Twos - Ein Märchen von Sommer...

By MaraPaulie

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Als die Herrscher Twos verliessen, kein Ende nahm das Blutvergiessen. Wohin kein Blick der Spinne fällt, ihr... More

Prolog
Kapitel 2 - Von Wahnsinn...
Kapitel 3 - ... und Zorn
Kapitel 4 - Buntes Blut
Kapitel 5 - Die Herrscher der Hamronie
Kapitel 6 - Schicksalsfäden
Kapitel 7 - Der Sommermacher
Kapitel 8 - Die Hochburg der Rebellen
Kapitel 9 - Das Attentat von LaRuh
Kapitel 10 - Hüter und Homunculus
Kapitel 11 - Die Last des Schicksals
Kapitel 12 - Tanz der Vampire
Kapitel 13 - Die Verlorenen
Kapitel 14 - Klyuss' Kind
Kapitel 15 - Wunschhandel
Kapitel 16 - Kaitous Winde
Kapitel 17 - Die Schlacht um Aramesia
Kapitel 18 - Lupus memoria
Kapitel 19 - Dom Askur
Kapitel 20 - Das verkaufte Schicksal
Charakterverzeichnis
Götterverzeichnis
Die Prophezeiung von Sommer und Winter

Kapitel 1 - Es war einmal...

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By MaraPaulie

Beherrscht die Macht der Herrscher Kinder. Wachsen wird sie drum nicht minder.
Die Gedanken unverdorben, mit den Trickstern keine Sorgen.
Zieht sie auf, in Unwissenheit. Erwartet wird Gehorsamkeit.
Nur wenn man auf das Schicksal schwört, die Spinne die Gebete hört.

~Mile~
29. Juni 2019 - Berlin, Deutschland, Modo

Es war ein heisser Sommertag, die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel und auf dem Zaun vor dem Pastorenhaus sass eine kleine, braune Eule. Weder die Hitze noch das grelle Licht schienen den nachtaktiven Vogel zu stören. Regungslos kauerte er da und beobachtete das Gebäude. Erst als das Knipsen einer Handykamera ertönte, drehte er den Kopf und flatterte eilig davon.

Mile Beltran, sein Board unterm Arm, eine Sonnenbrille auf der sommersprossigen Nase, das flammende Haar in alle Himmelsrichtungen abstehend, eine grosse Schramme am rechten Knie, liess das Smartphone zurück in seine Hosentasche gleiten. Er war eigentlich keiner dieser Jugendlichen, die jeden umgefallenen Reisssack fotografieren mussten, um jeweilige Social Media-Plattformen damit zu bepflastern, aber es gab da jemanden, der sich über diese Fotos freuen könnte.

Er stiess das Zauntor auf, schlenderte den Weg zum Pastorenhaus entlang, sprang die Treppe hoch und klingelte. Pastor Fraser, Pflegevater der Geschwister Beltran sowie dreier weiterer Waisen, öffnete und bevor er Mile einen seiner berühmten tadelnden Blicke zuwerfen konnte, schob sich dieser eilig an ihm vorbei. »Sorry Alec, Schlüssel vergessen!«

Der Pastor, der zu seinem Widerwillen von all seinen Schützlingen nur bei seinem Vornamen genannt wurde, grunzte etwas Unverständliches und schloss hinter ihm die Tür. Auch wenn er Pflegevater von fünf Kindern war, hatte er kaum ein Händchen für Menschen. Mile hatte trotzdem nichts gegen ihn, er war ihm dankbar. Seit bald acht Jahren kümmerte er sich so gut er konnte um ihn und seiner Schwester. Das reichte allemal für einen Sympathiebonus.

»Da sass grad eine Eule auf dem Zaun«, erzählte Mile, während er sich die Chucks abstreifte und in Richtung Schuhablage warf. »Hab ein Foto gemacht. Willst du es sehen?«

»Ich glaube viel eher, der Vogel hockt in deinem Kopf«, machte der Pastor sich über ihn lustig, während er stirnrunzelnd sein aufgeschlagenes Knie musterte. »Hast du deine Schoner vergessen?«

Mile zog die Sonnenbrille ab, um dem Pastor sein Augenrollen zeigen zu können, da entglitten seinem Pflegevater die Züge. »Herrgott, hast du ein Veilchen?«

Mile bliess die Wangen auf. ›Scheisse, da war ja was ...‹ Seufzend erklärte er: »Nein, das ist kein Veilchen, es ist eine Schramme.«

