Eleonora

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Das leise Rauschen des Windes drang durch die undichten Stellen des verschmutzten Fensters, erfüllte das kleine Zimmer mit einer ungewöhnlichen Geräuschkulisse. Jonathan lag vollkommen regungslos auf der weichen Matratze, lauschte einfach nur den faszinierenden Klängen um ihn herum und registrierte am Rande wie sich die Umgebung um ihn herum gemächlich veränderte. Er blinzelte einige Male gegen die anhaltende Dunkelheit, lächelte dann niedergeschlagen. Im Grunde waren diese Geräusche alles was ihm noch geblieben war. So sehr sich der ehemalige Psychiater es sich auch wünschte, sein Augenlicht würde nicht wieder zurückkehren. Darauf zu hoffen war pure Zeitverschwendung. Der hagere Mann drehte sich auf die Seite und strich mit der rechten Hand über den samtigen Stoff der Bettdecke. Es kitzelte leicht, hinterließ ein fast schon angenehmes Kribbeln auf seiner demolierten Haut. Der Braunhaarige murmelte in sich gekehrt: „Man sollte meinen, ich hätte mich bereits an diese ewig währende Finsternis gewöhnt, aber dies zu behaupten wäre eine dreiste Lüge." Der Meister der Angst seufzte leise. Seine Gedanken laut auszusprechen gab ihm zumindest den trügerischen Eindruck, jemand wäre gerade an seiner Seite und würde nach einer Weile eine sinnvolle Antwort geben. Die Realität sah natürlich anders aus. Diese ersehnte Antwort würde wahrscheinlich niemals kommen. Er war Gefangener seines eigenen Albtraums und jeder Versuch aus diesem auszubrechen scheiterte kläglich an dem Fakt, dass niemand die Zeit zurückdrehen konnte. Es gab keine Hoffnung. Kein Licht. Jonathan krallte die Finger leicht in den wärmenden Stoff, vergrub sein Gesicht dabei in das bequeme Kopfkissen. Sein Körper begann wie von selbst zu erzittern. Eigentlich machte dem ehemaligen Psychiater die Kälte um ihn herum nichts aus, aber an diesem Abend hielt sie ihn in ihren eisigen Händen. Ein Würgegriff, dem er sich nicht wirklich entziehen konnte. Zu seinem erstaunen spürte der hagere Mann plötzlich, wie eine einzelne Träne sich einen Weg über eine Vielzahl Narben auf seiner Wange suchte und langsam hinab glitt. Er wischte sich geschwind über die kühle Haut. Dieses weinerliche Verhalten war mehr als inakzeptabel für einen gestandenen Akademiker wie ihn. Ein dicker werdender Kloß in seinem Hals deutete jedoch an, dass alle seine Bemühungen standhaft zu bleiben irgendwann in dieser Nacht fehlschlagen würden. Man konnte die Trauer ignorieren, verbannen, leugnen, verfluchen – am Ende würde sie an die Oberfläche dringen und dort zu einem regelrechten Zusammenbruch führen. War es also an sich nicht klüger jetzt diesem inneren Drang nachzugeben emotionale Schwäche zu zeigen? Jetzt wo er alleine war?

