Was Eisberge verbergen

By ananasdream

27.2K 2.4K 2K

»Warum lässt du dir nicht helfen?« »Die bessere Frage wäre, warum mir niemand hilft.« 𓂉 Ayliz lebt als ambit... More

Vorwort
Greifen nach ausgestreckten Händen (1)
Greifen nach ausgestreckten Händen (2)
Schlag auf brechendes Eis (1)
Schlag auf brechendes Eis (2)
Eine uns trennende Eisschicht (1)
Eine uns trennende Eisschicht (2)
Keine Einsicht
Ein nächtlicher Kampf
In den Tiefen der Vergangenheit
Die gefühllosen Coolen
Ein haargenau überlegter Schlag (1)
Ein haargenau überlegter Schlag (2)
Die Sicht in dein Inneres (1)
Die Sicht in dein Inneres (2)
Neugierde auf dem Präsentierteller
Kaltes Herz
Das Ticket Richtung Glück
Das Lied einer brechenden Seele
Tanzender Schnee zur Musik (1)
Tanzender Schnee zur Musik (2)
Optimale Vitalfunktionen im gefrorenen Zustand (1)
Optimale Vitalfunktionen im gefrorenen Zustand (2)
Der harte Boden bebt (1)
Der harte Boden bebt (2)
Über Wasser sieht man mehr
Wir werden Berge versetzen
Schlagendes Herz unter Eis (1)
Schlagendes Herz unter Eis (2)
Die Splitter passen nicht zusammen
Bewegungslosigkeit unter dem Gefrierpunkt
Brechendes Glas
Die verborgene Hässlichkeit meiner Seele (1)
Die verborgene Hässlichkeit meiner Seele (2)
Kämpfen unter der Oberfläche (1)
Kämpfen unter der Oberfläche (2)
Liebe bewegt das Eis auch nicht höher (1)
Liebe bewegt das Eis auch nicht höher (2)
Was Eisberge verbergen (1)
Was Eisberge verbergen (2)
Klopfendes Herz in meinen Händen
Was unter der Eisschicht liegt
Frischer Wind lässt mich atmen (1)
Frischer Wind lässt mich atmen (2)
Danksagung
Triggerwarnung

Im Eis versinken

343 40 17
By ananasdream

Wir überprüfen, ob sich an das Abkommen gehalten wurde.


𓂉

ELF UHR ZWEIUNDVIERZIG. Auf dem Tisch liegt meine hochfunktionale Funkuhr, die mir zum Glück auch die Sekunden anzeigt. Noch siebenundzwanzig, um genau zu sein – und dann wird meine Blase aus heiterem Himmel zu drücken anfangen. Ich tippe ungeduldig mit dem Bleistift auf das Matheheft. Vom Unterricht bekomme ich nahezu nichts mit. Herr Schmidt schwadroniert über die Wichtigkeit von Mathematik im Alltag und schreibt Terme an die Tafel, denen ich in der Natur niemals begegnet bin.

Noch fünfzehn Sekunden. Meine Hand wird schwitzig bei dem Gedanken, dass Frau Weber mittlerweile wahrscheinlich schon längst auf dem Weg zu den Mädchentoiletten ist. Ich atme tief ein und aus und hoffe, dass mir hier niemand ansieht, dass ich mir vor Nervosität fast in die Hose mache, obwohl kein Test geschrieben wird.

Die Zahlen laufen vorwärts: fünfzig, einundfünfzig, ... Noch wenige Sekunden. Mir wird schlecht. Habe ich das alles durchdacht? Was ist, wenn ich erwischt werde? Fliege ich dann von der Schule? Die Kreide fährt langsam über die Tafel und bildet ein X. Ist das nicht das Zeichen fürs Eliminieren von Personen in Spielfilmen? Oh je, der Wink des Schicksals! Die Aktion werde ich nicht überleben.

Eli wirft mir von der Seite einen finsteren Blick zu, als wüsste sie, was in meinen Kopf abgeht und wollte sagen: Jetzt kneif bloß nicht! Ich habe den Wasserhahn gewiss nicht umsonst aufgedreht und die Toiletten verstopft.

Achtundfünfzig, neunundfünfzig – und auf Anfang. Elf Uhr dreiundvierzig und null Sekunden. Meine Hand schießt in die Höhe. Da Herr Schmidt mit dem Rücken zur Tafel steht, rufe ich: »Ich muss mal.« Er dreht sich wütend nach mir um. Dass ich reingerufen habe, sieht er nicht gern. »Dringend«, füge ich daher hinzu.