»Hast du dich wieder geprügelt?« Der Pastor warf die Hände in die Luft und kam näher, um sich den blauen Fleck genauer anzusehen. »Jetzt sag bloss, du hast deine Medikamente wieder nicht genommen?«

Mile seufzte. »Also erstens hab ich mich nicht geprügelt, ich bin hingefallen. Und zweitens, ja, ich hab sie genommen.« Beides gelogen. Er biss sich auf die Lippe. »Guckst du dir jetzt mein Eulenfoto an? Das ist so lustig!«

»Keine Zeit für diesen Unsinn«, schnaubte Alec und wedelte aufgeregt mit den Händen. »Hast du schon alles gepackt? Auch genug Medis?«

»Ja klar«, antwortete er und biss sich wieder auf die Unterlippe, während er die Treppe zu den Schlafzimmern hochschlurfte.

»Und Sabrina?«

~Sabrina~

Ich schreibe dieses Buch aus einem ganz bestimmten Grund. Ich war früher schizophren. Das hört sich ebenso unmöglich an wie »frühere AIDS-Patientin« oder »ehemalige Diabetikerin«. Ein ehemaliger Schizophrener ist etwas, das es so nicht gibt. Eine Rolle, die man niemals angeboten bekommt. Hingegen gibt es die Rolle des irrtümlich als schizophren diagnostizierten Pa-‹ Sie hatte den Satz noch nicht einmal zu Ende gelesen, da flog das Taschenbuch auch schon im hohen Bogen durch das Zimmer. Um ein Haar traf es Mile, der ausgerechnet jetzt in das Zimmer trat und es gerade noch schaffte, dem Geschoss auszuweichen.

»Hey!«, rief der Rotschopf. »Töte nicht den Boten!« Er stellte das Tablett, das er in das Zimmer mitgebracht hatte, auf den Schreibtisch, öffnete die Vorhänge und kippte das Fenster. »An so einem schönen Tag machst du die Schotten dicht?«

Vom grässlich hellen Sonnenlicht geblendet, schirmte sie die Augen ab. »Mensch, Mile. Lass das doch«, grummelte sie matt.

Er grinste nur und ging aus dem Zimmer, um mit dem Wurfgeschoss zurückzukommen, das ihn eben noch verfehlt hatte. »›Morgen bin ich ein Löwe - Wie ich die Schizophrenie besiegte‹ von ›Arnhild Lauveng‹.« Er schob die Unterlippe vor. »Was hat das Buch dir getan?«

»Es war frustrierend«, schnaubte sie anklagend und zog sich die Bettdecke bis über die Nase, sodass nur noch die hellen, blauen Augen und ihre ungekämmte, blonde Mähne zu sehen waren. Sie starrte an die Decke. »Ich dachte, es geht darum, wie man die scheiss Schizophrenie loswird, aber schon nach ein paar Sätzen fängt die Olle von Fehldiagnosen zu schreiben an.«

Mile zuckte mit den Schultern. »Und?«

»Na, wenn das der Trick an dem Ganzen ist, muss ich das blöde Buch nicht lesen.«

Stirnrunzelnd blätterte Mile zu den Seiten der Einleitung und überflog diese. »›Oder des symptomfreien Schizophrenen, der die Krankheit mit Medikamenten in Schach hält, und nicht zuletzt...‹ Blablabla ... Hier! ›Keine dieser Alternativen ist irgendwie schlecht, aber sie treffen auf mich nicht zu. Ich war schizophren.‹« Er klappte das Buch zu. »Wer lesen kann, ist klar im Vorteil.« Er warf ihr den Wälzer vor die Füsse aufs federnde Bett und ging zurück zum Schreibtisch. »Kuchen! Hab ich aus der Küche geklaut, bevor uns Boris zuvorkommt.« Er hob zwei Teller vom Tablett, stellte ihr einen auf den Bauch und setzte sich neben sie. Während er sich eine volle Gabel in den Mund stopfte, schmatzte er: »Ich foll fich frafen, ob fu feine Mefis fon gefackt hafft.«

Missmutig stocherte sie in ihrem Teller herum. »Die Medis eingepackt? Ja, natürlich!« Vor dem Gedanken, wie es ohne ihre Antipsychotika war, graute ihr. Tausende Stimmen in ihrem Kopf, die alle auf einmal durcheinanderquasselten. Als würde sie in einer Halle mit tausenden Radios sitzen, alle bis zum Anschlag aufgedreht und jedes auf einen anderen Sender eingestellt. Das war ihr das letzte Mal vor einem halben Jahr passiert, als sie auf Klassenfahrt gewesen waren und das KZ Sachsenhausen besichtigt hatten. Sie hatte vergessen, ihre Medikamente einzupacken. Der Schub war schlimm gewesen. Sie war zuvor schon als Sonderling abgestempelt worden, aber dieser Vorfall hatte ihren Ruf besiegelt.

