Part 1

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20.06.2020  

Mariella

Weil wir vor Kurzem festgestellt haben, dass wir in einer doch gar nicht so langweiligen Welt leben, wie wir dachten, haben wir beschlossen, Tagebuch zu führen. Sozusagen als Dokument für die Nachwelt. Ich sehe es schon, im Jahr 2090 sitze ich als runzelige alte Schachtel neben meiner besten Freundin Lilli, noch runzeliger, weil sie neuerdings immer öfter betrunken zur Zigarette greift, als Zeitzeugen einer brandneuen Folge ZDF History. Wir werden es der Nachwelt erzählen, was wir erlebt haben. Wie es war, tagelang in den eigenen 4 Wänden zu sitzen und uns zu fragen, wann wir endlich wieder raus können. Und ich meine, wir waren Anfang 20, wir waren wild, wir waren heiß, wir wollten unser Leben leben.

Warum sie gerade uns fragen würden? Weil wir Erstens noch am Leben waren, weil wir nämlich sehr alt werden, das habe ich so beschlossen und Zweitens, weil man unser Tagebuch gefunden hatte, so wie einst das von Anne Frank. Jetzt, um Gottes Willen, will ich mein Schicksal nicht mit Anne Franks vergleichen, aber ohne ihr Tagebuch wäre ihr Schicksal genauso unbekannt, wie das von Tausenden, denen ähnlich Schreckliches passiert war.

Als sich unser Leben plötzlich grundlegend änderte, und das war witzig, denn wir hätten doch niemals gedacht, dass das wirklich in dieser Welt passieren könnte, war eigentlich noch tiefster Winter. Es war eiskalt und eigentlich war man froh, wenn man eh nicht raus musste. Meine Mutter machte schon seit Wochen Stress. Kind, wasch dir die Hände. Kind, in solchen Zeiten muss man wirklich nicht ständig auf Partys. Kind, öffentliche Verkehrsmittel solltest du jetzt wirklich meiden. Ich meine Hallo? Wie stellte sie sich das vor? Und meinte sie, ich hatte mir davor die Hände nicht gewaschen? Für mich war das alles weit weg, wenn ich überlegte, wie lang meine Bestellung aus China bis hier her brauchte und die wollte ich ja haben, wie schlimm konnte dann ein kleiner Virus sein, den niemand will und doch wohl genügend Forscher, Wissenschaftler, Doktoren, Politiker, eben die, die Ahnung hatten oder so taten, mit allen Mitteln versuchten, die Krankheit aufzuhalten.

Das war nun offensichtlich doch ein bisschen anders gelaufen. Ehrlich gesagt hatte ich noch immer keine besonders große Angst vor dem Virus oder Corona selbst, aber es ging mir ziemlich auf die Nerven, dass ich nun noch mehr Zeit vor dem Bildschirm meines Laptops verbringen musste und zu keiner Party mehr durfte. Von wegen gemeinsam dagegen, ich war alleine und das nun schon seit Wochen. 

Mittlerweile war kein Winter mehr, im Gegenteil. Es war Sommer, nicht so heiß, wie im letzten, aber so schön, wie in jedem Jahr. Ich liebte den Sommer. Irgendwie schien er immer so viel Vorfreude und Hoffnung zu wecken, sodass man beinah enttäuscht war, wenn er ging, ohne wirklich großartig gewesen zu sein. Warum fühlte man sich im Sommer immer, als würde man sich bald verlieben und tat es dann nicht? 

Zum Glück durfte man wieder ab und zu nach draußen. Nur in die Uni durfte ich nicht, was wirklich sehr schade war. Zwinkersmiley. Aber auf der anderen Seite wäre es durchaus einfacher gewesen, sich in die Vorlesung zu setzen, nicht zuzuhören, aber immerhin gutes Gewissen zu haben, weil man ja da war. Jetzt musste man tatsächlich etwas oder eben gar nichts machen, aber das war was, für die ganz harten Kerle. Und wenn man die ganzen Aufgaben aus den Seminaren und Übungen bekam, zu denen man normalerweise einfach nicht ging, bemerkte man erst einmal, wie intensiv man sich doch mit seinem Studium beschäftigen konnte. Das Schlimmste aber, aufgrund der visualisierten Menge der Aufgaben, stieg das schlechte Gewissen beim Nichterledigen noch mehr an und man machte automatisch mehr. Total verrückt und echt stressig. Zudem musste man ständig sein überfülltes Email-Postfach checken und tatsächlich jede Nachricht lesen! Denn sonst verpasste man womöglich Eine von Hundert, in der etwas Wichtiges stand. 

Mein Leben bestand also gerade aus Uni, Zeichnen, Uni, ein paar Telefonate mit Lilli, Uni, Essen, Schlafen, Uni und ein bisschen (wenig) Sport. Ich hatte noch nie so viel für Uni gemacht, wie in diesem Semester und ich war natürlich stolz auf mich. Falsch. Ich war unzufrieden. Einfach nur unzufrieden, weil der Sommer auf mich wartete und ich ihm nur vom Fenster aus zu sah, statt mich in ihn hinein zu stürzen. Alles roch nach Wärme, die süße Sehnsucht nach Freiheit und Leben, aber ich saß vor meinem Laptop und arbeitete an einer Ausarbeitung für die Uni.

Sommer 2020Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt