Trias aus Scham, Schuld und Angst. Nur, dass ich diesmal nicht genau weiß, wer sich hier eigentlich schämen sollte. Ich? Oder der ganze Rest?

Die Frau vor mir hat nicht viel Ähnlichkeit mit der Eleanor, die ich kenne. Ihre kraftvolle Stimme ist schwach geworden und die feurigen Augen, die sonst vor Intelligenz und Witz sprühen, wirken stumpf, ihr Licht gebrochen.

Was haben sie mit ihr gemacht?

Nur langsam kommt Eleanor auf die Beine. Sie schüttelt Mo ab, der sich wieder neben mir auf die Kante der Bank sinken lässt. Alles an seinem Körper schreit Anspannung, von seinem Rücken, den er viel zu gerade durchdrückt, bis zu seinem ausgestreckten Bein, schon halb auf dem Sprung.

Hinter dem Tisch der Richter erhebt sich Demetra. Offenbar hat sie ihren Schock verwunden. Ihr Blick gleicht einem wütenden Feuer, aber zu meiner Überraschung ist er nicht auf Eleanor gerichtet. „Wie kannst du es wagen?", herrscht sie den jungen Mann gegenüber an, dem jetzt das Grinsen auf dem Gesicht gefriert. „Sie ist immer noch eine Alumna, falls es dir entfallen ist! Das wird Konsequenzen haben. Noch ein Hauch von respektlosem Fehlverhalten und diese Verhandlung findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Das gilt für euch alle!" Sie schaut in die Menge."Befriedigt eure Sensationslust woanders! Und nehmt ihr um Gottes Willen die Fesseln ab!"

Eleanors Wachen zucken beim Klang von Demetras Stimme zusammen, gehorchen aber.

„Danke", knurrt Eleanor und reibt sich die Handgelenke, an denen rote Striemen leuchten.

Über Demetras Stirn ziehen sich Sorgenfurchen, als sie Eleanors Gesicht mustert, den roten Abdruck auf ihrer Wange und das Blut an ihrer Lippe. „Du brauchst einen-"

„Ich brauche gar nichts!" Dummerweise wird die Glaubwürdigkeit vom Eleanors Worten ein wenig untergraben, als sie genau in diesem Moment einen Klumpen Blut auf den makellosen Steinboden spuckt.

Angeekeltes Raunen geht durch die Menge. Neben mir rümpft ein Mädchen die Nase.

Demetra starrt den Fleck auf dem weißen Marmor an, als sei er ein Alien, das gerade in ihrem Kolleg gelandet ist. „Du bist verletzt."

Eleanor fährt sich mit dem Handrücken über den Mund. Dabei schmiert sie einen langen Stiemen Blut von der Innenseite ihrer Lippe bis auf ihr Kinn. Der Anblick ihrer blutigen Hand scheint sie selbst zu überraschen. „Hab mir wohl zu lange auf die Zunge gebissen."

Vereinzeltes Lachen.

In mir keimt ein kleiner Funke Hoffnung. Die alte Eleanor ist also doch noch irgendwo da drinnen.

„Was ist?" Eleanor reckt das blutige Kinn. „Bringen wir diese Farce endlich hinter uns."

Demetra wirkt immer noch nicht überzeugt, aber sie nickt Eric zu, der aufsteht und ein Papier verliest: „Name der Angeklagten: Eleanor Murray-"

„-Eleanor Jeanne Murray."

„Von einem Zweitnamen steht hier nichts."

„Es ist mein Taufname. Ich habe ihn erst als Erwachsene angenommen."

Eric schaut über den Rand des Papiers. „Du hast dich taufen lassen?" Er legt die ganze Betonung auf das du, wie als würde sein Blick nicht schon genug Skepsis ausdrücken.

„Es gab mal eine Zeit, in der ich nicht über jeden meiner Schritte Rechenschaft ablegen musste."

