Der Letzte Brief

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Liebster Gellert,

ich schreibe diese Zeilen nicht für Dich, sondern für mich. Mit Dir zu reden war in letzter Zeit der einzige Weg für mich, Dinge zu verstehen und ich schreibe meine Gedanken nieder, in der Hoffnung, auch ohne Deine Anwesenheit erleuchtet zu werden. Oder zumindest Ordnung in das Chaos zu bringen, welches Du in meinem Kopf hinterlassen hast. Ich bin mit sicher, auch Du kämpfst hin und wieder mit einem Überfluss an Gedanken und wünschst Dir, sie einfach loslassen zu können. Ich habe Dich das nie gefragt. 

Ich will ganz ehrlich mit Dir sein: Ich denke, etwas stimmt mit mir nicht. Und ich meine nicht einmal meine Gefühle, die sich allesamt widersprechen, wobei sie vielleicht momentan meine größte Sorge sind. Ich kann Dir nicht richtig erklären, worauf ich tatsächlich hinauswill, doch vielleicht finde ich es noch heraus. Wenn das passiert, werde ich es Dich wissen lassen. 

Ich stelle mir vor, wie Du mir sagst, das hier sei eine Familienangelegenheit und ich solle mit meiner Familie darüber sprechen. Es gelingt mir jedoch nicht, dieses Bild von Dir so zu erzeugen, dass es glaubhaft ist. Würdest Du mir jemals empfehlen mich an Aberforth zu wenden? Wohl kaum. Eure Abneigung beruhte immerhin letzten Endes auf Gegenseitigkeit. Außerdem habe ich ihn seit zwei Tagen nicht gesehen. Ich glaube, er kümmert sich um die Beerdigung und ich denke, ich sollte dafür dankbar sein. Ich währenddessen habe mein Zimmer in dieser Zeit nicht verlassen, habe nicht gegessen und schaue nur den Eulen zu, wie sie Briefe bringen, die sich auf meiner Fensterbank auftürmen. Schon wieder. Innerhalb von so kurzer Zeit habe ich meine Mutter und meine Schwester verloren. Ich sollte mehr fühlen als Leere, oder nicht? Sollte Wut und Trauer fühlen, so wie Aberforth. Er nutzt diese Dinge als Antrieb, so war er schon immer. In mir ist nichts mehr, was mich antreibt. Du hast mir das genommen. Ich werfe Dir das vor. 

Vielleicht mehr noch, als dass Du mich zu einem Mörder gemacht hast – dabei spielt es eigentlich keine Rolle, ob ich tatsächlich ein Mörder bin – denn ich könnte es sein. So wie Du, so wie Aberforth.

Und was fühlst Du? 

Angst, vielleicht, sonst wärst Du nicht geflohen. Reue? Habe ich Dich jemals etwas bereuen sehen? Gellert, habe ich Dich jemals etwas fühlen sehen? Bist Du dazu in der Lage? 

Weißt Du, ich bin schon immer ein sehr empathischer Mensch gewesen. Das hieß auch, dass Legilimentik für mich besonders leicht zu erlernen war. Zwar mag die Anwendung unethisch sein, aber hin und wieder ist es sehr nützlich, in die Gedankenwelt eines anderen einzutauchen. 

Ich denke, das muss ich Dir nicht sagen. Jeden Sommer, wenn ich zuhause bei meiner Familie war, habe ich mit dem Gedanken gespielt, Legilimentik bei Ariana anzuwenden. Es hat mich so sehr interessiert, was in ihrem Kopf vorgeht, aber ... ich habe mich nie getraut. Warum, fragst Du dich? Es lag an ihrem Blick. Egal, in welchem Zustand sie war, ob sie hinter Aberforth hertrottete und ihm half, die Ziegen zu füttern, ob sie meiner Mutter beim Zaubern zuschaute oder ob sie sich während eines Gewittersturms schreiend auf dem Boden krümmte – ihr Blick war immer leer. Blaue Augen, die keine Gefühle verrieten, zu keiner Zeit, niemals. Ich schätze, ich habe mich immer davor gefürchtet, diese Leere auch in ihrem Kopf zu finden. Jetzt muss ich mich fragen, was ich in Deinem Kopf gefunden hätte, wäre ich auf die Idee gekommen, nachzuschauen.

Es war dumm von mir, jemandem mein Herz zu schenken, den ich in Wahrheit wohl nie richtig gekannt habe. War es das Dümmste, was ich jemals getan habe?

Nein, denn das Dümmste ist meine Hoffnung in diesem Augenblick, Dich bei der Beerdigung wiederzusehen und das nachzuholen, was ich versäumt habe.

In Liebe
Albus


Albus legte die Feder nieder und las den Brief noch einmal von vorne bis hinten durch. Ihn zu schreiben hatte sich deutlich besser angefühlt, als ihn zu lesen. Er hob den Blick und schaute automatisch aus dem Fenster rüber zum Haus von Bathilda Bagshot und zu dem Fenster, hinter dem er so oft des nachts noch das Licht einer einzelnen Kerze hatte flackern sehen. Jetzt war es hinter der Scheibe dunkel, die Nacht legte sich gerade über das Dorf und die Sonne war bereits untergegangen. 

Der Letzte Brief [Oneshot]Where stories live. Discover now