Ich habe Eleanor erst einmal ihre volle Macht einsetzen sehen, hat Demetra mir vor ein paar Wochen gesagt, und glaube mir...das willst du kein zweites Mal erleben.
Nun begreife ich, was sie gemeint hat.
Wenn ich die Schatten rufe, dann kommen sie allein. Einer, vielleicht zwei. Ich kann mit ihnen einen Holzscheit spalten, könnte verletzten, wahrscheinlich sogar töten. Aber das, was Eleanor da tut, ist auf einem ganz anderen Level. Die Schatten fließen nur so aus ihren Händen, schlängeln sich als schwarze Bänder um ihre Arme, schneller und schneller. Sie gehorchen ihr, tanzen für sie, als seien sie lebendige Wesen. Zuerst wirkt es chaotisch, aber dann stimmen sie sich allmählich aufeinander ab. Von Eleanor dirigiert beginnen sie einen Strudel zu formen, der rasch an Geschwindigkeit gewinnt.
Selbst in der Eingangshalle spüren wir die Ausläufer der freigesetzten Energie. Lauwarmer Wind bläst uns entgegen, fegt Vasen von den Tischen und rüttelt an den Vorhängen. Die Schatten drehen sich immer schneller, werden dichter. Ein schwarzer Tornado, mit Eleanor in seinem Zentrum. Mittlerweile ist der Strudel so dicht, dass ich Eleanor nicht mehr sehen kann, aber ich weiß, sie ist da. Ihre Gegenwart ist wie einen zweiten Herzschlag in der Luft.
Auch Mo muss es spüren. Er wird unruhig, die Anspannung in seinem Gesicht ist jetzt deutlicher Panik gewichen. „Das ist nicht gut", flüstert er. „Sie verliert die Kontrolle."
Ich bin noch am Überlegen, was das bedeuten soll, als aus dem Strudel eine Stimme ertönt, zu verzerrt, um wirklich menschlich zu sein. Das Tosen des Sturms ist laut, ich kann die Worte nicht verstehen, aber der Ton nimmt die Bedeutung vorweg.
Angriff.
In der Schule haben wir mal eine Doku über die Zerstörung Pompeis gesehen. Ein Vulkanausbruch hat die antike Stadt binnen Stunden unter Asche begraben. Ich habe die Bilder noch deutlich vor Augen: riesige schwarze Wolken, die in atemberaubender Geschwindigkeit den Berghang runterwalzen und alles verschlingen, was ihnen im Weg ist. Nun. Unsere Naturgewalt ist zwar ein Mensch und kein Vulkan, aber die Auswirkungen sind ähnlich.
Mit einem Mal kollabiert der Sturm aus Schatten. Meine Haare knistern und ich spüre Gänsehaut auf den Unterarmen, als sich die Luft um uns herum elektrisch aufläd. Durch die freie Energie werden die Schatten zur Seite gesprengt, rauschen als riesige schwarze Flutwelle in Richtung Wald. Die Bäume schwanken und biegen sich. Es knackt, als würden Äste brechen, aber die Stämme halten Stand. Die Schatten springen davon wie freigelassene, wilde Tiere. Bereit zu jagen und-eine Gänsehaut jagt meinen Rücken entlang- zu töten?
Nicht lange und ich höre die ersten Schreie aus dem Wald. Ohne den Sturm ist es um uns herum wieder ruhig geworden und so bekomme ich umso deutlicher mit, was in der Ferne passiert. Da drin müssen dutzende, vielleicht hunderte Leute sein. Der gesamte Wald ist von Wimmern und Weinen erfüllt. Es klingt so schrecklich, dass mir jetzt auch ohne Strom wieder eine Gänsehaut über den Rücken zieht. Offenbar haben Eleanors Schatten die Rebellen nicht umgebracht. Aber was sie stattdessen gerade mit ihnen anstellen, möchte ich lieber gar nicht wissen.
Mo zieht an meinem Ärmel. „Komm!"
Ich folge ihm an den erstarrten Alumni vorbei in den Hof. Eleanor kauert allein auf dem Pflaster. Sie ist auf die Knie gesunken und ihre Hände, mit denen sie sich aufrecht hält, zittern. „El..." Mo fasst sie an der Schulter.
Sie schreckt auf. Ihre Augenlieder flattern, ich bin mir nicht sicher, ob sie uns überhaupt erkennt. Dann klärt sich ihr Blick. „Bring mich weg." Ihre Stimme ist fest, aber leiser als sonst und sie hat einen flehentlichen Unterton. „Schnell."
Mo greift ihr unter die Arme und zusammen ziehen wir Eleanor hoch. Sie lehnt schwer auf mir, ihre Beine scheinen sie nicht mehr zu tragen. Erst als wir auf die Eingangstüre zugehen und sie die anderen Alumni im Türrahmen stehen sieht, richtet sich Eleanor von selbst wieder auf.