Der Braunhaarige setzte sich an den Rand des Bettes und legte die Hände auf die Knie. Einige Sekunden zogen ins Land, brachten für den Verbrecher die erschreckende Erkenntnis an diesem Abend. Er konnte es nicht. Er konnte seinen Gefühlen keinen richtigen Raum geben, selbst wenn ihm dies zumindest etwas Erleichterung verschafft hätte. Es ging einfach nicht. Die Gedankenspirale in seinem Verstand drehte sich schon wieder ohne Unterlass. Seine linke Hand glitt seitlich in sein strohiges Haar und hielt den schweren Kopf unsicher auf den dünnen Fingern. Er kaute beinahe hilflos auf der Unterlippe herum, starrte mit den blinden Augen auf den Boden. Der Meister der Angst wollte sich gerade erheben, als er ein verdächtiges Geräusch aus dem Korridor vernahm. Aus alter Gewohnheit blickten seine Opale auf die Tür oder zumindest annähernd in ihre Richtung. Sein Gehirn gaukelte ihm nach wie vor Schatten und Umrisse zu erkennen, die er vor dem Zwischenfall irgendwann einmal gesehen hatte. So rekonstruierten sich bekannte Orte eindrucksvoll aus seiner Erinnerung. Ganz gleich, ob diese sich in der Zwischenzeit drastisch verändert hatten. Dies führte oft zu ungeahnten Schwierigkeiten in seiner Orientierung. Im Allgemeinen gab ihm das Bekannte Sicherheit und jede Neuerung um ihn herum brachte ihn augenblicklich zum Straucheln. Der ehemalige Psychiater lauschte in die Dunkelheit hinein. Hatte er sich wohl möglich verhört? Leise Schritte im Flur schlossen diese Möglichkeit schnell aus. Trotz der Geräusche verspürte der hagere Mann keinerlei Furcht oder Unbehagen. Er besaß nichts wertvolles in dieser Wohnung und wenn ein Obdachloser damit zufrieden war sich an seinem annähernd leeren Kühlschrank zu bedienen sollte es ihm relativ sein. Der Braunhaarige hatte vor gut zwei Wochen aufgehört zu essen. Sein Hunger war ihm schon lange vergangen und dieser Umstand machte es ihm zumindest möglich in seinen vier Wänden zu verbleiben. Nichts wäre schlimmer, als in seiner Situation auch noch draußen in Gotham herum zu irren. Zur Belustigung all der schadenfrohen Menschen auf den Straßen. Der ehemalige Psychiater drückte eine Hand auf den krampfenden Bauch. Selbst wenn der Magen gelegentlich noch rebellierte, am Ende gab er dennoch auf permanent nach Nahrung zu schreien. Höchstwahrscheinlich wusste das Organ, dass dies lediglich ein Wunsch bleiben würde und sich keine Nährstoffe mehr durch die Speiseröhre hinein zwängen würde.

Der Schmerz ebbte langsam ab. Ein kalter Wind umspielte seine knochige Gestalt. Der Meister der Angst hatte sich schon längst für einen schnellen Ausweg entschieden und es war nur noch eine Frage der Zeit bis der Tod an seine Tür klopfen würde. Es war nicht der Plan tatsächlich den langen Weg des Verhungerns zu gehen, aber solange er noch nicht genau wusste wie er es anstellen sollte gab es zumindest die Hoffnung eines Morgens aus Kraftmangel nicht mehr aufzuwachen. Die Schritte im Korridor kamen gemächlich näher und verstummten auf einmal auf der anderen Seite der Tür. Der hagere Mann wartete verhalten ab. Das Quietschen der Scharniere schmiegte sich schmerzlich an seine Ohren, signalisierte das jemand in das Zimmer trat. Ein dumpfes Geräusch erklang und dann – Stille. Es war mit einem Mal so still geworden. Wo war der Wind? Wo waren die knackenden Äste? Wo waren die Raben in den Baumgipfeln? Jonathan sah sich orientierungslos um, suchte in der Dunkelheit nach dem unangemeldeten Besucher. Nach einer Weile hörte er die ungewöhnlich leise Stimme eines alten Freundes: „Hey John. Mache dir keine Sorgen, ja? Ich bin es nur." Der Angesprochene versuchte ein Lächeln zustande zu bringen. Eine leichte Gänsehaut schlich sich seinen Rücken hinab und verteilte sich allmählich auf seiner Haut. Er blickte in die Richtung des Besuchers und sprach mit schwacher Stimme: „Edward. Was für eine angenehme Überraschung. Es freut mich sehr dich wiederzusehen." Diese Worte schmerzten mehr, als er erwartete hatte. Der ehemalige Psychiater schloss die Augen und schluckte seine aufkommenden Gefühle schwerfällig hinunter. Er vernahm wieder die leichten Schritte. Plötzlich setzte sich der Tüftler neben ihn, die Matratze gab unter dem Gewicht des Schwarzhaarigen nach. Der Riddler atmete gleichmäßig, von seinem Körper ging eine lang vergessene Wärme aus. Der Jüngere sprach schließlich ruhig: „Vom wiedersehen kann man kaum sprechen oder? Ich habe gehört was passiert ist und, ja, wie soll ich das sagen. Es tut mir leid, John." Der Meister der Angst zuckte etwas mit den Schultern. Bevor er etwas erwidern konnte fuhr der Andere leise fort: „Ich war mir nicht sicher, ob ich wirklich vorbei kommen sollte oder nicht. Ich meine, nach der ganzen Sache mit Waylon hast du dich plötzlich von allem und jedem distanziert und dich nicht mehr in der Öffentlichkeit blicken lassen. Meine Fresse, der Untergrund hat schon Wetten abgeschlossen ob du tot bist oder nicht."