Aber das war ihr eigentlich ohnehin egal. Mile war der einzige Mensch, bei dem sie sich irgendwie wohl und verstanden fühlte. Nicht einmal zu den anderen Pflegekindern hatte sie einen Draht.

»Sag mal, hast du ein Veilchen?«, fragte Sabrina, als ihr die Verletzung im Gesicht ihres eineinhalb Jahre älteren Bruders musterte.

»Scheisse, sieht man das echt so gut? Dachte, es würde als Schramme durchgehen«, entgegnete Mile, während er seinen Kuchenteller ableckte.

Sabrina gluckste und winkte ihn heran, um sein Gesicht mit dem Handy zu fotografieren. Das Foto zeigte einen klaren blauen Ring um das leicht zugeschwollenes Auge. Mile bliess nur die Wangen auf und zuckte mit den Schultern, als er sein Veilchen betrachtete.

»Was ist passiert?«

Der Rotschopf winkte ab. »Dieser Typ vom Skatepark wollte wieder Stress.«

Sabrina nickte. Wie das halt so war mit Mile. Eigentlich war er der freundlichste Kerl auf Erden, nur hatte er ein latentes Aggressionsproblem, aus dem er einfach nicht hinauswachsen konnte. Es hatte zwar seit Jahren keinen schlimmen Vorfall mehr gegeben. Hier und da kleine Prügeleien. Dennoch genug, um ihm regelmässig gehörig Ärger von der Schule und dem Pastor einzubringen. Immerhin hatte man ihn noch nicht von der Schule geschmissen, das Jugendamt musste wohl ein gutes Wort für ihn eingelegt haben. Seiner Schwester gab er diese aggressive Seite von sich jedoch nie zu spüren.

»Jetzt mach nicht so ein Gesicht«, versuchte Mile sie aufzuheitern. »Solltest mal den anderen sehen!«

Sabrina seufzte. »Beruhigt mich jetzt wenig.«

Mile stellte seinen leeren Teller auf den Boden und leckte sich die Schokolade aus den Mundwinkeln. »Hast du gesehen, was ich dir geschickt hab?«, fragte er, wohl nicht bereit, aufzugeben. Schon tippte er auf seinem Smartphone rum.

»Nö. Heute noch nicht aufs Handy geguckt.«

»Schau mal!« Er stiess sie an und hielt ihr seinen Bildschirm unter die Nase. »Als ich vom Mellowpark zurückgekommen bin, sass da eine Eule auf unserem Zaun. Mitten am Tag!«

Sie betrachtete das Foto: Im Vordergrund Mile, eine dumme Grimasse ziehend. Hinter ihm der Vogel auf dem Zaun. Den Kopf nach hinten Richtung Kamera gedreht, die schwarzen Augen weit aufgerissen, wirkte der Vogel ziemlich überrascht. »Das ist doch keine Eule. Das ist ein Waldkauz oder so«, vermutete sie, zuckte mit den Schultern und mühte sich ein Lächeln ab. »Lustiges Bild.«

Mile schickte oder zeigte ihr oft Videos und Bilder. Er dachte wohl, dass sie das aufmuntern würde und das tat es auch ein bisschen, denn seine Mühe rührte sie. Nun begann sie doch von dem Kuchen zu essen, ein bisschen Hunger hatte sie tatsächlich.

»Ist doch auch 'ne Art Eule! Sein Gesicht ist so witzig. Hab ihn voll erschreckt«, grinste Mile. »Was macht so ein Vieh mitten in der Stadt? Ist ja kein... Stadtkauz!« Er lachte über seinen eigenen Witz und knuffte sie. »Jetzt zieh dir mal den Stock aus dem Arsch und lach wenigstens ein bisschen. Bist ja schon genauso steif wie Alec«, neckte er sie, als sie es versäumte, ihm ein Zeichen von Belustigung zu schenken. »Ist dir auch aufgefallen, dass er in den letzten Wochen noch mehr zur Glucke geworden ist? Dass er mich mit meinen Tabletten so stresst - okay. Aber jetzt fängt er bei dir auch schon an«, plapperte ihr Bruder weiter.

