🌊Der Stern des Meeres🌊*Watt...

By Thyrala

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1601: "Die See ist nichts für Feiglinge!" - Lorena bekommt nichts geschenkt, aber das macht sie stark. Sie be... More

Personenverzeichnis
Vorwort
Schiffbruch
Gestrandet
Ein neues Leben
Gefährliche Wattwelt
Das Gold der Uthlande
Der Blanke Hans
Schicksal
Der Gast
Eilien
Unterricht
Matt
Der Luftgeist
Absturz
Zehn Tage
Die Strafe
Aussprache / Amrum
Freunde
Strandjer
Pläne
Ein Geheimnis
Abschied
Sehnsucht
Bleiben oder gehen
Hindernisse
Abfahrt
Leinen los!
Von Bilge und Back
Der Quartiermeister
Von Gesangbuch und Knoten
Hoch hinaus
Gegenwind
Der Teufel an Bord
Die schwarze Liste
Durchhalten
Der Geist
Kräftemessen
Waffenstillstand
Atempause
Rivalen
In geheimer Mission
Der Schwur
Von Kanonen und Schwarzpulver I
Von Kanonen und Schwarzpulver II
Mann gegen Mann
Gerrit
Türkisblau
Hitze
Vorzeichen
Im Auge des Sturms I
Im Auge des Sturms II
Der neue Navigator
Konfrontation
Nichts als die Wahrheit
Feuer und Rauch

Drill und Seepest

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By Thyrala

Der Passat trieb die Zeelandia weiterhin unermüdlich voran; mit geblähten Segeln, Vogelschwingen gleich, pflügte das Schiff durch die See.

Ebenso unermüdlich ließ Thorsson verschiedene Übungen abhalten; innerhalb kürzester Zeit mussten die Befehle ausgeführt sein, denn bei einem Gefecht oder Unwetter konnten selbst kleine Zeitverluste viele Leben kosten. So trainierten die Matrosen Wenden und Halsen, jagten die Wanten hoch und herunter, refften Segel aus- und wieder ein, wischten, stopften und rannten die Kanonen aus- und wieder ein, sie schwitzten, fluchten und rackerten ... auf allen Decks wie auch im Rigg herrschte Hochbetrieb. Vom Moses bis zum Bootsmann war jedermann auf seinem Posten im Einsatz, und für den Fall, wenn jemand die ungewohnt straffe Disziplin noch nicht ganz verinnerlicht hatte, half Cornelis mit der Katze nach.

Lorena bekam eine Ahnung davon, wie es auf einem echten Kriegsschiff zugehen musste, und war heimlich stolz auf sich, wie sie diesem Drill standhielt, ohne zusammenzubrechen. Die über Jahre hindurch erworbene Zähigkeit im Schlicklaufen kam ihr hier zugute sowie die besondere Kameradschaft, die sich innerhalb der Mannschaft allmählich zu entwickeln begann. Die Begeisterung, die Bakkers Rede entfacht hatte, war aufs Neue erwacht; alle legten sich mächtig ins Zeug und zogen an einem Strang, getreu dem Schwur: Wir sind die Löwen der See! Der Profos musste sich überflüssig vorkommen.

Um Fenja machte sie sich keine Sorgen mehr. Bei der nächstbesten Gelegenheit hatte sie sich davongestohlen, um sich zu vergewissern, wie das Huhn den ohrenbetäubenden Kanonendonner und das übrige Getöse wohl überstanden haben mochte. Zuerst schien ihre Befürchtung, es völlig verschreckt vorzufinden, wahr zu werden - Fenja kauerte so still in einer Käfigecke, als hätte man sie ausgestopft. Behutsam hatte sie das Tier herausgeholt, auf den Schoß gesetzt, es sanft gestreichelt und im ruhigen Tonfall geflüstert: „Gaanz ruhig ... es ist alles in Ordnung ... hab' keine Angst."

