🌊Der Stern des Meeres🌊*Watt...

By Thyrala

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1601: "Die See ist nichts für Feiglinge!" - Lorena bekommt nichts geschenkt, aber das macht sie stark. Sie be... More

Personenverzeichnis
Vorwort
Schiffbruch
Gestrandet
Ein neues Leben
Gefährliche Wattwelt
Das Gold der Uthlande
Der Blanke Hans
Schicksal
Der Gast
Eilien
Unterricht
Matt
Der Luftgeist
Absturz
Zehn Tage
Die Strafe
Aussprache / Amrum
Freunde
Strandjer
Pläne
Ein Geheimnis
Abschied
Sehnsucht
Bleiben oder gehen
Hindernisse
Abfahrt
Leinen los!
Von Bilge und Back
Der Quartiermeister
Von Gesangbuch und Knoten
Hoch hinaus
Gegenwind
Der Teufel an Bord
Die schwarze Liste
Durchhalten
Der Geist
Kräftemessen
Waffenstillstand
Atempause
Rivalen
In geheimer Mission
Der Schwur
Von Kanonen und Schwarzpulver I
Von Kanonen und Schwarzpulver II
Gerrit
Drill und Seepest
Türkisblau
Hitze
Vorzeichen
Im Auge des Sturms I
Im Auge des Sturms II
Der neue Navigator
Konfrontation

Mann gegen Mann

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By Thyrala

Am frühen Morgen ließ der Quartiermeister das Deck von sämtlichen Stolperfallen wie Taurollen, Kisten und Werkzeugen freiräumen.

Anschließend befahl Thorsson „Alle Mann an Deck" und hielt vor der versammelten Mannschaft eine Ansprache. „Heute üben wir den Nahkampf, Leute! Lernt besonders von euren holländischen Kameraden, sie kennen sich darin bestens aus und - ah, hier und dort sehe ich zweifelnde Gesichter! Ihr glaubt mir nicht?" Er runzelte die Stirn, schaute die Männer nachdenklich an ... Einige sahen verlegen zur Seite.

Lorena wunderte sich gleichfalls. Warum gerade die Holländer? Aber das würde sich gleich bestimmt aufklären.

Ein grimmiges Lächeln blitzte über Thorssons Gesicht. „Doch, doch das stimmt!", versicherte er. „Ich erkläre es euch: Einst waren die Niederländer ein Volk von Kaufleuten und Händlern, dann brach der Aufstand aus und sie griffen zu den Waffen. In den ersten zwanzig Jahren mussten sie viele Niederlagen einstecken, bis sie die Kriegskunst erlernt und endlich die Spanier aus dem Land verjagt hatten. Inzwischen besitzen die Generalstaaten eine schlagkräftige Armee." Triumph schwang in seiner Stimme mit, voller Stolz reckte er das Kinn. Doch dann nahm seine Miene einen besorgten Ausdruck an. „Auf hoher See aber verfügen wir noch nicht über die nötige Kampfkraft, und das müssen wir ändern - und zwar sofort. Ihr sucht euch einen Übungspartner und trainiert Angriff und Abwehr, die Hiebe werden angetäuscht oder mit halber Kraft geführt. Fangt an!"

„Aye, aye!", brüllten die Matrosen, nun voller Feuer und Flamme, bezogen Position und begannen den Ringkampf. Es sah aus wie ein Tanz, noch ungelenk, zaghaft ... sie umkreisten einander, deuteten Schläge nur an und schauten von den Geübteren ab, wie sie agierten.

„Ihr macht das schon richtig ... nur zu, Männer, weiter so!", spornte Thorsson sie an. „Wir sind die Löwen der See!"

Daraufhin verloren sie die Unsicherheit, die Hiebe erfolgten härter und präziser. Währenddessen ging Thorsson von einem zum andern, griff hier und dort ein, unterwies, verbesserte, ließ die Übungen wiederholen und mahnte: „Vergesst niemals, dass die Spanier ausgebildete Soldaten sind, die strategisch vorgehen, während sich die Piraten wie eine wilde Hundemeute gebärden und blind zuschlagen. Falls wir geentert werden, habt ihr nur die eine Möglichkeit: Angriff! Setzt euch mit aller Kraft zur Wehr, und zwar sofort, ehe das Schiff unter euren Füßen versenkt wird."