„Also gut. Name der Angeklagten: Eleanor Jeanne Murray. Alumna des Kollegiums der Schatten. Wohnhaft, wenn nicht in Fabelreich: Magdalen College, Oxford. Familienstand: Ledig, keine Kinder. Ein Vater und Schwester, beide Wohnhaft in Edinburgh. Korrekt?"

„Inkorrekt. Mein Vater lebt seit einiger Zeit in London und meine Schwester...nun. Ihr wisst wohl besser als ich, wo sie gerade ist."

Demetra winkt ab. „Fahr fort, Eric."

„Eleanor Murray wird von den Alumni Fabelreichs des Mordes an Reigen, Botin und Leibwächterin unserer Priora Demetra angeklagt. Jeder Angriff auf ein Fabelblut ist ein Angriff auf die Gemeinschaft. Ein Angriff auf Reigen im Speziellen, ist ein Angriff auf die Priora und damit auf Fabelreich selbst. Dafür fordere ich die Höchststrafe."

„Und welche Beweise bringt ihr gegen Eleanor vor?", fragt Demetra.

Diesmal erhebt sich Constanze. „Wie unsere Untersuchungen zweifelsfrei ergeben haben, wurde Reigen durch einen gezielten Angriff mit Schatten vom Himmel geholt. Sie starb am daraus resultierenden Genickbruch. Einen Schatten dieser Stärke hätte nur eine in ganz Fabelreich erzeugen können."

Eleanor schnaubt. Als sie spricht, ist ihre Stimme gefährlich leise. „Wir wissen alle, dass es noch jemanden gibt, der dazu in der Lage wäre."

Demetra schüttelt den Kopf. „Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt-"

„Wann denn dann!? Wenn ihr mich verurteilt habt, für ein Verbrechen, das ich nicht begangen habe?"

„Dann warst du also die ganze Zeit auf dem Ball?" Demetra schließt seufzend die Augen, aber Constanze fährt einfach fort. „Du hast das Fest nicht verlassen, warst nie in der Nähe des Tatortes?"

„Nein."

„Lügnerin!"

Wieder geht ein Raunen durch die Menge. Ich traue meinen Augen kaum. Das Mädchen neben mir holt tatsächlich eine Tüte Popcorn raus.

Da ist mehr als nur Genugtuung in Constanzes Stimme. Blanker Triumph: „Du wurdest gesehen! Drei Mädchen meines Kollegiums haben dich vorgestern Nacht zur Tatzeit in der Nähe des Waldes beobachtet. Was hast du da draußen gesucht, allein, in der Dunkelheit?"

Eleanor öffnet den Mund, nur um ihn gleich darauf wieder zu schließen. Sie wirkt ehrlich sprachlos. „Ich..."

Mein Nacken beginnt zu prickeln, als die Erinnerung durch meinen Kopf hallt.

Ja, wirklich. Was hat sie dort gemacht?

„Du...?" Constanze hebt eine Braue. „Wir warten."

„Was geht es euch an, wo ich hingehe?", faucht Eleanor, „Ich bin nicht euer Sklave!"

„Du bist die Hauptangeklagte in einem Mordprozess!" Constanzes Stimme überschlägt sich fast. Sie hat offenbar nicht Eleanors Talent, auch schreiend die Tonlage zu halten. „Eine Angeklagte, die sich weigert anzugeben, was sie zur Tatzeit in der Nähe des Tatorts gemacht hat!"

„Genug!" Demetra seufzt erneut und fährt sich über die Stirn. „Bitte, Eleanor. Antworte einfach."

Eleanor beißt sich auf die Lippe. „Das kann ich nicht."

Langsam lässt Demetra die Hände sinken. „Was?"

„Ich kann euch nicht sagen, warum ich im Wald war."

Constanze und Eric werfen sich Blicke zu. Lauernde Blicke. Sie sind wie wilde Tiere, die Beute im Auge, kurz vor dem Todesstoß.