Fenja blieb zunächst ungewöhnlich still, bis sich ihre Erstarrung langsam gelöst hatte und sie anfing, in schneller Folge abgehackte Laute auszustoßen - es klang wie „Was habt ihr euch eigentlich dabei gedacht? Einen solchen Heidenlärm zu veranstalten?", doch durch fortgesetztes Streicheln und Zureden „Es geht nicht anders, wir müssen üben, das ist ganz, ganz wichtig", beruhigte sie sich allmählich und schien zu verstehen. Ihr Gegacker verlor das Schrille und ging in ein behagliches Glucksen über. Zuletzt flog sie ein paar Runden, bevor sie sich niedersetzte und das Futter aus Lorenas Hand pickte. Von dem Stampfen und Rumpeln über ihnen ließ sie sich nicht mehr stören. Lorena war ein Stein vom Herzen gefallen und eine weitere Sorge los: wähnten sich Hühner nämlich in Lebensgefahr, stießen sie gellende Schreie aus. Dieser durchdringende Ton wäre bestimmt nicht ungehört geblieben, und dann ... dann ... nein, das wollte sie sich lieber nicht ausmalen!

Nunmehr konnte sie sich ganz auf das Geschütz-, Segel- und Kampftraining konzentrieren. Heute Vormittag hatte sie sich wie befohlen am Treffpunkt vor dem Großmast eingefunden und wartete; noch war sie allein. Gleich war die Bären-Back an der Reihe, hierbei hatte es Gerrit übernommen, die einzelnen Backschaften anzuleiten. Sie freute sich schon darauf, auch wenn es ihr noch mehr blaue Flecken bescheren würde. Gerrit gab sich stets besondere Mühe mit ihr, was allerdings zur Folge hatte, dass sie allerlei einstecken musste; im Gegenzug aber lernte sie jedes Mal dazu. Hauke hatte sich wenig darum geschert, wieviel sie verkraften konnte; das hatte sie gelehrt, stur auszuhalten und weiterzumachen, das half ihr jetzt. Doch gestern hätte Gerrit sie beinahe durchschaut. Wegen einer Lappalie ...

Sie hatte ungünstig im Wind gestanden, ständig waren ihr die Haare vor der Nase herumgetanzt und drohten gar ihr „Bärtchen" zu verwischen. Gerrit hätte über ihre schnelle Rasur nicht schlecht gestaunt! Schnell hatte sie die Situation und ihr „Bärtchen" zu retten versucht, indem sie die flatternden Strähnen immer wieder zur Seite pustete, bis Gerrit schließlich geraunzt hatte „Was schnaubst du wie ein Pferd? Mach's so wie ich, bind' dir ein Stirnband um, das ist praktischer!" Rasch war sie seinem Rat gefolgt und hatte sich das Halstuch um den Kopf gewickelt. Ihr Geheimnis blieb so gewahrt.

Und das alles nur, weil sie nicht mehr aussehen wollte wie ein Schiffsjunge. Seit einiger Zeit ließ sie sich das Haar wachsen, aber noch langte es nicht für einen straffen Zopf, wie ihn die meisten Seeleute trugen. Bei ihr hatte der Wind leichtes Spiel, und manchmal fühlte es sich an wie eine Backpfeife von Joris. Sie musste höllisch aufpassen, dass Gerrit ihr nicht zu nahekam und danebengriff wie Ove. Zum Glück hatte er nicht soviel Zeit und sie konnte mit ihren Freunden an einem anderen freien Platz weitertrainieren. Der Bereich vor dem Großmast blieb für die Übungen vorbehalten.

Gerrit ... wo steckt er überhaupt? Sie ließ die Blicke schweifen und sah ihn schließlich auf dem Achterdeck. Er schien sich mit Thorsson zu beraten, und das ziemlich gesten- und wortreich. Ob sie eine Strategie austüftelten? Vielleicht funktionierte das, was er eine militärische Formation nannte, auch auf hoher See?

Eines nach dem anderen, dachte sie und rückte das Stirnband zurecht, bis es fest genug saß. Mochte sich der Wind woanders austoben!


Mit der Dauer der Fahrt und der zunehmenden Wärme zeigte sich ein gravierendes Problem - das Essen wurde schlechter. Genauer: lebendig. Es krabbelte und wieselte überall. War es schon zur Gewohnheit geworden, den Zwieback vorher einzuweichen, weil man sich sonst einen Zahn ausbiss, so musste man ihn jetzt wegen der Maden und Käfer, die sich darin häuslich niedergelassen hatten, kräftig ausklopfen. Lorenas Backsdienst geriet zur Käferjagd; während Joris ihren Eifer und die saubere Back lobte, wussten es Roluf und Janko besser: in Wahrheit sammelte sie die Krabbeltiere als Leckerbissen für Fenja wie auch für die übrigen Bordhühner ein.

