Antagona - Lügentraum

By Achuin

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- Wenn hintergründige Schatten auf dich lauern. Wenn Sterne in Scharen vom Himmel herabfallen. Wenn Wälder... More

Ein holpriger Schritt ins Grab
Der erste Traum
Verdammte Regeln
Zu ruhig für einen Alptraum
Kein Entkommen
(Saylor) bittere Erkenntnis
Das Verschwinden des illegalen Mädchens
Das abgestorbene Viertel (Saylor)
Geblendet von Gold (Saylor)
Verfluchte Zauberei
Ausgesprochen gutes Marketing

Der große Schöpfer

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By Achuin

,,Tag fünf in meinem Leben als Schreiber, als Schöpfer der Träume", seufzte ich und setzte mich an meinen Platz.
Ein ungemütlicher, klobiger Stuhl vor einem winzigen Computer und einer dreckigen Tastatur. Sie enthielt Kaffeekleckse und fettige Fingerabdrücke. Da waren mir die hunderte an Liegestützen im Lager, die ich als Strafe bekommen hatte, viel lieber. Der Sport hielt mich wenigstens gesund. Jeden Tag vor diesem Computer würde ich noch eingehen wie eine Topfpflanze. Protokolle und Papierarbeit, wer mochte es nicht?
,,Spiel dich nicht so auf!", nörgelte mein Sitznachbar, ,,Mit dir arbeiten noch tausende andere Schöpfer der Träume hier."

Sein neckischer Ton gefiel mir nicht. Insgesamt alles an ihm gefiel mir nicht. Der Mann, der von nun an jeden Tag zu meiner Linken saß. Er besaß den glanzvollsten Glatzkopf, den meine Augen je erblickt hatten. Dafür hatte er aber einen Bart, man könnte denken, er züchte eine ganze Farm an Insekten darin, so lang und widerlich war er. Wenn er ihn nicht pflegen wollte, dann sollte er ihn zumindest abrasieren. Damit würde er einen Gefallen an alle Schreiber tun. Seine kugelrunden Augen sahen müde und geistlos aus. Wenn er mich anstarrte, hatte ich das Gefühl, er würde mir direkt in meine Seele schauen.
,,Ich weiß, dass mein Leben miserabel ist, Keon. Reib's mir nicht unter die Nase", erwiderte ich.

Keon war ein Spaßverderber. Es war ein Wunder, dass so einer wie er Schreiber geworden ist. Wovon ließ er seine Menschen wohl träumen? Davon, wie sie Abends bei grauem Himmel einen Spaziergang machten und an ihrem Kaffee schlürften? Meine Menschen sollten sich glücklich schätzen, dass sie mich hatten. Leider wussten sie nicht, dass ich existierte, sonst hätten sie mein Einfallsreichtum gelobt und mir dafür gedankt, dass ich ihr Leben schöner machte.
Mein Leben konnte ich leider nicht mehr retten. Klick, klick, klick...

Überall tippende Finger. Die Geräusche hörten nicht auf. Die meisten klickten so schnell auf ihren Tastaturen, als würde ihr Leben davon abhängen. Andere hämmerten aggressiv auf den Buchstaben, während andere Existenzkrisen erlitten, weil ihnen nichts einfiel. An der Kaffeemaschine wurde Schlange gehalten. Sie konsumierten den Kaffee literweise und sahen wie Drogenabhängige dabei aus. Ich war zwar kein Arzt, doch ich konnte darauf wetten, dass sie mehr Kaffee im Körper hatten als Blut. All die Jahre hatte ich gedacht, im Lager wäre es überfüllt gewesen. In dieser Fabrik war es schlimmer. Meine Kollegen zu zählen war mindestens genauso unmöglich, wie meine Haare zu zählen.