„Ist das ein Schuldeingeständnis?", fragt Eric. „Willst du-"

„Ich habe Reigen nicht umgebracht!", ruft Eleanor. „Macht die Augen auf! Seht ihr nicht, was hier gespielt wird?" Sie schaut von einem zum anderen und als keiner der Alumni reagiert, schüttelt sie den Kopf. „Muss ich es erst aussprechen? Damian-"

„Damian Blackwell wurde unschädlich gemacht!" Constanzes Antwort kommt ein wenig zu hastig. Leises Zittern liegt unter ihren Worten. „Wir stellen regelmäßig sicher, dass er gut bewacht ist und friedlich seine Strafe absitz-"

„Wie kannst du es überhaupt wagen, diesen Namen zu erwähnen?", schaltet sich Eric ein. „Hier, inmitten des Kollegs! Willst du uns drohen? Uns Angst, machen, so wie damals? Tja, tut mir leid, Eleanor. Ich war da. Ich habe ihn gesehen. Damian ist nicht mehr die Lichtgestalt deiner Jugend. Alles, was er jetzt noch ist und je wieder sein wird, ist ein gewöhnlicher Mann. Du kannst dich nicht noch einmal hinter ihm verstecken. Diesmal nicht."

Eleanor kneift die Augen zusammen. „Was soll das heißen noch einmal hinter ihm verstecken?"

„Ich hab dir diese Story von der Irregeleiteten Unschuld schon damals nicht abgekauft. Du warst seine Kreatur." Um Erics Mundwinkel zuckt ein Lächeln. „Der Apfel fällt bekanntlich nicht weit vom Stamm."

„Das genügt, Eric!", sagt Demetra scharf.

„Nein!" Er dreht sich zu ihr um. „Es ist doch wahr! Ihr denkt es alle, gebt es zu! Schon damals haben es die Richter prophezeit: Er hat in ihr die Saat zum Bösen gelegt, eines Tages werden wir die Früchte ernten! Heute ist dieser Tag! Fabelblut wurde vergossen, zum ersten Mal seit sechzehn Jahren. Und wieder ist es Eleanor Murray, die hier vor uns steht. Priora! Wir schätzen dein weiches Herz, aber du warst zu lange zu nachgiebig mit dem Kollegium der Schatten. Einmal haben sie eine zweite Chance bekommen. Diesmal kann es keine Gnade geben. Lass nicht zu, dass sich die Geschichte wiederholt! Wir wollen nicht ewig in Angst leben!"

In der Menge erhebt sich zustimmendes Murmeln, einige nicken in Demetras Richtung.

Ich sehe wie Eleanors Blick durch den Raum wandert, über die Bänke der Wächter, sehe wie sie den Kopf schüttelt. „Wirklich, Eric?", fragt sie leise. „Wie lange ist es her?"

„Nicht lang genug, um zu vergessen."

„Sechzehn Jahre!" Eleanors Worte klingen gepresst und als sie weiterspricht, sehe ich Tränen in ihren Augen. „Sechzehn Jahre der Demütigung, der Unterwerfung...und das nennst du immer noch nicht genug?"

„Eleanor! Eric!", mahnt Demetra, „Es reicht jetzt wirklich. Wenn ihr nicht beim Thema bleibt, werden wir den Prozess nie beenden."

Eleanors Kopf schnellt herum. Auf ihren Lippen liegt jetzt ein grausames Lächeln und zusammen mit den Tränen in ihren Augen wirkt es unheimlich. „Den Prozess beenden? Willst du das denn, Demetra? Vor sechzehn Jahren stand ich schon mal hier. Erinnerst du dich?" Sie stampft mit dem Fuß auf die Schachbrettfließe unter ihr. „Ich stand hier, genau hier, auf diesem Boden, als ich dir meine Treue schwor. Du hast mir eine zweite Chance versprochen."

„Die du auch bekommen hast..."