Die Matrosen strengten sich noch mehr an; es ging ruppiger zu, rauer, wilder. Die Bewegungen wurden zielbewusster.

Es fehlte nicht mehr viel.

Die körperlichen Voraussetzungen brachten sie allein schon durch ihre Seemannsarbeit mit. Wendig, geschickt und wieselflink waren sie alle. Wer hoch in der Takelage bei Wind und Wetter herumkletterte, die Segel, schwer von Nässe, zusammenrollen und dabei das Gleichgewicht auf dem schwankenden Tau halten konnte, ohne von der Bramstenge heruntergefegt zu werden, der besaß die nötige Beweglichkeit, Schnelligkeit und Kraft. Darüber hinaus waren sie hart im Nehmen. Halb abgerissene Daumen und Leistenbrüche, geprellte Rippen, gestauchte Gelenke und Muskelschmerzen zählten nicht. Zuerst wurde die Arbeit erledigt, um den Rest mochte sich der Schiffsarzt oder Rasmus kümmern. Die Meisten von ihnen hatten bereits als Schiffsjungen angeheuert und waren allmählich zu Geschöpfen des Meeres geworden.

Die See war nichts für Schwächlinge, und schon gar nichts für Feiglinge.


Nicht alle konnten zur gleichen Zeit trainieren, dazu war der Platz an Deck zu beengt. Die Übrigen versuchten, wenigstens durch Zuschauen zu lernen; zu ihnen gehörte auch Lorena. Sie bemerkte, dass die meiste Aufmerksamkeit – wie konnte es auch anders sein - Cornelis galt, und stellte sich zu den anderen Zuschauern.

Schon bald hatte Cornelis die Holzstange beiseite geworfen und begnügte sich mit den Fäusten, die allein die Wucht von Hämmern besaßen. Er ließ sich nicht auf Wettkampf ein und machte mit dem jeweiligen Übungspartner kurzen Prozess. Immerhin achtete er darauf, seine Gegner nicht unnötig zu verletzen; sie kamen mit einigen Beulen glimpflich davon. Dann aber ging das Temperament mit ihm durch – er holte aus und verpasste seinem Kontrahenten ein blaues Auge.

Thorsson ging sofort dazwischen. „Halt! Das reicht!"

Das brachte Cornelis wieder zur Besinnung, er ließ von dem unglücklich Getroffenen ab. Thorsson stellte ihn vom Training frei und wies ihn an, er solle künftig die Übenden anleiten und dafür sorgen, dass jeder an die Reihe käme.

Eine gute Entscheidung, fand Lorena. Niemand außer Thorsson war Cornelis gewachsen. Es wäre nicht lange gutgegangen. Sie ging weiter und gewahrte, dass der Zweikampf zwischen Janko und Ove gleichfalls viel Interesse geweckt hatte. Beim Näherkommen erkannte sie auch den Grund. Es sah aus wie eine Auseinandersetzung zwischen Fuchs und Bär: List gegen Kraft. Gespannt sah sie zu.

Ove haschte nach Janko, doch dieser wich seinen Pranken geschickt aus und versuchte, ihn entweder von hinten zu überwältigen oder ihm ein Bein zu stellen. Ove griff meistens ins Leere, gab jedoch nicht auf, und wenn er Janko endlich zu fassen bekam, presste er ihn an sich, als hielte er einen zappelnden Fisch an die Brust. Janko setzte natürlich alles daran, sich ihm wieder zu entwinden. Beide kämpften hartnäckig darum, die Oberhand zu gewinnen ... am Ende lagen sie japsend und abgekämpft nebeneinander auf den Planken.

Die Zuschauer klatschten und johlten.