Besonders die ersten Male bei Tisch mit dieser Plage im Brei, im Fleisch, im Eintopf, waren für Lorena ein Graus. Rix gab sich zwar redlich Mühe, vor der Zubereitung soviel Ungeziefer wie möglich zu entfernen, das half aber nur bedingt.

„Nehmen wir einfach an, es wäre eine zusätzliche Fleischbeilage", bemerkte Sjard und klaubte achselzuckend einige Käfer aus dem Erbsenbrei. Beim Rest sah er nicht mehr so genau hin.

Ove ließ sich nicht die Laune verderben. „Bei diesem Sonnenschein sind die Tierchen eben voller Lebensfreude, so wie wir!", witzelte er und stupste mit dem Fingernagel ein Würmchen über den Tellerrand. Es kroch eiligst davon und versteckte sich im nächsten Zwiebackbrösel. „Kräftiges Kerlchen. Hat die Kocherei irgendwie überlebt", sinnierte er. „Oder es ist gerade 'reingeplumpst."

Lorena fand das nicht so spaßig und pickte die Maden lieber aus ihrer Portion heraus, bevor ehe sie den Löffel zum Mund führte. Das tat sie Bissen für Bissen.

„Immerhin hast du so noch mehr für Fenja übrig", meinte Janko. „Vielleicht mag sie die auch mit Erbsengeschmack?" Sein vergnügtes Blitzen in den Augen veranlasste sie, ihm unter dem Tisch einen ordentlichen Tritt gegen das Schienbein zu verpassen. Sich auch noch über sie lustig zu machen!

„Auf wochenlangen Seereisen vermehren sich die kleinen Viecher wie irre und machen es sich im Proviant gemütlich, das ist normal, daran stirbt man nicht. Mach einfach die Augen zu und hinein damit!", sagte Roluf, nahm einen Mundvoll Brei und schluckte alles in einem Schwung hinunter. „Sowas hab ich schon oft gegessen und lebe noch, wie du siehst", fügte er launig hinzu. „Beim Schinken, Salzfleisch und Stockfisch kannst du getrost zulangen, an Salz gehen die nämlich nicht dran."

„Wenn du es sagst", gab sie zurück und seufzte. „Bin nur dieses Gewusel nicht gewöhnt." Sie gab sich einen Ruck und aß schneller, dabei bemüht, mit der Zunge nicht allzu genau erforschen, was sie da im Mund hatte. Es schmeckte jedenfalls eigenartig - ein bisschen bitter, nach Nüssen etwa oder nach einem besonderen Gewürz.

Fleischbeilage.

Mit einem Anflug von Neid verfolgte sie, wie Joris, tief über seinen Teller gebeugt, das Essen in sich hineinschaufelte. Sein Appetit schien ungebrochen zu sein. Weder hatte er sich an ihrer Unterhaltung beteiligt noch an ihr Gebaren wegen des Ungeziefers gestört. Vielleicht war es ihm gleichgültig, vielleicht amüsierte er sich auch heimlich über sie?

Mit ihrem Widerwillen gegen die „Fleischbeilage" stand sie aber nicht allein. Neuerdings zogen es etliche Matrosen vor, die Mahlzeiten in einer dunklen Ecke oder bei Einbruch der Dämmerung einzunehmen. Das war ihr eine Genugtuung - selbst für die See-Erfahrenen war die Kost also gewöhnungsbedürftig.

Und doch war die schlechte Nahrung nur das kleinere Übel; es gab ein noch weiteres, viel ernsteres Problem, das sich durch eine Begleiterscheinung andeutete, die Roluf Dünnpfiff nannte: die Seemannskrankheit. Sie griff immer schneller um sich, und manchmal wehte ihr ein Gestank voraus, der nach Tod roch.

Immer häufiger litten die Matrosen an Durchfall oder Verstopfung. Solcherlei kam auf See oftmals vor, und an sich war das kein Grund zur Beunruhigung - wenn es nicht allzu lange anhielt.