Erneut zuckte sie mit den Schultern. »Kann schon sein.« Sie kratzte das letzte bisschen Schokolade vom Teller. »So vergesse ich sie immerhin nicht«, meinte sie und stellte ihren Teller zu Miles.

»Wann kommt Onkel Sam nochmal an?«

»Er sollte eigentlich schon da sein.«

Miles Augen, die genauso schokobraun wie der Kuchen waren, wurden gross. »Lass uns unten auf ihn warten!«

Sabrina schüttelte den Kopf.

»Komm schon, du kannst nicht den ganzen Tag hier drin hocken!«, liess er nicht locker und zog ihr die Decke von den Beinen. »Auf jetzt!«

Stöhnend gab Sabrina sich geschlagen. Andere Menschen waren einfach stressig. Zudem hatte sie immer das Gefühl, dass Onkel Sam sie eigentlich nicht mochte. Aber vielleicht war sie auch einfach paranoid. - Nichts Ungewöhnliches für eine Schizophrene...


~Mile~

Der Tag, an dem die Geschwister Beltran ihren Onkel kennengelernt hatten, war zugleich der schlimmste Tag ihres Lebens gewesen.

Es war rund acht Jahre her, doch bis heute erinnerte sich Mile nur zu gut.

Ein Mittwoch, irgendwann gegen Mittag. Das Knurren seines Magens hatte ihn geweckt, barfuss war er den Flur und die Treppe runtergetapst. Jäh hatte ihn der Schmerz aus seiner Schlaftrunkenheit geweckt, als ihn etwas in den Fuss geschnitten hatte. Erst dann war ihm aufgefallen, dass der Boden des Wohnzimmers mit Scherben bedeckt war. Irgendetwas hatte einen der vielen Deko-Spiegel des Hauses, der die Wand vom Wohnzimmer zur offenen Küche geziert hatte, in tausend Stücke geschlagen. Als er entdeckt hatte, dass an einigen von ihnen getrocknetes Blut klebte, war er die Treppe ängstlich wieder hochgehumpelt und in das Schlafzimmer seiner Eltern gestürmt. Doch er hatte die Betten leer vorgefunden, die Decke schön gemacht, als hätte niemand darin geschlafen. Er hatte nach ihnen gerufen, war suchend und mit wachsender Panik durchs Haus gelaufen, rote Fussabdrücke überall, doch seine Eltern waren unauffindbar gewesen.

Also hatte er seine kleine Schwester geweckt und war mit ihr im Pyjama zu den Nachbarn gelaufen. Und nachdem diese sich vergewissert hatten, dass stimmte, was der verstörte Neunjährige mit blutigem Fuss und weinender Schwester an der Hand ihnen erzählt hatte, wurde 110 gewählt.

Die Polizei hatte eine Suche gestartet, erst das Auto ein paar Kilometer Richtung Wald in einer Böschung gefunden und dann die beiden Leichen auf dem verschneiten See entdeckt. - Eira und Ignatzius Beltran, deren Tode bis zum heutigen Tag ein Rätsel geblieben war.

Sabrina und Mile hatten die darauffolgenden Stunden im Polizeirevier unter ständiger Beschallung irgendwelcher Beauftragter des Jugendamtes verbracht, bis Samson Tallo, ihr einziger Verwandter, aufgetaucht war und sie mitgenommen hatte.

Eine Weile waren sie bei ihm geblieben, weit ab von aller Welt in dem grossen Anwesen, das im Besitz der reichen Familie Tallo war. Doch ihr Onkel und seine Frau waren vielbeschäftigt, oft auf Reisen, selten da und wenn, dann in Begleitung von geschäftlichem Besuch. - Nicht genug Zeit für zwei Waisenkinder.

Also hatten die Tallos eine Pflegefamilie für die Geschwister Beltran gesucht. Eine in Berlin, der Stadt in der sie ohnehin aufgewachsen waren. Und so waren sie schliesslich bei Pastor Fraser gelandet.

»Yo Beltrans!«, wurde Mile von Boris aus seinen Erinnerungen gerissen, als die Geschwister an der Küche vorbeikamen. Zusammen mit den anderen beiden Pflegekindern - dem zehnjährige Jonah und der doppelt so alten Camilla - machte sich sein Zimmergenosse gerade über den Schokoladenkuchen her. »Sollen wir euch was übriglassen? Ist eigentlich der Begrüssungskuchen für deinen Onkel, aber der wollte keinen.«

»Hey hey, danke, aber ich hab mir auch schon was gemopst«, begrüsste er seine Pflegegeschwister. Irritiert fragte er: »Er ist schon da? Warum hat uns niemand was gesagt?«

Camilla, die auf der Küchentheke sass, zog sich theatralisch einen ihrer Kopfhörer aus dem Ohr und erklärte mit klappernd gestikulierenden Fingernägeln: »Er wollte mit Alec reden.«

»Wo ist er?«, fragte Sabrina und lehnte dankend ab, als Boris ihr das Kuchenblech entgegenstreckte.