Janko und Ove hatten sich aber schnell wieder erholt und standen auf. Ove sah sich suchend um, entdeckte sie und gab ihr einen Wink.
Darauf hatte sie gewartet. Jetzt war sie dran! Sie drängte sich nach vorn und nahm Jankos Platz ein.

Sofort machten sich die Matrosen darüber lustig. „Nanu ... Timo gegen Ove?!" - „Is' nich' wahr!"- „Der traut sich aber was!" Sie schüttelten die Köpfe und hielten sich die Bäuche vor Lachen. Einige schlugen die Hände vor das Gesicht, als ob sie dem Elend, das gleich folgen würde, nicht zusehen wollten. Einer brüllte lauthals nach dem Shipdoctor.

Lorena ließ sich von dem Gespött nicht beirren, nahm die Grundstellung ein, wie sie es bei den anderen gesehen hatte und begann ...
Die Füße fest auf den Boden gestemmt, umklammerten sie einander und versuchten, sich gegenseitig aus dem Gleichgewicht zu bringen. Mit aller Kraft drückte sie Ove zurück, leistete Widerstand, rang mit ihm ... so ging es eine ganze Weile hin und her. Und plötzlich hörte sie niemanden mehr lachen. Im Gegenteil – man feuerte sie an! „Hei-ho, weiter so!" - „Hart bleiben!"

Von den Zurufen beflügelt, kämpfte sie beharrlich weiter, wehrte ab, teilte aus ... sie erinnerte sich wieder, wie sie auf Amrum gerauft hatten, und an bestimmte Handgriffe und Tricks -
... schieben, ziehen, blocken.
Es gelang immer besser, und sie steigerte sich mehr und mehr.

„Da hol' mich doch der Klabautermann, Ove hat jetzt ziemlich Mühe mit ihm!" - „Timo legt sich aber mächtig ins Zeug!" „Der ist genauso flink wie der Stockfisch." - „Und kräftig ist er auch, das muss man ihm lassen", riefen die Matrosen durcheinander.
In der Tat.

Sie wehrte sich nicht allein mit der Kraft ihrer Arme, sondern setzte den gesamten Körper ein, so konnte sie sich leichter gegen ihn behaupten. Es ging auch nicht um einen Sieg. Sie probierte sich an Ove aus, übte ihre Reflexe, und er zeigte ihr mit einem Kopfnicken, ob sie die Handgriffe richtig eingesetzt hatte. Er forderte sie, aber überforderte sie nicht. Ove war der Gradmesser, der anzeigte, in welchem Maße sie sich verbesserte.

Schließlich startete sie einen Überraschungsangriff, und das mit derselben Wucht, wie sie es bei Hauke getan hatte. Auch Ove stolperte rückwärts, taumelte ... sie hätte ihm nur noch die Beine wegzuziehen brauchen. Er drehte den Daumen nach oben und strahlte. Sie reckte stolz die Faust in die Luft.

Damit war ihre Übungsrunde beendet.
Die Zuschauer klatschten Beifall. „Gut gemacht!"

Alle schienen endlich begriffen zu haben, was ihr Kampf gegen einen körperlich Stärkeren bezweckt hatte. Sie war erschöpft, außer Atem, aber zufrieden. Ihr Ziel war erreicht. Sie machte sich keine Sorgen mehr, ob sie dem Nahkampf gewachsen war.

„Was gibt's? Kann ich helfen? ", ließ sich plötzlich eine freundliche Stimme vernehmen. Es war der Shipdoctor. Als ihm lachend erklärt wurde, dass es sich um einen voreiligen Alarm gehandelt habe, rückte er seine Brille zurecht, sagte augenzwinkernd: „Besser zu früh als zu spät", und entfernte sich wieder.

Lorena sah ihm gerührt nach. Offenbar machte er einen Rundgang, um notfalls einzuschreiten, bevor es ernsthafte Verletzungen gab.

Dann kam Gerrit auf sie zu ...


Er blieb dicht vor ihr stehen, sah sie forschend, beinahe lauernd an.

Sie war sofort auf der Hut. Was will er von mir?