Ich vermisste es tatsächlich. Das Leben als Soldat. In Zeiten, wo die Attacken sich noch in Grenzen hielten, waren wir oft außerhalb der Stadt gewesen, an den schönen Ecken Antagonas.
Die Massen an Schreiber in der Stadt wussten vermutlich nicht einmal, dass solche Orte außerhalb des Zentrums existierten. Diese aufregenden Orten mit buntem Himmel, umwerfender Natur, lebenslustigen Leuten und vor allem die Orten mit unerklärlichen Dingen. Womit erklärten sich Menschen Dinge, die sie nicht verstanden und dessen Funktionsweise unklar war? Magie?
Mein Leben war einst voll damit gewesen. Nun war die einzige Sache, die ich mir nicht erklären konnte, wie Keon es zustande brachte, mehrere Minuten lang nachdenklich auf den Bildschirm zu starren ohne zu blinzeln. Ab und zu hatte ich das Gefühl, er wäre eingefroren, erschrak dann aber kurz, wenn er plötzlich doch noch die Hand hob, um nach seinem Kaffee zu greifen.

,,Habt ihr etwa immer noch nicht begonnen?", keifte der verdrießliche Aufseher, der wie aus dem Nichts hinter mir auftauchte.
Erschrocken drehte ich mich um und bereute es sofort wieder. Der Aufseher der Fabrik hatte solch ein fatales Aussehen, dass es sogar meine Kreativität einschränkte, als wäre es Nervengift. Sein fahles Gesicht könnte etwas Farbe vertragen, ebenso wie sein karger Aufzug. Wenn ich ihn mit einem Wort beschreiben müsste, dann mit Enzyklopädie. Mir war bewusst, dass Enzyklopädie kein Adjektiv war. Der Aufseher hatte jedoch so eine geisttötende und eintönige Ausstrahlung, dass das erste, woran ich bei ihm denken konnte, eine Enzyklopädie war. Ein Mann so kompliziert und öde, wie der Ausdruck selbst. Er trug fast jeden Tag dasselbe. Viel Abwechslung herrschte in seinem Kleiderschrank anscheinend nicht. Das wandelnde Nachschlagewerk bedachte mich mit einem strengen Blick.

,,Die Nacht ist bei den Menschen längst angebrochen. Macht euch ans Werk! Ich will eure Finger tippen sehen, bis sie bluten", verlangte er.
Die Worte kamen aus seinem überaus riesigen Mund geschossen und bahnten sich einen Weg durch meine Ohren bis tief in mein Gehirn. Seine markante Stimme war ohrenbetäubend. Noch nie hatte ich ihn in normaler Lautstärke sprechen hören.
,,Ja, Sir", sagte Keon und fing sofort zu tippen an.

Seine Finger arbeiteten, bevor er überhaupt wusste, was er da schrieb. Der Aufseher rückte sich seine Brille zurecht, damit er mich besser anstarren konnte. Sein prüfender Blick lag mehrere unausstehliche Sekunden lang auf mir, bevor er sich davonmachte, um die nächsten Arbeiter zu terrorisieren.
,,Psst, Neuer", zischte Keon mir zu, der sich immer noch nicht die Mühe gemacht hat, sich meinen Namen zu merken.

Er reckte seinen rundlichen Kopf zu mir herüber und flüsterte, als würde er mir ein Geheimnis mitteilen, das wir beide mit ins Grab nehmen müssten.
,,Wenn dir nichts einfällt, kannst du deine Träume so erschaffen, dass die Menschen von alleine ihren Traum bestimmen."
Ich wurde hellhörig. Die Stirn runzelnd, kam ich Keon näher und fragte: ,,Wie soll das gehen?"

,,Es wissen nicht viele davon. Du kannst die Träume jedoch so gestalten, dass Menschen wissen, dass sie träumen. Dann können sie ihre Träume selbst beeinflussen. Alles läuft automatisch sozusagen. Ich tue das jeden Tag, berichte von dem Traum aber so, als hätte ich die ganze Handlung selbst erschaffen", erzählte er stolz den Kopf nickend, als hätte er mir soeben den größten Gefallen meines Lebens getan.