Der hagere Mann lachte trocken auf diese Mitteilung. Er erschauderte unter der alles umgebenen Kälte und hatte den starken Impuls in die warme Umarmung des Rätselstellers zu flüchten. Entgegen seines Wunsches entgegnete er nur erschöpft: „Ich hoffe du hast richtig gelegen mit deinem Tipp. Wie du siehst lebe ich noch." Edward reagierte zu seiner Verwunderung nicht gelassen wie sonst. Er schien sich nicht sonderlich über diese Aussage zu amüsieren. Wie zur Bestätigung zischte der Schwarzhaarige unter zusammengebissenen Zähnen: „Ich finde das überhaupt nicht lustig, John. Ernsthaft. Ich habe gerade eben einen halben Schock bekommen, als ich zur Tür reingekommen bin. Du bist so verdammt dünn geworden. An dir ist echt gar nichts mehr dran. Nur noch Haut und Knochen, wenn überhaupt. Wann hast du zum letzten Mal was gegessen?" Der ehemalige Psychiater presste die Lippen fest zusammen und starrte betroffen auf den Fußboden. Ein unangenehmes Schweigen breitete sich aus. Plötzlich fühlte der Ältere die Hand des Tüftlers auf der seinen. Der Riddler legte die Finger langsam um die seinen, wärmte seine ausgekühlte Haut. Selbst ohne sein Augenlicht wusste der Meister der Angst, dass der andere ihn anstarrte und Antworten erwartete. Er erwiderte schließlich zögerlich: „Es geht mir gut, Edward. Ich benötige keine Hilfe." Beide wussten, dass diese Behauptung nicht mehr als eine Lüge war. Der Rätselsteller festigte den Griff an seiner Hand und schien diese sobald nicht wieder loszulassen. Jonathan erzitterte nur noch stärker. Der Kontrast zwischen der einladenden Wärme des Schwarzhaarigen und seinem sterbenden Körper nahm mit jeder weiteren Sekunde zu. Er wollte diese Nähe unbedingt, doch gleichzeitig schwang die nagende Angst der Ablehnung mit. Einem Monster wie ihm war es nicht mehr gestattet Zuneigung zu erhalten. Der Tüftler murrte verdrossen: „Du kannst gerne den Rest der Welt verarschen, John, aber nicht mich. Soll ich dir einen Trichter in den Mund stecken und dich solange mit Essen vollstopfen bis du wieder einigermaßen Fleisch auf den Rippen hast? Oder wäre dir eine verfluchte Magensonde lieber? Deine Entscheidung." Der Braunhaarige zuckte merklich zusammen. Er wusste, dass er dem Jüngeren schon immer viel bedeutet hatte. Vermutlich mehr, als er es zugeben wollte.