„Ich hab's nicht vergessen ...", begann er. „Als ich am Mast stand, hast du dich oft in meiner Nähe aufgehalten. Hattest du da über mich gewacht - oder bewacht?"

Er erinnert sich wirklich! Es ist nicht zu glauben.

„Du – du hast mich bemerkt?", hakte sie nach. „In deinem Zustand? Obwohl du kaum bei Bewusstsein gewesen warst?"

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Bah, ich bin kein Kleinkind, das wegen eines Nadelstichs hopsgeht."

„Nadelstich ist gut. Fast wärest du erfroren ..."

„Das passiert dir auch als Ausguck oder als Toppgast. Was also wolltest du bei mir?"

Sein schroffer Ton stieß ihr auf. Trotzig gab sie zurück: „Ich hab' auf dich aufgepasst, wenn du das meinst! Ich wollte nicht, dass du ... hopsgehst und hätte Hilfe geholt."

„Also doch!" Seine Züge entspannten sich. „Mich retten wolltest du ... Sapperlot, wenn dich der Profos gesehen hätte! Das war recht mutig von dir. Ich will dir's vergelten."

„Du möchtest was?", entfuhr es ihr. Nein, ich traue ihm nicht!

Er grinste breit. „Du machst mir Spaß! Du guckst wie ein Fisch, der am Haken zappelt. Nein, keine Angst – ich will mich bei dir bedanken, indem ich dir einiges beibringe. Wenn du willst." Er fixierte sie aus schmalen Augen.

„Mir ...? Und was genau?"

„Du wirst es nicht bereuen, das versprech' ich dir. - Aber komm erstmal zu Atem, den wirst du noch brauchen. Mach' eine kleine Pause. Ich bin gleich wieder da." Damit verließ er sie und überquerte zügig das Deck.

Verwirrt sah sie ihm nach. Sie hätte nicht gedacht, dass er sich überhaupt mit ihr abgeben würde. Doch sie würde seinem Rat folgen und sich ausruhen; sie fühlte sich ein wenig schwach auf den Beinen. Sie begab sich zur Nagelbank, wo sie ihren Proviantbeutel an einen Belegnagel gehängt hatte. Sie nahm ihn ab, setzte sich nieder, leerte den Beutel und stärkte sich mit Zwieback und Käse. Dann entspannte sie sich noch etwas, atmete tief durch. Als sie sich wieder bereit fühlte, ging sie zurück.

Gerrit wartete bereits auf sie. „Hab' schon gedacht, du kneifst", sagte er lächelnd.

„Ich doch nicht!", gab sie forsch zurück.

„Ha, das ist eine gute Einstellung!" Er machte eine auffordernde Geste. „Jupp, fangen wir an."

Sie nickte zögernd. Jetzt war sie aber mal gespannt! Vielleicht war er bloß ein Schwätzer und wollte sich wichtig tun. Immerhin hatte er einen guten Platz zum Trainieren ausgesucht, die meisten Kämpfer hatten sich in der Zwischenzeit nach achtern verteilt.

Das Klack-klack-klack der Holzstangen schallte zu ihnen herüber.

„Na, dann pass mal auf." Er stellte sich breitbeinig hin, duckte sich, warf die Arme nach vorn, die Hände offen zu ihr gedreht. „Komm schon näher, ich beiße nicht."

Sie tat wie geheißen, rechnete mit einem Angriff – doch er überraschte sie auch diesmal.

Ebenso anschaulich, wie er das Abfeuern der Kanone erklärt hatte, führte er die Grundstellung, verschiedenartige Bewegungen, Drehungen, und Stellungswechsel vor, beschrieb Verteidigung, Abwehr, die eigene Deckung, und wo sie wirksame Treffer setzen konnte.

Anfangs hatte sie alles ungläubig, dann staunend mitverfolgt, und langsam begann sie, seine geschmeidigen Bewegungen nachzuahmen. Doch das war schwieriger als gedacht. Sie ärgerte sich, wie tapsig sie sich anstellte. Ich will es auch können, ich will!