Den Träumen der Menschen freien Lauf lassen und darüber Bericht erstatten, als hätte man sich alles selbst ausgedacht.
Dass Keon faul war, sah man ihm an. Eine Geschichte für einen Traum auf dem Computer zu verfassen und zu dokumentieren war die eine Sache. Sie den Menschen im Nachhinein wirklich träumen zu lassen war die andere und das ging leider nicht mit Computern.

Wir spürten, wann unsere Menschen schliefen und welche noch tief Nachts wach blieben aus welchen Gründen auch immer. Ihr Verstand bildete sozusagen ein Teil unseres Zuhauses. Wir waren für das Unterbewusstsein zuständig. Erfüllten wir unsere Aufgabe nicht, verloren wir unsere Existens. Wie es sich wohl anfühlte, sich in Luft aufzulösen und seine gesamte Welt und somit sich selbst zu verlieren? Ins ewige Nichts oder auf ewig verdammt für andere zu leben.

Wie dem auch sei, die vorgefertigten Träume übertrugen wir, nachdem sie eingeschlafen waren. Es forderte uns also einiges an unseren Kräften ab, weswegen Keons Vorschlag natürlich eine starke Entlastung wäre.
Das ging mir jedoch zu weit. Wenn ich hier sitzen musste, dann wollte ich wenigstens meinen Spaß dabei haben.

,,Ne, lass mal."
Bereit, mich an die Arbeit zu machen, startete ich den Computer. Dreißig Menschen waren mir zugewiesen. Die verstorbene Schreiberin musste einen Haufen zu tun gehabt haben, wenn sie jeden Tag für dreißig Personen mehrere Träume erstellen musste. Nun hatte ich all die lästigen Menschen am Hals.

Der einzige Unterschied: Ich achtete nicht auf die Leben meiner Menschen, ihre psychische Verfassung oder ihren Erlebnissen und was sie alles zu verarbeiten hatten. Das würde mir zu viel Zeit kosten. Kein Grund, alle Akten durchzugehen. Ich erkannte durch einen kurzen Blick auf ihre Bilder, was für Personen sie waren und wusste genau, was sie gerade brauchten. Das nannte man Menschenkenntnis. Vermutlich war ich ein Naturtalent.

Zum Beispiel Saylor Winston, die achtzehnjährige Oberschülerin. Ich sah ihr sofort an, dass sie eine Frohnatur war. Mit ihrer dunklen, lockigen Mähne sah sie aus wie eine energiegeladene und schwungvolle Person. Ihre großen, braunen Augen waren umrundet von dicken, schwarzen Wimpern. Sie wirkten voller Leben und Farbe, voller Fantasie und Temperament. Ihre vollen Lippen hingen aber reglos und ohne jeglichen Ausdruck da. Kein Lächeln. So fröhlich schien sie auf dem Bild nicht zu sein. Das machte aber nichts aus. Von Keon hatte ich nämlich gehört, dass Menschen auf ihren Bildern gezwungen wurden, nicht die leiseste Miene zu machen. Passfoto nannte man es. Komischer Name.
,,Hm, was erstelle ich ihr heute?", grübelte ich vor mich hin.

Keon, der alte Kollege, beugte sich mit seinem Bierbauch so weit wie möglich zu mir herüber. Er verengte die Augen und bemühte sich, etwas zu erkennen.
,,Lass sie einfach von der Schule träumen. Das ist das, was Holly immer mit der Künstlerin gemacht hat", riet er mir.
Schule? Auf gar keinen Fall. Sollte der Tag kommen, an dem ich über Schule schreiben sollte, so möge mein Name nicht mehr Zoran heißen. Angewidert drückte ich Keon zurück auf seinen Platz und sagte: ,,Sie geht sowieso jeden Tag zur Schule, warum sollte sie auch Nachts davon träumen? Das wäre Folter."
Mir fiel auch genau das Richtige ein, um ihren eingeengten Geist ein wenig aufzulockern. Und um meine Langeweile einzudämmen.