Es gab eine tief verborgene Leidenschaft zwischen ihnen, welche mit jedem Treffen in der Vergangenheit weiter gewachsen war und vor seiner Inhaftierung fast explodiert wäre. Einzig ihr wertloser Stolz hatte am Ende verhindert, dass sie ihrer Begierde nachgegeben hatten. Doch dies war einmal. Jonathan war sich mehr als sicher, dass der Rätselsteller lediglich aus Mitleid zu ihm gekommen war und sich nun nach einem ansehnlicheren Partner umschauen würde. Der Tüftler war immerhin nicht gerade unattraktiv. Edward seufzte plötzlich leise und schien nach etwas am Boden zu greifen. Wahrscheinlich seine Umhängetasche. Der Schwarzhaarige sprach besonnen: „Ich habe dir was mitgebracht. Du hast mir ja oft genug erzählt, dass du Edgar Allan Poe liebst und ich mich bei Gelegenheit mal mit ihm beschäftigen soll. Ich bin deinem Ratschlag gefolgt." Mit diesen Worten legte er einen Arm um den Älteren und zog ihn näher an seine Brust. Dieser keuchte überrascht auf, entzog sich der Umarmung aber nicht. Er konnte hören, wie der Riddler ein Buch aufschlug und gemächlich die Seiten umblätterte. Jonathans Herz begann mit einem Mal stärker zu schlagen. Es vergingen einige Sekunden bis der Jüngere schließlich anfing vorzulesen: „Eleonora von Edgar Allan Poe aus dem Jahre 1842. Ich entstamme einem Geschlecht, das dafür bekannt ist, eine flammende Leidenschaftlichkeit und zügellose Phantasie zu besitzen." Die Stimme des Rätselstellers erhellte den Raum mit seinem sanften Klang, drang wie ein Licht durch die Dunkelheit. Der Meister der Angst lauschte ihm aufmerksam. Ein undefinierbares Gefühl machte sich in seiner Seele breit, berührte ihn an Punkten die er glaubte lange verloren zu haben. Jede weitere Zeile der Kurzgeschichte trug den hageren Mann weiter, brachte ihn an Orte, die er aus Furcht gemieden hatte. Orte der Erinnerungen.

Vor allem Erinnerungen an bessere Zeiten. Tränen sammelten sich in seinen grauen Augen, liefen langsam über seine Wangen und fielen ungebremst von seinem Kinn hinab. Edward las hingegen einfach weiter, kämpfte sich tapfer durch die teilweise schwierigen Formulierungen. „Und wenn du glühenden Herzens Ermengard umarmst, bist du — aus Gründen, die dir dereinst im Himmel offenbart werden sollen — deines Gelübdes an Eleonora entbunden." Der Riddler beendete die Kurzgeschichte, klappte das Buch vorsichtig zu. Er legte es scheinbar beiseite und schlang endlich auch seinen anderen Arm fest um die zitternde Gestalt neben ihm. Der ehemalige Psychiater weinte stumm, krallte die schwachen Finger in die Schultern des Schwarzhaarigen. Dieser flüsterte heiser: „John, ich bitte dich, was auch immer du tust, gib dich nicht auf. Ich kann wirklich viel ertragen. Deinen Hass, deinen Hohn, deine Ablehnung. Wenn du mir gleich ins Ohr schreist, dass ich gefälligst aus deinem Leben verschwinden soll ist das auch in Ordnung, nur stirb bitte nicht. Das würde ich nicht ertragen." Der Braunhaarige presste die Augen fester zusammen und hielt sich nur noch stärker an dem Jüngeren fest. Dieser legte die Decke langsam um ihre Körper, schenkte ihm die lang erwartete Wärme. Die Stille war dieses Mal außergewöhnlich schön. Beruhigend. Balsam für eine zerstörte Seele. Der Tüftler zog ihn schließlich auf seinen Schoß und schloss die Arme um die schmale Hüfte, drückte die Fingerkuppen in die verschlissene Kleidung. Jonathans Lippen bebten, als er leise hauchte: „Lasse mich nicht los, Edward. Bitte."

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