Doch er reagierte sofort auf ihre Versuche, ermunterte sie, es ihm gleichzutun. Gemeinsam wiederholten sie alle Bewegungsabläufe, bis sie sich hineingefunden hatte.
Dann folgte der praktische Teil.

Hierbei erwies sich Gerrit nicht gerade als geduldiger Lehrmeister - er forderte sie heraus, spöttelte: „Du Tollpatsch! Landratte!" Er versuchte sie zu reizen und zu provozieren, versetzte ihr leichte Hiebe. Er machte sich einen Spaß daraus, sie in Verwirrung zu bringen und zu falschen Reaktionen zu verleiten.

Aber Lorena biss die Zähne zusammen, probierte es von Neuem. Er wird mich nicht wie ein kleines Mädchen zum Weinen bringen ... mich nicht!!

Einmal jedoch ließ ihn ein Krampf in der rechten Hand zusammenzucken. Er stieß einen Fluch aus, kämpfte aber mit der Linken sofort weiter, und das genauso gewandt. „Seit der ... Verletzung hab ich meine linke Hand ständig trainiert", erklärte er nebenbei. „Das solltest du auch tun."

„Das werde ich", versprach sie. Im Grunde war sie mit beiden Händen gleich geschickt – aber nicht mit einer Waffe. Das würde sie nachholen.

Es dauerte nicht lange, bis der Krampf verging. Nun wechselte er die Taktik. Er wich ihr aus, spielte mit ihr, nutzte ihren Schwung zum eigenen Vorteil und ließ sie ins Leere laufen.

Sie begriff, was er damit bezweckte - sie sollte ermüden, während er seine Kräfte schonte. Daher nahm sie sich zurück, ging in die Defensive -

... doch dann packte er sie und hielt sie in einem Würgegriff, in dem sie beinahe erstickte.

Vergebens versuchte sie, sich herauszuwinden ... zwar hätte sie in seine Weichteile treten können, aber das sparte sie sich lieber für den Feind auf.

Unvermittelt ließ er sie wieder los, lachte ihr ins Gesicht und erklärte ihr, wie sie sich aus einem solchen Griff lösen konnte. „Kinderleicht, eigentlich", meinte er leichthin, während sie noch um Atem rang. „Warten wir, bis du nicht mehr so blau aussiehst ... dann machen wir dasselbe nochmal."

Sie nickte nur dazu.
Nachdem sie sich erholt hatte, umklammerte er sie erneut, und sie probierte, das soeben Gelernte umsetzen. Ein fester Griff um seine Hände, eine ruckartige Drehung mit dem ganzen Körper und sie hatte sich in Sekundenschnelle befreit! Es war tatsächlich kinderleicht gewesen.

„Sehr gut!", lobte er. „Und nun üben wir Fallen und abrollen." Er ließ sie die Rolle vorwärts und rückwärts üben, riet ihr, sich frühzeitig zu drehen und sich beim Aufkommen möglichst mit den Armen abzufedern. Daraufhin griff er an und schickte sie mehrfach auf die Planken.

Zuerst war der Aufprall hart, bis es ihr endlich gelang, den Sturz besser abzufangen und rasch wieder auf die Beine zu kommen. Ihre Reflexe wurden schneller, er bekam sie kaum mehr zu fassen ... dann wirbelte sie herum, bis sie sich hinter seinem Rücken befand. Mit einem gezielten Tritt brachte sie ihn zu Fall!

Hier bewies er sein Können: er drehte sich wie ein Kreisel und landete mit Schwung auf seinem Allerwertesten; jeder andere hätte sich zumindest die Schulter verstaucht. Augenblicklich war er wieder auf die Füße gesprungen. „He!", rief er verblüfft, „he, hast du deine Augen überall?"

Ein dröhnendes Gelächter antwortete ihm.

Lorena hob den Blick und bemerkte, dass sich mittlerweile viele Zuschauer eingefunden hatten und ziemlich angetan zu sein schienen. Sie freute sich darüber. Allzu dumm konnte sie sich also nicht angestellt haben! Sie wandte sich Gerrit zu – und diesmal war sie es, die ihn angrinste.