***

Das feuchte Moos umschmeichelte meine Füße und hüllte mich ein in ihre angenehme Kühle. Das unaufhörliche Vogelgezwitscher wurde übertönt von einem monumentalen Rauschen, das meine Ohren von allen Seiten durchflutete. Mehrere starke Ströme flossen durch den Ort. Die vielen Wasserfälle taten sich zusammen wie in einem Orchester und ihr lautes Rauschen wurde zu einer entspannenden Melodie.

Eine leichte Brise fuhr durch die Blätter. Egal wo ich hinsah, überall war Grün vorzufinden. Es wucherte nur so von Büschen, Sträuchern, hohen Gräsern und weiteren Pflanzen, die ich nicht zuordnen konnte. Der Wind wehte durch sie alle durch und sie bewegten sich allesamt im Einklang mit dem Rauschen des unkontrollierbaren Wassers, als würde die Natur einen Tanz aufführen. Wenn ich mir so die Massen an Wasser ansah, die herunter rauschten und schaumige Wellen erzeugten, dann packte mich die Angst, darin unterzugehen. Mir kam das Gefühl, als würden diese Ströme nur danach dürsten, mich in sie hineinzuziehen und nie mehr hinauszulassen. Ein unheimliches Gefühl. Ein friedlich, unheimliches Gefühl.

Obwohl der Ort mich leicht beängstigte, war ich dennoch eins mit ihm. Frieden. Fühlte sich so Frieden an? Langsam ging ich in dem Wald umher. Ich reckte meinen Kopf, um zum blauen Himmel hinaufsehen zu können. Jedoch war alles, was ich sehen konnte, nur grün.

Die Bäume reichten so weit hinauf, dass die Baumkronen den Himmel bedeckten. Dennoch bahnten sich einige Lichtstrahlen durch das Gestrüpp den Weg hinein in den Wald und erleuchteten ihn.

Je weiter ich ging und je genauer ich hinsah, desto mehr mit Moos bewachsene Treppenstufen waren zwischen den Wasserfällen zu erkennen. Ich konnte nicht sehen, wo sie hinführten und wie weit sie hinaufgingen. Sie fingen an verschiedenen Orten an und verschwanden im Grün.

Außer mir war keine einzige Person weit und breit zu sehen. Nur die Vögel leisteten mir Gesellschaft, obwohl ich lediglich ihre gedämpften Gesänge hören konnte.
Nach einiger Zeit nahm ich mir vor, eine der Treppen zu besteigen. Mich wunderte es, wohin sie führten. Zielstrebig ging ich auf die Stufen zu, die mir am nächsten lagen. Kaum hatte ich die alten, morschen Stufen erreicht, flüsterte eine kratzbürstige Stimme: ,,Setze keinen Fuß darauf. Gehst du einmal dort hinauf, kommst du nie wieder herunter."

Mein Herz machte einen Sprung, als ich diese sinistrere Stimme hörte. Sie war hauchdünn und finster, dennoch hörte ich sie klar und deutlich bei dem lauten Rauschen.
Beängstigt sah ich mich um, fand aber niemanden vor. Ich konnte nicht zuordnen, von welcher Richtung die Stimme gekommen war. Mein Herz pochte mir bis zum Hals.

All meinen Mut zusammenkratzend fragte ich: ,,Wohin führen sie denn?"
Das geisterhafte Gefühl, dass jemand unmittelbar in meiner Nähe war, ich die Person aber nicht sehen konnte, schlich sich in mich hinein. Ich konnte sie fühlen. Diese Präsenz. Diese Schwingungen? Sie war jedoch nicht zu fassen. So nah und doch so weit weg.

,,Das wissen nur diejenigen, die hinauf gegangen sind. Fragen kannst du sie nicht", antwortete die Stimme.
Sie klang so unrein und hintergründig, dass ich sie nie wieder hören wollte. Ehrlich gesagt wollte ich auch nicht wissen, wie die Person aussah. Die Furcht, dass das, was ich sehen würde, mir nicht gefallen könnte, war viel zu groß.