Die Ursache dieses Übels war das Trinkwasser. Es gärte in den Fässern vor sich hin und vergammelte. Zwar hatten die enormen Regenmengen des letzten Unwetters für frischen Wasservorrat gesorgt, doch mittlerweile hatten sich Algen in den Fässern gebildet und jetzt schmeckte es nach fauligem Schleim. Die eine Möglichkeit war, das Wasser durch ein vorgehaltenes Tuch zu schlürfen und dabei nicht zu atmen, die andere, die Algen mit den Zähnen auszufiltern, wie es die Hartgesottenen vormachten.

Tapfer versuchte Lorena, beim Trinken an eine Gemüsebrühe zu denken und sich im Übrigen damit abzufinden, dass es ebenfalls zur ganz normalen Seemannskost gehörte ... es war immerhin noch besser als zu verhungern oder zu verdursten.

So blieb nur die Hoffnung auf einen ordentlichen Regenschauer, der diesen Notstand schlagartig beenden würde. Doch danach sah es zuerst einmal nicht aus - eine Wolke nach der anderen löste sich auf und machte einem tiefen Himmelsblau Platz.

Eines Mittags gab es zum üblichen Pökelfleisch ein neuartiges Gemüse. Verwundert starrte Lorena in die Schüssel, die ihr Rix in die Hand gedrückt hatte. Diesmal gab es keine Gerstengrütze oder Erbsenbrei, sondern Mus mit kleinen weißen Erbsen und Kräutern obenauf. Das Beste aber war, dass nichts darin krabbelte oder ringelte!

Heute zitterten ihre Hände, hoffentlich zerbrach sie kein Geschirr. Der Morgen war schon ziemlich angefüllt gewesen, mit Deckschrubben in aller Frühe, danach mit Backbrassen, Aufschießen, Anluven, Abfallen, was Tauziehen ohne Ende bedeutete, bis sich die Segel in die jeweilige Fahrtrichtung gedreht hatten. Da war ihr fast das Geschützexerzieren lieber - ein paar Handgriffe, und die Kanone war feuerbereit. Allerdings durfte beim Scharfschießen mit dem Pulver nichts schiefgehen, sonst gab es eine Feuerpause, und zwar eine ewige.

Jetzt noch der Backsdienst ...

Rix grinste sie an. Er schien sich köstlich über sie zu amüsieren; wahrscheinlich hatte sie gerade ein großes Fragezeichen im Gesicht. „Ja, das ist mal etwas anderes als gekochte Bohnen, nicht wahr?", sagte er und fügte hinzu: „Wenn du gleich aufbackst, bestell' den anderen einen schönen Gruß vom Shipdoctor und sag ihnen, auf seine Anweisung hin gibt es das ab sofort zu jeder Mahlzeit." Er wischte sich mit dem Halstuch den Schweiß vom Gesicht. In der Kombüse war es seit Tagen unerträglich stickig, und das lag nicht nur am Kochfeuer.

„Zu jedem Essen?", wiederholte sie.

„Zu jedem Essen!", bekräftigte er.

„Soso." Sie nahm eine Fingerspitze voll und probierte. Es schmeckte scharf, ein wenig herb. „Nicht übel", befand sie, „diesen Geschmack kenn' ich doch ... was sind das für Erbsen? Oder sind's Körner?"

„Es sind Brutknöllchen, also die Samen vom Löffelkraut. Diese Pflanze hat löffelartige Blätter und weiße Blüten, sie duften ein bisschen nach Honig."

„Ah, ich hatte recht ... dieses Gewächs hatten wir hinterm Haus! Es gedeiht gut im salzhaltigen Boden. Wir nahmen nur die Blätter, entweder für den Salat oder zum Würzen. Man muss sie aber im Frühjahr ernten, noch vor der Blüte, sonst werden sie giftig."

„Es sei denn, man legt die Blätter in Salz ein", entgegnete er. „So halten sie sich frisch und das Gift verliert sich dann. Die Brutknöllchen werden zusammen mit den Wurzeln geerntet und gekocht, das ergibt ein feines, sehr gesundes Gemüse." Er warf einen vielsagenden Blick auf die Schüssel in ihrer Hand.