Camilla rollte mit den Kajalugen. »Na, in seinem Büro-ho.«

»Er wirkte etwas aufgeregt«, erklärte ihnen Miles bäriger Zimmergenosse und zupfte sich ein paar Krümel aus seinem zottigen Bart. Obwohl er erst 16 war, musste er der haarigste Mensch sein, den Mile je kennengelernt hatte. »Ist irgendwas los?«

Mile runzelte die Stirn und tauschte einen Blick mit seiner Schwester. »Nicht dass wir wüssten...«

»Wir sollten mal nach ihm sehen«, meinte Sabrina und zog ihren Bruder aus der Küche. »Danke für die Auskunft!«

Als sie in den Flur einbogen, der zu Alecs Büro führte, hörten sie die Stimme ihres Onkels bereits durch die Tür donnern. Sein Tenor war unverwechselbar.

Schon wollte Mile freudig die Tür aufreissen, doch Sabrina hielt ihn zurück und hob einen Finger an die Lippen. »Worüber reden die?«, flüsterte sie und nun wurde auch Mile auf das seltsame Gespräch der beiden alten Männer aufmerksam.

»Dann muss ich mich heute von ihnen verabschieden?« Das war der Pastor. Er klang ungewohnt emotional.

»Ja und zwar ganz normal, Alec«, antwortete Onkel Sam mit Nachdruck. »Als würden sie einfach nur im Sommer zu mir fahren, wie jedes Jahr. Keine Tränen, keine rührende Worte.«

»Häh?«, machte Mile leise, doch Sabrina hielt sich nur wieder den Finger an den Mund.

»Sie sind doch noch Kinder! Ich meine, Mile ist gerade erst 18 geworden, er ist noch im Abi und so ein Kindskopf...«, jammerte der Pastor. »Und von Sabrina fangen wir lieber gar nicht erst an!«

Mile gluckste: »Na wo sie recht haben...«

Sabrina warf ihm einen bösen Blick zu. »Psst!«

»Ich teile ja deine Meinung, alter Freund, aber Dom Askurs Einfluss auf den Orden ist zu gross!«

Der Pastor schnaubte verdrossen. »Zumal ich von Wylrion und seinen Methoden alles andere als begeistert bin!«

Wieder kicherte ihr Bruder. »Haben die was geraucht?«,

Sabrina stöhnte. Warum konnte er nicht einmal ernst bleiben?! »Jetzt halt doch mal die Klappe!«

Mile hob die Brauen. Im Zimmer knarzte ein Stuhl.

»Scheisse«, zischte sie. Zu laut.

Die Geschwister machten einen Schritt zurück, die Tür schwang auf und über die Schwelle rollte Samson Tallo. »Wer einen Blinden belauschen will, muss früher aufstehen«, brummte er und streckte die Arme aus. »Wo seid ihr beiden Rotznasen, lasst euch von eurem alten Onkel drücken!«

Mile schob seine Schwester in die Umarmung ihres alten, im Rollstuhl sitzenden Onkels und beugte sich hinab, um sich ebenfalls in dessen Arme schliessen zu lassen.

»Belauscht?«, empörte er sich und zupfte an den dünnen Haaren seines Onkels. Auch wenn die grauen Strähnen nicht weniger wurden, hatte sein Haar die markante Farbe noch immer nicht gänzlich verloren. Rot - laut Onkel Sam ein dominantes Gen ihrer Familie väterlicherseits. »Wenn du dir nicht irgendwann die Haare weiss färbst«, zog Mile ihn auf, »wird nie jemand deine Weisheiten ernst nehmen, alter Mann.«

»Wen nennst du hier alt?«, spielte Samson Miles Spiel weiter und zog gespielt beleidigt die Brauen zusammen. »Ich bin gerade erst 70 geworden!«

»Worüber habt ihr denn so dringend sprechen müssen?«, unterbrach Sabrina das Hin-und-Her der beiden. »Wir haben erst durch die anderen erfahren, dass du schon hier bist.«

Nun kam auch der Pastor aus dem Büro geeilt, um mit flatternden Händen Sabrinas Frage zu verscheuchen. »Oh, nur ein paar Kleinigkeiten wegen der Fahrt. G-Geld fürs Benzin und so...«

»Klang nicht so«, liess Sabrina nicht locker. Der Blick ihrer stechend blauen Augen bohrte sich am Pastor fest.