Oder konnte es sein-
Sprach etwa der Wald mit mir?
,,Hey!"
Ich fuhr herum, als plötzlich jemand an meine Schulter tippte. So schreckhaft war ich normalerweise nicht, jedoch hatte mich dieser kühle Finger so unerwartet berührt, dass ich erschrocken zurücktaumelte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich der Person entgegen, die so urplötzlich hinter mir aufgetaucht war. Ich hatte ihre Schritte kaum gehört, nicht einmal gespürt, dass sie sich annäherte.

Als ich dieser Person ins Gesicht sah, wich aller Schreck aus meiner Miene und verwandelte sich in einen überraschten, ekstatischen und überrumpelten Gesichtsausdruck. Schwärmerisch prüfte ich die Person. Ich betrachtete jedes ihrer Gesichtszüge so akribisch, als wollte ich mir ihr Gesicht für immer und ewig einprägen.

Ihre hellbraune Haut strahlte im Sonnenlicht bräunlich golden auf. Sie sah aus wie eine Person gegossen aus purem Gold. Zu wertvoll, um echt zu sein.
Ihre dunklen Locken umrandeten ihr schmales Gesicht. Diese großen Augen starrten mich lieblich an. Mir war, als würde sie mich mit einer genauso großen Obsession betrachten wie ich sie. Ihre blutroten Augen sahen konzentriert aus.

Mich wunderten ihre Augen nicht im geringsten. Worauf ich achtete, war ihre Haut. An ihrer Wange und Stirn zierten rosa violette Blüten und lauter kleiner Blätter in hellgrünen Tönen. Der blaue Himmel war ebenfalls auf ihrer Haut abgebildet, als hätte man die Frau als Leinwand benutzt und ein lebendiges Gemälde aus ihr gemacht. Oder als wäre sie verschmolzen mit einem Stück Wald. Die Bemalungen mit den warmen Farben zogen sich an ihrem Hals entlang.

,,Wie kann so eine Schönheit solch eine grässliche Stimme haben?", murmelte ich vor mich hin, ohne es zu bemerken.
Sie überhörte dies, lachte aber nur darüber. Ihre vollen, rötlichen Lippen weiteten sich und gaben die strahlenden Zähne preis. Das Kunstwerk kam näher. Geistesabwesend stand ich vor ihr, wie gelähmt von dem Anblick. Für einen Moment hatte ich vergessen, wie man sich bewegte.

Sie blieb vor mir stehen und sah hinunter. Ich folgte ihrem verträumten Blick. Sie sah auf ihre Hände. Zwischen ihnen lag eine rötlich schimmernde Kugel. Ich wusste nicht, was rötlicher glänzte. Ihre Augen oder die Kugel? Sie strahlte eine gewisse Energie aus. Eine immense Energie. Sie löste ein Kribbeln auf meiner Haut aus und allein der Anblick der Kugel stach in meinen Augen.

Die Frau sah leicht wehmütig auf die Kugel herab. Ihre Augen wurden schlaff, ihr Lächeln entwich.
,,Willst du sie mal halten?", fragte sie mich mit ihrer rauen Stimme.
Ich hatte mich immer noch nicht daran gewöhnt, dass solch eine Stimme und solch eine Person zusammenpassten. Die Klänge, die aus ihrem Mund kamen, überraschten mich immer wieder.

,,Was ist das?", wollte ich wissen.
Sie hielt mir die Kugel hin und sah mich auffordernd an. Ihre langen Finger umwickelten die Kugel sicher und hielten sie, als wäre sie der kostbarste Schatz auf Erden. Obwohl sie mir die Kugel anbot, wirkte sie traurig darüber, sie loslassen zu müssen.
,,Sieh selbst."

