Geschmolzenes Honigbonbon

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Die Gesellschaft, in der ich lebe, ist falsch.

So verdammt falsch.

Der heiße Sand verbrannte seine Füße, doch er merkte es kaum. Schritt für Schritt kämpfte er sich weiter vorwärts, während die Sonnen – vier große, helle Scheiben am trügerisch azurblauen Himmel – auf ihn hinabstarrten, als wollten sie ihn für sein Handeln bestrafen. Die Brandblasen an seinen Füßen, die die gleiche Farbe besaßen wie die eines Hummers, wenn er in kochendes Wasser geworfen wurde, platzten auf. Exsudate, gemischt mit Blut, liefen über seine empfindliche Haut, nur, um mit einem leisen Zischen im Sand zu versickern. Die kleinen Sandkörner, die durch eine leichte Brise aufgewirbelt wurden, fühlten sich wie Schmirgelpapier auf seiner Haut an. Seine Kehle war ausgedörrt und sehnte sich nach Wasser, sein Körper war erschöpft und verlangte nach der sicheren Kühle, die ihn sein ganzes Leben lang begleitet hatte. Doch er konnte nicht mehr zurück, nie wieder.

Die Gesellschaft, in der ich lebe, ist falsch.

So verdammt falsch.

Er fragte sich, was aus ihm geworden wäre, wenn er einfach geblieben wäre. Die Antwort war so klar, und doch so schwer auszusprechen: tot. Man hätte ihm sein Leben geraubt, so, wie man es ihm jahrelang gestohlen hatte. Winzige Parasiten in Form von ständig gepredigten Worten, die sich in seinem Kopf festgesetzt hatten, hatten ihn verpestet, so, wie jeden anderen auch. Doch irgendwann hatte er es geschafft, seine Scheuklappen herunter zu nehmen und die Augen zu öffnen. Er hatte gesehen, was wirklich geschah, er hatte erfahren, was es eigentlich hieß, wahrhaftig zu leben.

Die Gesellschaft, in der ich lebe, ist falsch.

So verdammt falsch.

Er fragte sich, ob es noch mehr Abschriften von dem Text gab, der ihm die Wahrheit präsentiert hatte. Aber selbst wenn nicht, Elaine war entkommen und würde ihn mit Sicherheit übergeben, damit jedem einzelnen von ihnen die Augen geöffnet werden konnten, so, wie es bei ihm der Fall gewesen war. Ein raues Lachen entrang seiner Kehle. Es schmerzte und er kniff die Augen zusammen, dann spürte er, wie er stolperte und mit den geschwollenen Fingern voran in den Sand fiel. Er stützte sich mit zitternden Schultern ab und spürte, wie die Tränen in ihm hochsteigen wollten, doch sie kamen nicht, denn sein Körper war zu ausgetrocknet, um noch weinen zu können. Der Gedanke an Elaine schmerzte ihn und gleichzeitig erfüllte er ihn mit Hoffnung. Er durfte nicht aufgeben, durfte nicht seiner eigenen Schwäche erliegen.

Die Gesellschaft, in der ich lebe, ist falsch.

So verdammt falsch.

Worte, die ihm Kraft schenkten. Sein ewiges Mantra, was er vor sich hin wisperte, immer und immer wieder, mit trockenen und aufgerissenen Lippen. Beim Sprechen schmerzte es, doch dieser Schmerz erinnerte ihn daran, dass er noch lebte. Dass sein Leben kein frühzeitiges Ende genommen hatte. Und, dass er der Gesellschaft, dem Kollektiv, entkommen war. Es gab nur wenige, die so dachten, wie er oder Elaine. Und doch wusste er, dass alle ihr Leben umwerfen würden, sobald sie die Gelegenheit dazu bekommen würden. Sie mussten etwas ändern. Nichts, aber auch gar nichts an dem, was getan wurde, war richtig. Zumindest hörte es sich, seit er die seine Seele bereinigenden Worte gelesen hatte, falsch an.

Die Gesellschaft, in der ich lebe, ist falsch.

So verdammt falsch.

Es waren nicht einmal seine eigenen Worte, doch er musste sie sich immer wieder ins Gedächtnis rufen. Er keuchte auf und hustete. Dabei schwenkte sein Blick zu seinem rechten Arm, auf dem die schwarzen Zahlen eintätowiert waren, Zeugen seines begrenzten Daseins in dem Goldenen Käfig. Sein ganzer Körper war am Zittern und er schaffte es nicht, sich wiederaufzurichten. Er hatte seit Tagen nichts mehr gegessen, war nur gelaufen und spürte allmählich die Auswirkungen der Drogen, die man ihm tagein, tagaus in sein Essen gemischt hatte, um ihn unter Kontrolle zu halten. Wann hatte ihm sein Leben so derart aus den Fingern gleiten können? Die Antwort war einfach, aber genauso schwer auszusprechen, wie die vorherige: seit seiner Geburt. Noch einmal warf er einen verschwommenen Blick auf die schwarzen Zahlen.

39.35.12.725
Zahlen, die ihn verspotteten, je länger er sie betrachtete. Er wünschte sich, er könnte sie entfernen, aber sie würden auf ewig sein ständiger Begleiter sein. Ihn bis an sein Lebensende an das erinnern, was er darstellte. Was er sein ganzes Leben lang dargestellt hatte und dem er nun versuchte, zu entkommen.

Die Gesellschaft, in der ich lebe, ist falsch.

So verdammt falsch.

Er schaffte es nicht.

Niemals würde er den Weg, den er sich vorgenommen hatte, bewältigen können. Elaine war nicht mehr an seiner Seite. Dabei war sie es immer gewesen, die ihm wieder hochgeholfen hatte. Immer und immer wieder. Doch jetzt war sie nicht da und er drohte, in den ewigen Sandmassen zu versinken, bis die quälende Hitze ihn schlussendlich zu sich geholt hatte. Er wusste nicht, wie lange er regungslos im Sand hockte, doch irgendwann spürte er den Schmerz, den die heißen Körner verursachten, nicht mehr. Und dann drangen Stimmen an sein Ohr. Ein leichter Hauch von Tönen, dennoch Sprache, die er verstand. Er spürte, wie seine Mundwinkel sich gegen seinen Willen nach oben verzogen, wie seine Lippen weiter aufrissen und anfingen, frisches Blut über sein Kinn laufen zu lassen.

Er war gefunden worden. Und nun würde er sterben, um für das zu büßen, was er darstellte.

Die Gesellschaft, in der ich lebe, ist falsch.

Aber ich habe versucht, etwas zu ändern.

Mein Name ist Arcus und ich bin keine Drohne.

Ich bin das, was früher einmal als Mensch bekannt gewesen ist.


TARTAROS: Stock 58 - Hochzeitsflug (Leseprobe)Where stories live. Discover now