„Na, wenn das Löffelkrautgemüse so gesund ist - warum bekamen wir das nicht schon früher zu essen?", fragte sie scharf. Es war nicht zu fassen - sie quälten sich den Fraß hinein, obwohl andere, viel bessere Kost zur Verfügung stand!

Rix presste die Lippen zusammen, als fühlte er sich getroffen, ballte eine Faust, wie um sie für ihre Aufmüpfigkeit zu bestrafen ... doch dann besann er sich. „Ruder' mal flott zurück, Jung' ... dafür gibt es einen guten Grund! Man darf niemals das Pulver zu früh verschießen, merk' dir das!"

Sie entschuldigte sich sofort. Sein Unmut war verständlich, er befand sich in einer schwierigen Lage und sie musste ihm auch noch den Finger in die Wunde legen!

„Schon gut", sagte er daraufhin, „das konntest du ja nicht wissen ... also: bisher haben wir das Löffelkraut als Reserve zurückbehalten, aber nun hat der Shipdoctor entschieden, dass es an der Zeit ist. Er sorgt sich wegen des brackigen Trinkwassers und des vielen Ungeziefers, und selbst das Salzfleisch kann rascher verderben, falls es nicht ganz frisch eingekauft wurde, denn leider weiß man das nie so genau. Es gibt Händler ohne Ehre und Gewissen, die einfach Restbestände verhökern, welche schon einmal den Atlantik überquert hatten. Nun weiter ... kurz und gut, er befürchtet gar die Möglichkeit einer Epidemie. ‚Gib dem Schiffsvolk täglich Löffelkraut, das stärkt die Gesundheit', hat er mir eingeschärft. Und dann sagte er noch, frühere Expeditionen hätten bewiesen, dass die Matrosen dank des Löffelkrauts vom Scharbock und anderen Krankheiten verschont geblieben seien. Bereits die Wikinger sollen die Brutknöllchen als Reiseproviant mitgenommen haben."

Sie war verblüfft. „Ach, so ist das ... sogar die Wikinger ... woher weiß er soviel?"

Er zuckte die Achseln. „Na, das weiß unser kluger Doktor bestimmt aus seinen Büchern, und das ist als Lob gemeint. Bisher hat er sich um unsere Leute gut gekümmert. Wenn jemand den Scharbock verhindern kann, dann er."

Der Shipdoctor und seine Bücher ... Überall in seiner Kabine lagen sie herum, sogar auf dem Boden, kreuz und quer gestapelt, mit Lesezeichen zwischen den Blättern, alles Zeugnisse seiner Gelehrsamkeit. Er besaß nicht nur angelesenes Wissen, sondern auch geschickte Hände, da brauchte sie nur Gerrit zu fragen. Von Tag zu Tag machte ihm die durchstochene Hand weniger Probleme. Ja, dem Shipdoctor konnte man vertrauen. Und dann der Scharbock ... allein dieses Wort klang hässlich, und es schien noch etwas viel Bösartigeres anzudeuten. 

„Um was genau handelt es sich bei dem Scharbock?", erkundigte sie sich.

Seine Miene verzog sich zu einer Maske des Abscheus. „Na, man sagt auch Seepest oder Skorbut dazu - das sind alles verschiedene Namen für dieselbe Seuche, die oft auf langen Seereisen auftritt, wahrscheinlich aufgrund des verdorbenen Proviants oder fauligen Trinkwassers, oder alles zusammengenommen. Den Ausbruch des Scharbocks habe ich selbst letztens auf einer Ostindienfahrt erlebt. Es war grausam, kann ich dir sagen! Das Zahnfleisch entzündet sich, schwillt an, blutet, man muss es mit Pisse ausspülen - ja, da guckst du, was? - aber das ist die übliche Prozedur gegen die Mundfäule. Hab trotzdem einen Zahn verloren. Des Weiteren kriegt man an unterschiedlichen Stellen Eiterbeulen, besonders übel sind die an den Füßen, so groß wie Vogeleier ... eine solche Beule hat man mir aufgeschnitten und dann die Wunde verbunden. Nach drei Tagen war's verheilt, Glück gehabt! Immerhin wurde ich wieder gesund, im Gegensatz zu den vielen Pechvögeln, die elendig krepiert waren - vorher wurden sie wahnsinnig oder blind, zuletzt konnten sie kaum noch gehen, krochen herum oder lagen auf dem Deck, zur Bewegungsunfähigkeit verdammt - glaub' mir, die höllischen Schmerzen willst du nicht haben!" Seufzend rieb er sich den kahlen Schädel. „Meine Platte hier ist ein Andenken an den Scharbock. Damals sind mir alle Haare ausgefallen."