Kopfschüttelnd deutet er mir an, die Klasse zu verlassen. Mit klopfendem Herzen erhebe ich mich. Meine Knie sind wackelig, hoffentlich meistere ich den Weg bis ins Sekretariat.

Im Schulflur stelle ich fest, dass die Luft rein ist. Weder Schüler noch Lehrer zeigen sich. Hoffentlich hat Lennja es geschafft, die Seitentür im Sekretariat mit einem Gegenstand offenzuhalten, ohne dass Frau Weber das bemerkt hat. Zum Glück hat der Raum zwei Türen und die Seitentür liegt ein wenig abseits. Wenn sie diese nicht ausdrücklich vorm Verlassen ihres Büros kontrolliert hat, dürften wir auf der sicheren Seite sein.

Ich schlucke, als mir klar wird, dass ich an der Schulbücherei vorbei muss. Hoffentlich sieht mich Susanne nicht und steckt ihren Kopf in einen Roman. Dass ich mich hier aufhalte, kann natürlich auch daran liegen, dass ich auf seriösem Weg das Sekretariat aufsuche. Falls Frau Weber aber auffallen sollte, dass ein Ordner nachher anders steht und sie Susanne nach Verdächtigen fragt, bin ich geliefert.

Ich riskiere einen kurzen Blick ins Fenster. Die Bibliothekarin ist gerade dabei Bücher ins Regal zu sortieren. Ich atme erleichtert auf. Ich biege um die Ecke und stelle fest, dass unser Plan ein voller Erfolg war. Die Seitentür steht einen Spalt breit auf, für Uneingeweihte wäre es kaum sichtbar. Ich schaue mich nach allen Seiten um. Rechts runter ist das Lehrerzimmer. Daumen gedrückt, dass keiner von ihnen in dieser Sekunde herauskommt, weil er gerade eine Freistunde hat.

Ich ziehe die Tür auf ... und bin drin. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Lennja hat mir beschrieben, aus welchen Schrank Frau Aicher damals die angeforderten Akten von Frau Weber bekommen hat. Es ist der Schrank auf der linken Seite. Die erste oder zweite Tür direkt – wenn man von dem Empfangstresen aus guckt.

Obwohl die Lautstärke eigentlich keine Rolle spielt, tippele ich auf Zehenspitzen zum Regal. Auch die Schranktür öffne ich vorsichtig und mit bedacht. Das Holz wirkt noch recht neu auf mich. Sie sollte nicht quietschen – und tut es tatsächlich nicht. In einem Hollywoodblockbuster hätte die Tür jetzt ohrenbetäubende Geräusche von sich gegeben. Wie gut, dass wir in der echten Welt leben.

Im Schrank finde ich einen ganzen Haufen an Ordner. Alle von ihnen sind beschriftet, zum Teil mit Bezeichnungen, mit denen ich nichts anfangen kann. Glücklicherweise ahne ich sofort, nach welchem ich greifen muss. Einige Ordner sind mit den Klassenbezeichnungen versehen: 5a, 5b, 6a, 6b, 6c, 7a, ... mein Blick huscht weiter runter. Na bitte! 10b! Der Batzen an Papier darin ist enorm. Ich lege das schwere Ding auf dem Tresen und schlag die erste Seite auf. Da sind wir alle drin – in alphabetischer Reihenfolge. A, B, C ... G wie Geoffrey.

Auf der ersten Seite finde ich allerlei persönliche Daten zu Theos Person. Obwohl mir das beim Überfliegen nicht interessant vorkommt, schieße ich dennoch schnell ein Foto. Ich durchblättere die Akte, ohne sie zu lesen, nur um sie für die Kamera abzulichten. Mir fällt auf, dass Theos Papierstapel dicker ist, als der der Schüler davor. Nicht alles verstehe und behalte ich mir, aber dass er drei Mal sitzengeblieben ist, erscheint mir recht viel. Trotzdem sind das keine Infos, die mir Aufschluss über Theos Vergangenheit und Verhalten geben.

Ich erreiche ein Dokument mit der Überschrift Förderpläne.

Theo hat Schwierigkeiten, sinnentnehmend zu lesen. Das konzentrierte Arbeiten über einen längeren Zeitraum bereitet ihm Probleme.

Da steht noch mehr, nur schaffe ich es nicht, alles zu lesen. Ich bekomme Mitleid, aber keine Antworten. Am Ende des Abschnitts befindet sich eine Klarsichtfolie mit einem linierten Heft. Ich nehme es heraus und gerate ins Staunen. Sie haben ihn beobachtet. Darin befinden sich jede Menge Aufzeichnungen über sein Verhalten. Auch Kommentare sind angefügt. Die Neugierde lässt mich das Fotografieren vergessen, stattdessen beginne ich zu lesen.