„Was hast du mit ihnen gemacht?" Ich kann die Angst in Constanzes Stimme hören. Die Alumni machen keine Anstalten, uns mit Eleanor zu helfen. Im Gegenteil. Als Mo einen Schritt auf die Tür zu macht, weichen sie zurück. Eric hat es dabei so eilig, dass er über den Saum seines Umhangs stolpert.
Eleanor holt tief Luft, wie ich es tue, wenn ich gezwungen bin, Fassung zu bewahren, obwohl ich am liebsten losheulen würde. „Ich habe uns Zeit verschafft. Die Rebellen tappen im Dunklen. Wortwörtlich. Wir müssen-" Ihre Stimme bricht. Ich verstärke den Griff um ihren Arm, zum Zeichen, dass ich da bin und sie beißt wie zur Antwort die Zähne zusammen. „Repariert die Schilde, bis Demetra da ist", sagt sie noch, bevor sie sich von Mo und mir in Haus führen lässt.
„Wo willst du hin?", ruft Eric uns hinterher. Ich finde das einfach nur unverschämt - sieht er denn nicht wie es ihr geht?- aber Eleanor reagiert gar nicht. Erst als wir außer Sichtweite der anderen Alumni sind, sinkt sie endgültig in sich zusammen. Mo und ich tragen sie mehr die Treppe hinauf, als dass sie selbst geht. Ihre Lippen sind mittlerweile fast so bleich wie ihr Gesicht und sie zittert am ganzen Körper.
„Eleanor" Ich habe Mo noch nie so besorgt erlebt. „Du brauchst Hilfe. Ich hole einen Heiler vom grünen Kollegium."
„Ich muss mich hinlegen." Dass ihre Worte immer wieder von Zähneklappern unterbrochen werden, macht sie nicht gerade glaubhafter. „Einfach nur hinlegen. Bitte."
Nie hätte ich gedacht, dass mich Eleanor jemals um irgendetwas bitten, geschweige denn anflehen würde. Vor ein paar Tagen hätte ich einiges dafür gegeben, sie einmal so zu sehen wie jetzt: Entblößt, verwundbar, ohne die übliche Maske aus Arroganz uns Sarkasmus, hinter der sie sich verstecken kann. Jetzt macht es mir einfach nur Angst.
Als wir im Kollegium ankommen, ist meine Schulter taub. Ich bin es nicht gewohnt, halb bewusstlose Menschen mit mir rumzuschleppen, aber wenigstens weiß Mo, was er tut. Er führt mich durch eine Tür, die mir nie zuvor aufgefallen ist, in Eleanors Schlafzimmer. Auf der Schwelle halte ich kurz inne. Es kommt mir falsch vor, einfach so in fremden Schlafzimmern zu schnüffeln, aber als Mo mir einen fragenden Blick zuwirft, gebe ich mir einen Ruck.
Mit vereinten Kräften hieven wir Eleanor auf ihr Bett. Sofort fällt ihr Kopf nach hinten auf das Kissen, aber statt sich zu entspannen, verkrampft sie sich noch stärker. Ihr Rücken biegt sich durch, wie in diesen Horrorfilmen, wenn jemand von einem Dämon besessen ist.
Ein eiskalter Schauer läuft meinen Rücken hinunter. „Was ist mir ihr?" Ich kann die Augen nicht von Eleanor abwenden. Es ist wie bei einem Unfall. Mein Verstand sagt mir, ich soll wegsehen, aber ein anderer, älterer Teil von mir, gespeist aus Millionen Jahren evolutionärer Erfahrung, muss unbedingt wissen, was los ist. „Mo!" Meine Stimme wird panisch. „Was ist mit ihr?"
Eleanor hat die Augen geschlossen. Sie scheint zu halluzinieren, zwischen dem Zähneklappern höre ich immer wieder unverständliche Wortfetzen. „Maggie, nein!" Sie schluchzt, wirft den Kopf hin und her.
„Mach die Schublade auf!" Mos Stimme ist ein ruhiger, kalter Befehlston, wie ein Arzt im OP. Ohne mich anzusehen, deutet er auf den Nachttisch neben mir. Er packt Eleanor an den Armen und drückt sie zurück in die Kissen, bevor sie um sich schlagen kann. „Lina, was siehst du?"
„Äh." Ich hebe meine Hände -erst jetzt merke ich, dass sie zittern-und wühle durch den Schubladeninhalt. „Zerknittertes Papier, Bücher, Handcreme, einen Rosenkranz-"
„Wirf ihn rüber!"
Ich fische die Gebetskette mit dunkelgrünen Steinperlen heraus und Mo fängt sie mit einer Hand. Dann gibt er Eleanor eine Ohrfeige, dass ich zusammenzucke.
„Spinnst du?!"
Er ignoriert mich.