Gerrit grinste zurück. „Du hast gut gelernt, bist flink wie ein Eichhörnchen, und kräftig dazu." Er musterte sie anerkennend. „Aber eines fehlt noch ... die Übung mit der Stange. Warte hier, ich hole welche." Er drehte sich um und verließ sie.

Das war ihr mehr als recht, so verschwitzt und atemlos, wie sie war. Endlich eine Pause! Nur gut, dass sie durch die harte Seemannsarbeit viel ausdauernder geworden war, sonst hätte sie das Training kaum durchgestanden.

Nach kurzer Zeit war Gerrit auch schon wieder mit den Stangen zurückgekehrt - mit Thorsson in Begleitung.

„Hört mal her, Jungs, da ihr sowieso fast vollständig versammelt seid", rief der Navigator den Matrosen zu, „nehmt euch ebenfalls Holzstangen und lasst euch von Gerrit unterweisen! Hopp!"

Die Männer schienen begeistert und rannten los.

Gerrit sah verwirrt drein. „ICH? Ich soll ...?"

„Ja! Ab sofort unterrichtest du die Mannschaft", beschied Thorsson und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. „Ich weiß, was du kannst."

„Ähm ...", stotterte Gerrit. Doch dann gewann er die Fassung zurück, suchte sich eine große Kiste und zog sie in die Mitte des Decks.

Nicht lange, und die Matrosen hatten sich allesamt wieder eingefunden und schwangen die Holzstangen voller Tatendrang. Der Unterricht konnte beginnen.

Gerrit dirigierte die Männer auseinander, damit jeder genügend Raum für sich hatte. Dann sprang er auf die Kiste; von diesem erhöhten Podest aus war er gut zu sehen. „Aufgepasst!", schrie er. „Schaut mir genau zu." Er hob die Stange, hielt sie wie eine Lanze und demonstrierte die Abfolge von Hieb und Stich, erklärte einzelne Kombinationen von Angriff, Rückzug und Täuschung. Zum Schluss forderte er alle auf, es ihm nachzumachen.

Im Nu war das Deck vom Klack-klack-klack der Holzstangen und den Kampfschreien der Übenden erfüllt.

Lorena trainierte mit ihren Freunden in derselben Reihe. Wie die anderen übten sie solange Schwünge, Schlag und Stoß, bis sie die Bewegungsabläufe verinnerlicht hatten, präziser und schneller wurden.

An diesem Punkt ließ Gerrit Rapiere und Dolche verteilen. „Achtet stets darauf, den eigenen Körper zu schützen, und stecht euch ja nicht die Augen aus. Haltet Abstand", warnte er und schritt durch die Reihen, überwachte jede Bewegung.

Es ging alles gut. Es floss kein Tropfen Blut.
Schließlich gab Thorsson, der während des Trainings an der Reling gestanden hatte, den Befehl zum Aufhören.

Lorena war erleichtert. Die Konzentration ließ nach, ihre Arme und Beine zitterten. Jankos Gesicht war schweißüberströmt, Sjard und Roluf ließen sofort die Stangen fallen. Ove keuchte wie ein Blasebalg.
Alle hatten genug. Es war etwas anderes, Neues zu lernen und Ungewohntes einzuüben, als einfach draufloszuschlagen.

Thorsson hatte seinen Posten verlassen, ging langsam auf Gerrit zu und blieb vor ihm stehen. Seine Augen funkelten.

Dies kam Lorena seltsam vor. Was führt er im Schilde? Er muss doch sehr zufrieden sein oder nicht?

Auch Gerrit sah ziemlich unbehaglich drein.

Da legte Thorsson ihm die Hand auf die Schulter, und mit den Worten „Wer seine Missetat gesühnt hat und sich nichts mehr zuschulden kommen lässt, kann seine frühere Stellung zurückerhalten - und sogar aufsteigen", beförderte er Gerrit zum Konstabler der Zeelandia. „Erweise dich deiner neuen Verantwortung als würdig", mahnte er noch. „Keine ... äh, Auffälligkeiten mehr!"