Theo schläft regelmäßig im Unterricht. Nach Aussagen der Erziehungsberechtigten tut er dies nachts nicht. Der Besuch beim Arzt erfolgte, welcher Theo an eine psychiatrische Einrichtung überwiesen hat (erfolgreich). Trotzdem zeigen sich seitdem in der Klasse keine Veränderungen. Nach Absprache mit seiner Therapeutin: Theos Psyche befasst sich mit Themen wie Identitätskrise, aber auch Leistungsdruck. Theo zeigt eine deutlich verbesserte Arbeitsbereitschaft, seit er auf Grundlage der Bewertungsmaßstäbe des Förderschwerpunkts Lernen unterrichtet wird. Unausgeschlafen ist er nach wie vor – ebenso schläft er im Unterricht ein.

Theo arbeitet über einen längeren Zeitraum konzentriert an seinen Aufgaben, seitdem er das vom Arzt verschriebene Ritalin einnimmt (ADS). Nach Aussagen der Mutter ist er allerdings zuhause weiterhin nachts wach und lustlos seinen Hobbys nachzugehen. Die Mutter vermutet, dass Theo von einem Gitarrenauftritt traumatisiert ist, bei dem er aufgrund der prallen Hitze kurz das Bewusstsein verloren hat.

Ich schlucke. Als ob. Es ist leicht, das einfach so zu behaupten. Hätte er dann nicht eher Angst vor praller Sonne statt seiner Gitarre?

Kurzzeitige vom Arzt angeordnete Verabreichung von Zolpidem aufgrund seiner nächtlichen Schlafstörungen führt dazu, dass Theo im Unterricht schnell gereizt reagiert. Es kommt zu aggressivem Verhalten gegenüber seinen Mitschülern und generell sind Stimmungsschwankungen zu beobachten. Er zeigt sich dafür beim Arbeiten weniger deprimiert. Allgemein ist Theos Stimmung aufsässig und amüsiert (bei Regelverstößen). Nach Aussage der Therapeutin hat er die zuvor wahrgenommene traurige Verstimmung noch nicht überwunden, allerdings lässt sich festhalten, dass das Thema Leistungsdruck mittlerweile von geringerem Wert für ihn ist als die Identitätskrise. Im szenischen Spiel zeigt sich, dass Theo in der Lage ist, sich in Rollen hineinzuversetzen und diese zu interpretieren. Auf sein eigenes Ich überträgt er diese Erkenntnisse jedoch nicht. Dies bestätigt sich ...

Plötzlich dringen von draußen Stimmen an mein Ohr. »Frau Weber! Müssen wir beide dem Hausmeister denn nicht unter die Arme greifen?«

»So groß ist der Schaden ja nicht.«

Hastig schlage ich den Ordner zu.

»Den Wasserhahn konnte ich ja zum Glück abstellen, aber die Toiletten ... meinen Sie nicht, dass das eine große Kata–« Die Tür geht auf, als ich gerade dabei bin, den Ordner zurück ins Regal zu stellen.

Lennja wird von Frau Webers aufgebrachter Stimme unterbrochen. »Was denken Sie, dass Sie da tun?«

Verdammt, verdammt, verdammt! Der Ordner rutscht mir aus der Hand und gleitet zu Boden. Der dumpfe Schlag lässt mich zusammenzucken. Ich durchforste meinen Kopf nach logischen Erklärungen, doch die einzige Ausrede, die mir einfällt, ist: Der Hund hat meine Hausaufgaben gefressen.

Lennja, die hinter Frau Weber steht, verzieht entschuldigend die Miene. Sie gibt sich die Schuld für mein Versagen, nur weil sie den Einfall hatte. Dabei habe ich die Hebel gezogen. Diese Dummheit ist auf mich zurückzuführen. Ich werde die Konsequenzen dafür tragen müssen.

»Haben Sie etwa nach den Lösungen für die Klassenarbeit gesucht?«, fragt sie mich skeptisch.

»Nein!«, entgegne ich jäh, überzeugt, dass diese Absicht noch viel schlimmere Konsequenzen mit sich zieht, gestehe ich ihr die Wahrheit. »Ich habe nach einer Schülerakte gesucht.«

Wütend entreißt sie mir den Ordner und stellt ihn zurück ins Regal. »Dann sind sie ja sogar fündig geworden. Wollten Sie ihre eigene Akte sehen?«