Die Ohrfeige verfehlt ihre Wirkung nicht. Eleanor öffnet die Augen. Für einen Moment ist ihr Blick unscharf, wandert ziellos durch den Raum, bis er sich schließlich auf uns fokussiert. „Mo?"
Eleanors Augenlieder flattern, als wolle sie bewusstlos werden, aber Mo rüttelt sie an den Schultern. „Du musst bei uns bleiben, ok? Weißt du noch, warum du den hast?" Die baumelnde dunkelgrüne Perlenkette wirft Schatten vor Eleanors bleiches Gesicht.
„Zum dran festhalten", flüstert sie. Es ist fast keine Stimme mehr hinter den Worten.
„Ganz genau." Mo drückt ihr die Kette in die Hand. „Zähle. Und egal, was passiert, hör nicht damit auf."
Eleanor nickt, folgsam und ohne Widerspruch, wie ein Kind. Eine nach der anderen rutschen die Perlen durch ihre zitternden Finger.
Mo dreht mir den Kopf zu: „Sorg dafür, dass sie konzentriert bleibt. Ich muss das Gift suchen."
„Was wird das hier?", frage ich mit einer Mischung aus Ironie und Hysterie. „Exorzismus für Arme?"
Mo öffnet die Schubladen der Kommode und wirft achtlos Gegenstände auf den Boden, dann Bücher aus dem Regal. „unsere Magie ernährt sich von Gefühlen", sagt er, als sei ich auf einmal das Kind, das belehrt werden muss. „wenn wir überreagieren, tut es unsere Magie auch. Eleanor hat sich von Emotionen leiten lassen. Unkontrollierten Emotionen. So einen starken Trigger sind ihre Schatten nicht gewöhnt. Sie drehen durch. Eine Art allergischer Schock, nur mit Magie. Wir müssen ihr magisches System runterfahren und dafür sorgen, dass sie die Kontrolle über ihre Gefühle zurückbekommt. Das geht am besten mit einer Meditation, Fokus auf ein Mantra oder- Ah! Wusste ich's doch." Mo zieht seinen Arm aus der Schublade, eine Phiole in der Hand. Kristalline Flüssigkeit schimmerte im Tageslicht.
Rasch entkorkt er das Fläschchen und drückt es Eleanor an die Lippen. „Runter damit!"
Es dauerte ein paar Minuten, dann entspannten sich Eleanors Gesichtszüge allmählich. Als sie in ihre Kissen sinkt, ihre Stirn ist schweißnass. „Einunddreißig", flüstert sie mit brüchiger Stimme ohne dabei die Augen zu öffnen, „zweiunddreißig, dreiunddreißig..." Sie wird leiser, während sie in den Schlaf gleitet. Nur langsam lösen sich ihre Finger von den Perlen in ihrer Hand. Sie hat sie umklammert, wie ein Ertrinkender das Rettungsseil.
„Das war knapp." Mo sinkt in Eleanors Lesesessel neben dem Bett, die leere Phiole noch immer in der geschlossenen Faust. „Ich dachte kurz-"
„Alles in Ordnung? Du zitterst."
„Ach, wirklich?" Mo gluckst, als würde es ihm gerade erst selbst auffallen. „Ich weiß echt nicht, warum." Dann wird er plötzlich ernst. „Danke, Lina. Keine Ahnung, ob ich es ohne dich gepackt hätte."
„Viel hab ich ja nicht gemacht."
„Du bist da geblieben." Ein Lächeln huscht über seine Mundwinkel. „Das ist mehr als die meisten schaffen." Beim Blick auf Eleanor verschwindet sein Lächeln sofort wieder.
„Was hast du ihr gegeben?", frage ich mit einem Nicken in Richtung seiner Faust.
Mo dreht die leere Phiole zwischen den Fingern, sodass ich die Aufschrift erkennen kann. Milkweed.
„Für Menschen vollkommen harmlos, aber auf Magier wirkt es wie eine Droge. Es lähmt unsere Magie. Früher haben manche Fabelwesen damit Magier im Kampf geschwächt. Zählt deswegen zu den verbotenen Giften. Nur die Alumni dürfen es legal besitzen."
„Du hast es benutzt, um Eleanors Magie auszuschalten. Als Anti-Allergikum."
Mo nickt. „Eleanor nimmt es ab und zu. Aber nur in Notfällen. Normalerweise findet sie immer einen Weg mit ihren Gefühlen fertig zu werden, bevor sie Probleme machen." Ich sehe, wie Mos Blick durch das Zimmer wandert und an der Whiskeyflasche auf dem Nachttisch hängen bleibt. Plötzlich verhärtet sich der Ausdruck um seine Mundwinkel. „Wir sollten sie heute Nacht nicht alleine lassen. Kannst du kurz übernehmen? Ich muss schauen, ob Demetra wieder da ist. Vielleicht brauchen wir mehr Milkweed."
„Kein Problem, hau schon ab."
„Danke. Ich bin gleich wieder da, versprochen."