„Hass und Feindschaft, das habe ich bekommen! Misstrauen und ständige Überwachung. Weißt du eigentlich, wie sehr ich es leid bin? Die vorgehaltenen Hände. Das ständige Tuscheln. Die gezischten Beleidigungen." Sie sieht Demetra fest in die Augen. „Du willst meinen Prozess beenden? Dann mach die Augen auf! Ich habe diesen Gerichtssaal nie verlassen. Mein Prozess läuft seit sechzehn Jahren, wahrscheinlich sogar schon viel länger. Seit meiner Fabelnacht, seit klar wurde, dass mir die Schatten gehorchen. Hört auf nach Beweisen zu suchen, die es nicht gibt. Ich habe Reigen nicht umgebracht. Aber das spielt auch keine Rolle, stimmt's? Mein Talent macht mich gefährlich und wer gefährlich ist, muss ein Monster sein." Eleanor wendet sich an die Alumni. „Schau hin! Das Urteil deiner Kollegen ist längst gefällt. Sie warten nur noch auf dich. Entscheide dich, Demetra: Sprich mich schuldig, wenn du davon überzeugt bist. Ich werde dir gehorchen, wie ich dir all die Jahre gehorcht habe. Aber wenn du auch nur den leisesten Zweifel hast, dann steh zu mir! Steh einmal zu mir, ein einziges Mal!" Ihre letzten Worte klingen kraftlos, fast wie ein Flehen.

Demetra starrt sie an. Dann senkt sie den Blick. „Das ist nicht so leicht", murmelt sie zu niemand bestimmten, „wir müssen die Beweise..."

„Glaubst du mir?"

„Wir..."

„Glaubst du mir?!" Eleanors Hals ist so angespannt, dass die Sehnen hervortreten. „Ja oder nein?"

„Es geht hier nicht nur darum, was ich glaube", sagt Demetra ausweichend. Ihre Augen huschen durch den Raum. „Wenn die Alumni solche Beweise vorbringen...wenn das Kolleg derart nachdrücklich Bedenken äußert..."

„...dann opfert man schon mal einen Unschuldigen um des Friedens willen." Ein bitteres Lächeln zuckt über Eleanors Mundwinkel. „Was für eine große Anführerin, die der Mehrheitsmeinung selbst die Wahrheit unterordnet."

Demetra sieht aus, als hätte Eleanor sie geschlagen. "El-"

„Wir sind hier fertig, Priora." Eleanor reckt ihr blutiges Kinn noch ein Stück höher. „Ich verstehe, dass ich vor diesem Gericht keine Gerechtigkeit erwarten kann. Wir haben uns nichts mehr zu sagen." Irgendwas gibt mir das Gefühl, dass Eleanors letzte Worte nicht nur auf den Prozess bezogen waren.

Auch Demetra scheint es bemerkt zu haben, ihr verletzter Gesichtsausdruck spricht Bände.

„Darf ich jetzt um mein Urteil bitten?"

„Wie du willst", fällt ihr Eric ins Wort, bevor Demetra den Mund aufmachen kann. „Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück."

Die Alumni erheben sich unter Stühle rücken und verschwinden in eine Nebenkammer. Sofort fängt das Gemurmel im Raum wieder an. Ich will einen Blick mit Eleanor wechseln, aber ihr Gesicht bleibt starr nach vorn gerichtet, während ihre Bewacher sie zu einer Bank an der Seite führen. Neben mir mampft das Mädchen in aller Seelenruhe sein Popcorn weiter.

„Warum brauchen die so lange da drinnen?", frage ich Roxy nach einer geschlagenen Viertelstunde, in der keiner von uns ein Wort gesagt hat, „Fällen sie jetzt schon das Urteil?"

Roxy nickt. „Eigentlich macht das Demetra allein. Die Alumi beraten nur."

„Wie dumm ist das denn? Ich meine: hallo? Willkür? Eleanor hatte ja nicht mal einen Anwalt. Was ist mit Zeugen, die für sie aussagen? Kreuzverhör?"

„Wir sind hier nicht in Deutschland. Und auch nicht in Amerika. Das hier ist Fabelreich. Bei uns gelten andere Gesetze."

Gesetze. Allein das Wort ist lächerlich. Gegen euch wirkt ja sogar das Mittelalter fortschrittlich."

„Still jetzt!" Mos Augen sind angestrengt zusammengekniffen. „Sie kommen."

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