Sie nickte betroffen. „Da hast du ja Schlimmes mitgemacht!"

Er schnaubte. „Die See ist nichts für Feiglinge, das sag' ich dir."

„Und nichts für Schwächlinge", ergänzte sie seinen Satz. Aber daneben war es auch seine Ostindienfahrt, die sie innerlich beschäftigte. Er hatte nie erwähnt, dass er um die halbe Welt gereist war. Jetzt hockte er größtenteils in der Kombüse, schien aber recht zufrieden mit seinem Los und Spaß an der Kocherei gefunden zu haben. Nichts war zerkocht, angebrannt oder lieblos zusammengerührt. Es war erstaunlich, wie er aus harten Fleischbrocken, die in einer Salzlake schwammen, ein genießbares, mitunter sogar ansehnliches Essen zauberte. Vermutlich war ihm die Pampe, die es vor seiner Zeit als Koch gegeben haben musste, immer zuwider gewesen und er handhabte es anders, wofür er oft genug von den Seeleuten gelobt wurde. Die hart arbeitenden Männer wussten nicht nur den Brandy, den Bakker von Zeit zu Zeit austeilen ließ, sondern auch schmackhafte Mahlzeiten zu schätzen. Und für das Ungeziefer konnte er ja nun wirklich nichts.

„Du warst in Ostindien gewesen?", nahm sie das Gespräch wieder auf. „So weit? Da hast du aber bestimmt viele Abenteuer erlebt."

Er winkte ab. „Das war nichts Besonderes ... ich wollte nur mal auf einem anderen Ozean als auf dem Atlantik herumschippern, Ostindien kam mir da gerade recht. Dort aber wurden wir in ein Seegefecht verwickelt, gegen Portugal. Das war vor Bantam, Java."

Sie riss die Augen auf. „Java ...?"

„Das ist eine Tropeninsel in der malaiischen See, gehört zu derselben Inselgruppe wie Borneo und Sumatra."

„Und warum das Gefecht gegen Portugal?"

„Die Portugiesen haben sich in der asiatischen Region mit Handelsstationen breitgemacht und beherrschen den Gewürzhandel. Nun wollen die Holländer aber nicht nur ein Stück vom Kuchen, sondern den ganzen! Sie setzen alles daran, die Portugiesen über kurz oder lang von dort zu vertreiben, und wenn das gelingt, ist es die VOC, die jene Gewürzroute von Ostindien nach Europa kontrolliert."

„Da haben sie aber Großes vor - ich dachte bisher, die Holländer kämpfen ausschließlich gegen Spanien."

„Portugal hat seine Unabhängigkeit verloren und ist wie die Niederlande eine spanische Provinz geworden. Ob gegen Portugal oder Spanien gekämpft wird, bleibt sich gleich."

„Ah ... falls sich die Holländer durchsetzen, sind sie auf einen Schlag von der spanischen Herrschaft befreit und machen gleichzeitig profitable Geschäfte."

„So ist es. Und nicht zu vergessen, hierdurch gewinnen sie auch die Herrschaft über die Kolonien."

„Sehr schlau." Sie konnte nicht umhin, diese Umtriebigkeit zu bewundern. Versonnen beobachtete sie, wie Rix zum Herd humpelte und das Feuer schürte. Da kam ihr ein wunderlicher Gedanke ... er war unausgegoren und diffus, aber sie sprach ihn trotzdem aus. „Sag mal ... deine Beine ... war das nicht zufällig bei dieser Seeschlacht passiert? Das war kein Unfall, nicht wahr, sondern eine Kriegsverletzung?"

Er fuhr herum.

„Warst du ein Seesoldat gewesen?", setzte sie nach.

Eine Weile erwiderte er nichts darauf, kniff die Augen zusammen und fixierte sie, dann nickte er. „Ja. Eine Kanonenkugel hatte die Takelage zerfetzt. Bin zusammen mit dem ganzen Gedöns runtergeflogen und weich auf einen Leichenhaufen gelandet."