Zögerlich streckte ich meine blassen Hände aus und fragte mich, wie ich so etwas überhaupt halten sollte. Es war nichts festes, nichts flüssiges. Es war nur eine leuchtende Erscheinung. Ein Scheinbild? So etwas wie Lichtstrahlen? Energie? Konnte man Energie sehen?
Sie gab es mir behutsam in die Hände, sah dabei aber melancholisch aus. Kaum hatte ich die Kugel in den Händen, entschwand der rote Schein ihrer Augen. Sie gingen über in ein dunkles Braun, so wie meine Augen waren.

Das war nicht das einzige, das sich veränderte. Ich bekam eine Gänsehaut, als ich meine Umgebung näher betrachtete. Aus den reißenden Strömen ragten mehreren Köpfe heraus. Blonde Köpfe, braune Köpfe, auch rote Köpfe. Eine schöner als die andere, reihten sich mehrere von ihnen im Wasser auf. Sie lachten, sie sprachen, sie schwammen und sprangen auf und ab im Wasser wie Delfine. Ich staunte, als ich die schimmernden Fischschwänze sah.
Als wäre dieser Schock nicht genug, schwirrten überall in der Luft kleine, bunte Wesen umher. Sie sausten so schnell an mir vorbei, dass ich sie nicht genau erblicken konnte. Das Flattern ihrer kleinen Flügel hörte ich allzu gut. Sie leuchteten auf wie Glühwürmchen.

Mit einem Mal füllte sich der leere, seelenlose Wald mit lauter Leben. In den Büschen hier und da rauschte es und kleine Köpfe lugten hervor. Regsame Musik wurde gespielt, aber ich wusste nicht, woher sie kam. Die Wesen schwirrten in der Luft herum, als würden sie ein Tänzchen aufführen.
Und die Frau? Ihre Freude entwich ihrem Gesicht immer mehr und mehr. Je erstaunter ich durch den Anblick wurde, desto trauriger wurde sie. Sie stand im Nichts.

Ich hatte ihr das genommen, was ihr am meisten Freude bereitete. Ihre Beklommenheit war ihr deutlich anzusehen. Jegliche Farbe war ihr aus dem Gesicht gewichen und mit jeder Sekunde wurde sie älter, schwächer und zerbrechlicher. Ich hatte ihr ihre Welt genommen.
Der Impuls, ihr die Kugel sofort wiederzugeben, wurde immer stärker. Ich tat es nicht. Ich wollte mir das Wunder weiterhin ansehen. Ich wollte mir das Farbenspiel ansehen. Die melodische Musik hören, die ich so noch nie gehört hatte. Ich wollte das Lachen hören, das Planschen der Nixen. Ich wollte die Feen tanzen sehen, ich wollte sie leuchten sehen.

Noch eine Sekunde. Nur noch eine einzige Sekunde. Ich sehnte mich danach, in diese Welt einzutauchen und nie mehr herauszukommen. Noch eine weitere Sekunde und ich würde die Kugel der Frau zurückgeben. Nur noch kurz die Energie spüren, die durch mich rauschte und meinen ganzen Körper betäubte.

Nicht mehr lange. Gerade als ich Anstalten machte, die Kugel herzugeben, verwehte die bildschöne Frau zu Staub. Mir gefror das Blut in den Adern, als ich sah, wie sie sich von unten bis oben Stück für Stück auflöste und ihr majestätischer Körper in graue Asche überging. Zuletzt sah ich ihr bitteres Gesicht und ihre schmerzerfüllte Miene, bevor auch ihr mystisches Gesicht davon wehte, getragen vom Wind.

Voller Entsetzen ließ ich die Kugel fallen und die Welt um mir herum verschwand. Sie kam mir nun viel trüber vor als anfangs. Viel leerer als sie eigentlich war. Viel grauer, viel einsamer. Der Frieden, den ich anfangs gespürt hatte, war verschwunden. Ich war nicht mehr eins mit der Natur. Der Ort fühlte sich falsch an. Meine Existenz fühlte sich falsch an.
Alles war falsch, nicht mehr dasselbe.
Langsam, aber sicher spürte auch ich, wie das Ende sich näherte. Meine ganze Lebensenergie war aufgebraucht für nur einige Minuten in einer ganz anderen Welt auf einer ganz anderen Ebene.
Der Wind. Er wehte durch mich durch. Er wehte mit mir hinfort.