Ich überlege, was weniger schlimm ist. Frau Weber gestattet mir allerdings nicht, zu antworten. »Was für eine Frage! Ihre eigene Akte hätten Sie problemlos mit Absprache des Erziehungsberechtigten einsehen können.« Oh, gut zu wissen. »Ich weiß nicht, was Ihnen die Daten von fremden Schülern angehen, aber das ist ein Eingriff in die Privatsphäre. Das wird Konsequenzen mit sich ziehen. Ich werde Ihre Klassenlehrerin und den Schulleiter informieren.«

Ihre Worte schüchtern mich ein. Sie drücken mich immer tiefer unter Wasser. Egal, was ich sage, ich werde nicht gehört werden. Sie wird kein Auge zudrücken, weil wir sie so hinterhältig zu zweit ausgetrickst haben. Lennja ignoriert sie aufgrund unzureichender Beweislage. »Und setzen wir das Randalieren auf den Toiletten auch noch auf die Liste Ihrer Vergehen?« Dabei schaut sie nicht nur mich, sondern auch Lennja über ihre schmale Brille hinweg an.

Meine Freundin schüttelt sofort heftig den Kopf. Ich zögere, weil ich bezweifele, ob weitere Lügen so klug sind. Andererseits habe ich Angst, dass die Strafe dann noch belastender ausfallen wird. Aber Frau Weber ist nicht dumm. Ihr ist bewusst, dass nicht zufällig zur selben Zeit das Bad überflutet wird, wenn ich mich in ihr Büro schleiche. Ich schlucke den Kloß runter und nicke. »Das war ich. Lennja trifft keine Schuld.«

Ihre Augen weiten sich. »Nein, Frau Weber. Das stimmt nicht. Ayliz trifft nicht die volle Schuld«, verteidigt Lennja mich.

Mit verschränkten Arme baut sie sich autoritär über ihr auf. »Ach? Dann bist du doch schuldig und hast mich eben angelogen? Noch schlimmer.«

Ich sende Lennja stumme Signale zu, dass sie es bitte gut sein lassen soll. Es ist unsinnig, wenn sie uns beide bestrafen. Einer reicht aus. Doch Lennja senkt nur beschämt den Kopf und nickt.

Kommentarlos, kopfschüttelnd lotst sie uns aus dem Sekretariat, schließt die Tür und lässt uns dann hilflos zurück. Wir tauschen Blicke, denn es wurde uns nicht gesagt, ob wir hier auf unsere Strafe warten sollen. Ein Schauer überkommt mich. Ich reibe mir über die Oberarme und hoffe, dass sie schnellen Prozess mit uns machen und unsere Erziehungsberechtigten nicht informieren.

Es kommt wir wie eine Ewigkeit vor, dann erscheint Frau Weber zusammen mit dem Schulleiter im Schlepptau. Sein Schnauzbart kräuselt sich auf angsteinflößende Weise. Als er mir gegenüber steht, verschränkt er die Arme vor der Brust. Das gestreifte Hemd spannt sich. Die Augenbrauen heben sich abschätzig. Neben der Strenge liegt auch noch etwas anderes in seinem Blick – Enttäuschung. Ich erinnere mich daran, wie er mich mal darauf angesprochen hat, wie klasse er es findet, dass ich Teil der Streitschlichter bin. Ob er das mit allen gemacht hat oder nur mit mir, weil er meine Akte kennt?

»Das gibt eine Klassenkonferenz.« Jetzt sind wir beide enttäuscht. Wie aus der Streitschlichterin eine Unruhestifterin mit Klassenkonferenz wurde – tragische Geschichte. Ich habe so viele Schüler vor einer bewahrt, aber nicht mich selbst.

𓂉

Musstet ihr schon mal zu einer Klassenkonferenz? Falls ihr immer artig gewesen seid, trotzdem gerne mal bei einer dabei sein wolltet, habt ihr Glück - Ayliz lädt euch zu ihrer ein 😆. Was wird der Vorfall wohl für Konsequenzen mit sich ziehen?

Continue Reading

You'll Also Like

6.2M 258K 85
Viele Jugendliche freuen sich, wenn sie den Sommer ohne ihre Eltern verbringen können. Hätte sich Isabelle Williams wahrscheinlich auch, aber leider...
70.3K 4.1K 25
♦ Mallorys Leben ändert sich von heute auf morgen, als sie einen Unfall hat und dabei ihren Kopf schwer verletzt. Diese Verletzug führt dazu, dass s...
8.5K 597 4
Als nebenan neue Nachbarn einziehen ist endlich mal was los in der öden Nachbarschaft, denkt sich der 17 jährige Parker. Durch die Fenster, die sich...
59.2K 7.9K 53
☆ Band II ☆ Gefangen in ihrer Zeit ergibt sich Najmah dem Schicksal, das sie seit Beginn ihrer Abenteuerreise erwartet hatte: Ein Leben ohne Magie, i...