Gerrit war sichtlich überrascht und ergriffen zugleich; er stand vor dem hünenhaften Navigator stramm wie eine gespannte Bogensehne.

Die Matrosen rissen die Arme hoch und ein vielstimmiges Hurra donnerte über das Deck, das selbst das Rauschen der Wellen übertönte.

Lorena gönnte ihm die Beförderung. Als Befehlshaber über das Kanonendeck führte Gerrit die Aufsicht über die Geschütze und Waffen sowie über die gesamte Kriegsausrüstung. Alle Kanoniere unterstanden seinem direkten Kommando. Darüber hinaus hatte er eine eigene Kammer zur Verfügung, die als Wohnraum und gleichzeitig zur Aufbewahrung für das Werkzeug diente. In dieser Konstablerkammer befand sich außerdem die Luke, durch die man in die Pulverkammer gelangte. Niemand durfte ohne seine Erlaubnis hinein oder hinaus. „Ich treffe selten daneben" hatte er gesagt. Wenn dies der Wahrheit entsprach, dann würden seine Feinde künftig nichts zu lachen haben. Hoffentlich hielt er sein Temperament unter Kontrolle, aber es gab ja noch Thorsson und Cornelis, die ihn bändigen würden.

Aber wo hatte er so gut kämpfen gelernt? Wenn es passt, frage ich ihn, nahm sie sich vor.
Tief im Herzen spürte sie, dass die vergangenen Stunden von großer Wichtigkeit für sie gewesen waren. Sie würde weitertrainieren, um keine der Lektionen zu vergessen. Jetzt fühlte sie sich erschöpft, und das nicht nur körperlich. Hemd und Hose waren schweißdurchtränkt. Der Brustwickel zwickte, bei den zahlreichen Übungen war er verrutscht, der Rubin kniff ins Fleisch, sie entsann sich dunkel, dass Ove einmal danebengegriffen hatte. Aber bei ihm war ihr Geheimnis zum Glück gut aufgehoben.

„Leute, gebt die Waffen und die Holzstangen ab!", befahl der Navigator. „Für die Sicherheit an Bord", fügte er im ironischen Ton hinzu.
Die Männer lachten.

Auch Lorena lachte mit. Alle hatte verstanden, wie es gemeint war. Nicht noch eine Messerattacke.

„In den nächsten Tagen werden abwechselnd Segelmanöver, Bedienung der Kanonen und Nahkampf geübt, dann seid ihr bestens gerüstet", sprach Thorsson weiter. „Und ich soll euch Folgendes ausrichten: unser Schipper gibt heut Abend eine Runde Branntwein aus, die habt ihr euch redlich verdient."
Ein lauter Jubel brach los.

Lorena freute sich ebenso auf einen ordentlichen Umtrunk. Während das Ringen mit Ove reines Krafttraining gewesen war, hatte der Kampf mit Gerrit ihr alles abverlangt. Ihr tat alles weh - Knochen, Muskeln, sogar die Zähne. Vielleicht sollte sie sich die schmerzenden Stellen mit dem Alkohol einreiben, statt ihn zu trinken.

Auf dem Weg nach achtern wurde sie von Gerrit überholt.
„Na, kannst du noch stehen?", frotzelte er. Seine Augen blickten hell und freundlich, er strahlte von innen heraus.

Das war die Gelegenheit! Sie hielt ihn zurück und sprach ihn an. „Warte ... ich bin völlig erledigt, für dich bin ich ja kein Gegner. Danke, dass, du dir so viel Mühe mit mir gegeben hast, das werde ich dir niemals vergessen! Du bist ein so guter Kämpfer ... woher hast du das gelernt?"

Er blieb stehen, wartete, bis es ruhiger um sie herum wurde. Seine Augen hatten den Glanz verloren, auf den Zügen lag ein tiefer Ernst. Die Kiefermuskeln mahlten. „Häng' es aber nicht an die große Glocke, ja? Bakker und Thorsson wissen es. Ach ... und Cornelis auch." Er seufzte.






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