,,Tag fünf meiner bizarren Träume", seufzte ich, während ich mir durch meine wirren Haare fuhr.
Ich war gerade erst aufgewacht. Es hatte sich jedoch für mich angefühlt, als wäre ich in einer anderen Welt gestorben, um in dieser weiterleben zu können. Wie konnte ein Traum so detailliert sein? Wie konnte ein Traum solch einen Sinn ergeben? Er hatte eine deutliche Abfolge wie in einem Film oder einer Geschichte. Für einen Moment fühlte ich mich wie die Hauptdarstellerin in einem Fantasy-Roman. Seit mehreren Tagen ließen mir diese Träume keine Ruhe, als hätte meine kleine Schwester mich angesteckt mit ihrem Wahnsinn.

So inspiriert hatte ich mich lange nicht mehr gefühlt. Ohne Umschweife griff ich nach Pinsel und Farben. Diesen Traum musste ich so schnell wie möglich aufmalen, solange er noch präsent war. Ich konnte die Energie, die mich in dem Traum ergriffen hatte, noch deutlich spüren. Solange dieses Gefühl anhielt, wollte ich ihn auf Papier bringen.

Danach konnte ich das Gemälde neben die anderen stellen, wo es vermutlich auf ewig verkümmern würde. Seit ich angefangen habe, solchen Irrsinn zu träumen, malte ich es jeden Tag auf. Diese Träume hatten sich förmlich zu meiner Inspirationsquelle entwickelt. Als ich mir gedacht hatte, dass einer Künstlerin nichts besseres passieren konnte, als, dass sie den Verstand verlor, hätte ich niemals geglaubt, dass es wahr werden würde. Diese Träume raubten mir Nachts oft den Schlaf, wenn ich über sie nachdachte. Tagsüber störten sie meine Konzentration. Und doch bin ich noch nie zufriedener mit meinen Werken gewesen. Mein Vater freute sich eher nicht über meine schöpferische Phase.

Ich zitiere: ,,Diese Bilder bringen dir auch kein Geld ein. Wenn sie wenigstens etwas nützen würden, dann würde ich ja nichts sagen. Konzentrier dich lieber auf deine Schule. Wenn du später Erwachsen bist, was willst du dann essen? Deine Gemälde?"

Und vieles weiteres dergleichen. Ich konnte nicht drum herum, mir vorzustellen, wie es aussehen müsste, wenn jemand ein Gemälde aß. Meine Zukunft konnte ich mir gut unter einer Brücke vorstellen, während ich ein Steak auf ein Stück Papier malte, um es mir danach mehr oder weniger genüsslich in den Mund zu stopfen.
Die Worte meines Vaters nahm ich mir nicht allzu sehr zu Herzen. Ich wusste, was ich tat und um meinen Schulkram kümmerte ich mich selbst. Schließlich machte ich mir bereits genug Stress. Von meinen Eltern brauchte ich nicht zusätzlich Druck obendrauf. Sie waren beide leidenschaftslose Hüllen und konnten nicht nachvollziehen, wie ich mich fühlte und warum ich tat, was ich tat.

Die Mühe, es ihnen zu erklären, wollte ich mir gar nicht erst machen. Das wäre Zeitverschwendung. Wenigstens blieb mir meine Schwester, die mich verstand. Dieses Gemälde malte ich für sie. Die Frau mit der Kugel, der Wald mit den Treppen und die Wesen, die wir nicht sehen können. Ich malte den glücklichen Gesichtsausdruck der Frau. Den Moment, an dem sie ihre Welt in ihren Händen hielt.

Aber wie konnte ich so genau von dieser Frau geträumt haben? Ich habe sie noch nie zuvor gesehen und wenn doch, dann hätte ich ihr Gesicht sicherlich nicht vergessen.

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