Ihr schauderte. „Das hast du mir gar nicht erzählt!"

„Wozu? Ich wollte ein Bürschchen, das frisch von der Insel kommt, nicht gleich verschrecken. Schon der normale Seedienst ist hart genug." Dann setzte er eine verschlossene Miene auf und schwieg.

Sie drang nicht weiter in ihn. Warum grausige Erinnerungen wecken, seelische Wunden aufreißen? Vielleicht hatte er gute Kameraden verloren? Da blitzte eine schreckliche Vision in ihr auf ... sie, wie sie aus großer Höhe herabfiel und unten aufschlug - auf die toten Körper von Janko, Roluf und Ove ... Sie blinzelte heftig, um die grässlichen Bilder loszuwerden. Möge dies niemals Wirklichkeit werden!

Bantam, Java.

„Aber du scheinst so gar keine Angst vor dem Scharbock zu haben, was?", fragte Rix unvermittelt. „Du schnupperst am Löffelkraut herum und gut ist."

Sie zuckte leicht zusammen. Das stimmte. Soeben war sie noch etwas anderem auf der Spur gewesen, nun war es ihr entfallen. Ja, sie hatte den Scharbock tatsächlich vergessen! Dabei konnte er vielleicht schon morgen zu einer ernsten Bedrohung werden. „Doch, doch, der interessiert mich ganz besonders - aber du hast mich mit deiner Ostindienfahrt ganz verwirrt", sagte sie schnell. „Aber was meinst denn du? Glaubst du, dass wir krank werden? Dass ... dass es schlimm wird?"

Er machte ein unschlüssiges Gesicht, wiegte den Kopf. „Bin kein Hellseher, aber ich schätze, eher nicht ... dafür ist die Fahrt nach Westindien von zu kurzer Dauer. Doch der wochenlange Gegenwind hat uns viel Zeit gekostet, normalerweise hätten wir von den Inseln schon frisches Obst und Gemüse besorgen können. Wenn wir nun noch 'ne Flaute kriegen, die sich hinzieht, kann es übel werden, und ..." Er sprach nicht weiter. Nur seine Augen zeigten ein Entsetzen, als hätte sich vor ihm die Hölle aufgetan.

Ein lautes Knurren wie von einem Wolf durchbrach das Schweigen -

... sie räusperte sich verlegen. Es war ihr Magen gewesen, der sich gemeldet hatte.

Rix gab ihr lachend einen Klaps auf die Schulter. „Mach, dass du in die Back kommst und tüchtig futterst! Und denk dran, wenn dir das Essen nicht schmecken mag, Löffelkraut ist Medizin dagegen. Hilft auch gegen Verstopfung."

Eine Welle hob das Schiff, der Boden unter ihr schwang hin- und her, sie schwankte mit, etwas Gemüsebrei schwappte heraus und bekleckerte ihr Hemd, das sie vorhin frisch gesäubert hatte. Sie unterdrückte einen Fluch. Pass doch auf, blödes Schiff! Manchmal war es wirklich ein Kreuz mit der Zeelandia. Streckenweise machte sie regelrechte Bocksprünge, besonders, wenn sie den Bug tief in eine Welle tauchte. Seit einiger Zeit ertappte sich dabei, dass sie mit dem Schiff redete, als wäre es ein Mensch.

„Hoppla, stehst wohl nicht mehr sicher auf deinen Seebeinen, was?", fragte Rix besorgt.

„Hab nur nicht aufgepasst", versetzte sie und umklammerte die Schüssel umso fester, wandte sich ab. Beim Hinausgehen achtet sie darauf, das Gleichgewicht zu bewahren. Bloß nicht wieder ins Stolpern kommen! Nein, sie wollte ihm nichts von ihren Magenproblemen, Schwindel und sonstigen Beschwerden erzählen. Mit ihrer Gesundheit stand es derzeit nicht zum Besten. Ihre Kräfte schwanden ...

Würde sie die Erste sein, die den Scharbock bekam? Wackelten bei ihr schon bald die Zähne? Hoffentlich behielt der Shipdoctor Recht und das Löffelkraut half ihr wieder auf die Beine.

Löffelkraut, die Medizin der Seefahrer.

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