»Ach, Sabrina, das-«, begann Sam, doch der Pastor unterbrach ihn: »Sabrina, was hinterfragst du wieder alles? Dass du mir keinen paranoiden Schub bekommst, ja?«

Das brach ihren Blick und Mile verspürte einen Stich. »Hey, sag das nicht! Ich hab auch was gehört!«, protestiere er nun. »Was war das mit dem Abschied? Werden wir denn länger weg sein? Also ich hätte kein Problem damit, mein Abi für ein Jahr zu verschieben!«

Der Pastor lachte, doch es klang aufgesetzt. »Das hättest du wohl gerne. Ganz ehrlich, ihr beiden, es gibt nichts, worüber ihr euch Gedanken machen solltet. Und jetzt Schluss damit, sonst fällt mir noch das letzte graue Haar aus!«

Bevor jemand von ihnen erneut widersprechen, oder Alec daran erinnern konnte, dass es um dieses letzte Haar längst geschehen war, klatschte Samson in die Hände. Seine milchigen Augen blickten Sabrina so direkt an, dass Mile einmal mehr in seinem Leben Zweifel daran bekam, ob sein Onkel wirklich so blind war, wie er behauptete.

»Kleines, warum nimmst du nicht deinen Bruder und ihr holt eure Koffer? Von mir aus können wir sofort los.«

~Sabrina~

Tanja winkte aus dem Fenster des Vans, als sie die Geschwister aus der Tür kommen sah. »Beltrans!«, begrüsste sie sie freudig, nachdem sie aus dem Auto gestiegen war, um ihnen mit den Koffern zu helfen.

Mile, der seit er sechzehn war, einen Crush auf die Gärtnerin der Tallos hatte, wurde natürlich sofort knallrot. »Ich mach das schon«, erklärte er und hob seine beiden Koffer selbst gleichzeitig ins Auto.

Sabrina seufzte und raunte: »Oh Tanja, liebe mich, ich kann so toll Koffer tragen!«

Mile hob drohend die Augenbrauen, doch Tanja war ohnehin damit beschäftigt, Onkel Sam die Rampe des Pflegeheims herunterzuhelfen.

Jonah, Camilla und Boris waren ebenfalls nach draussen gekommen, um sich zu verabschieden. Alle drückten einander, selbst der kleine Jonah, der sonst eigentlich jeden Körperkontakt vermied. Er schenkte Sabrina sogar ein mildes Lächeln. Ihn hatte Sabrina am liebsten von all ihren Pflegegeschwistern. Wie sie selbst bevorzugte er es, sich zurückzuziehen. Das lag wohl daran, dass er so Schlimmes erlebt hatte. Der Pater hatte ihnen nie erzählt, wie es dazu gekommen war und sie hatten sich nie getraut, Jonah danach zu fragen. Irgendjemand hatte ihm beide Ohren abgeschnitten. Deshalb trug Jonas auch immerzu einen dunkelgrünen Beanie, den Camilla ihm bei seiner Ankunft in ihrer Pflegefamilie geschenkt hatte.

Als der Pastor hervortrat, um sich zu verabschieden, beobachtete Sabrina ihn genau. Doch Alec liess sich nichts anmerken. Er verabschiedete sich wie immer, drückte Samson, drückte Mile und auch sie wurde umarmt. Nur kurz flackerte Trauer in seinem Blick auf und er brachte ein knappes »Passt auf euch auf!« hervor. Mehr gab er nicht preis. - Sabrinas nagende Paranoia flaue nicht ab.

»Alle Behinderten für den Transport ready?«, rief die Gärtnerin und Teilzeit Chauffeurin.

Samson, der bereits auf dem Beifahrersitz sass, schüttelte den Kopf. »Tanja!«

»Was denn?«

Als der Van losfuhr, blickte Sabrina in den Rückspiegel. Ihre Pflegegeschwister liefen schon wieder ins Haus. Nur der Pastor stand noch immer da und blickte ihnen nach.

War es wirklich nur Paranoia? Irgendwie liess sie das Gefühl nicht los, dass sie nicht mehr zurückkehren würde.

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