#1 - Warum streiten sie ständig?

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»Ich wusste es schon die ganze Zeit!«, hörte ich meine Mutter aus der Küche rufen.

Oh nein
, dachte ich. Nicht schon wieder.

Ich saß auf der Couch im Wohnzimmer und versuchte mich halbwegs zu entspannen. Aber das war wohl nicht möglich, weil Mom sich schon wieder mit Dad stritt. Gerade eben war es so schön ruhig gewesen, aber jetzt fingen sie wieder an. Worum es ging, hatte ich - wie immer - mitbekommen. Es war einfach unüberhörbar. Ich warf einen Blick zum Fenster und bemerkte, dass es draußen bereits dunkel war.

»Das stimmt nicht!«, brüllte mein Vater zurück. »Niemals habe ich-«

»Wie lange?«, zischte sie. Ihre Stimmen waren so laut, dass ich alles genau hören konnte. »Wie lange betrügst du mich schon?«

Das konnte einfach nicht gut enden. Jedes Mal war es dasselbe; Dad betrug angeblich Mom und sie konnte es nie beweisen. Irgendwann hatte sie es aufgegeben und Dad redete ihr ein, dass er so etwas niemals tun würde. Ich wusste selbst nicht, was ich davon halten sollte.

Genervt von dem Geplänkel schloss ich die Augen.

»Ich betrüge dich nicht, verstehst du das denn nicht?«, fuhr er Mom an.

Sollte ich mich einmischen? Ich dachte einen Augenblick darüber nach. Eigentlich sollten Erwachsene ihre Probleme selbst lösen können.

Seufzend öffnete ich erneut meine Augen und rappelte mich vom beigen Sofa hoch. Ein paar Sekunden später erreichte ich die Küchentür, aus der ihre lauten Stimmen drangen. Ich riskierte vermutlich mein Leben, wenn ich sie beruhigen wollte. Vielleicht sollte ich erst einmal einen Blick in die Küche wagen. Die Tür knarrte ein wenig, als ich sie einen Spalt breit öffnete, aber Mom und Dad schienen so tief in ihrer Streiterei versunken zu sein, dass sie mich nicht bemerkten.

Dad stand vor dem Herd, die Arme verschränkt, und blickte finster vor sich hin. Gegenüber von ihm stand Mom und hatte Tränen in den Augen. Ein paar Strähnen hatten sich aus dem Knoten in ihrem Haar gelöst.

»Du willst es einfach nicht zugeben, stimmts?« Ein paar Tränen liefen ihre vor Wut gerötete Wange hinunter.

»Clara«, sprach Dad funkelnd. »Du bist so dickköpfig.«

»Und du ein Betrüger.« Mom bohrte ihm einen Finger in die Brust. »Du betrügst mich und lässt mich denken, dass ich mir alles nur einbilde!«

Dad verdrehte die Augen. »Rede doch keinen Blödsinn«, sagte er ein wenig zu schnell und streckte die Hände, die zu Fäusten geballten waren, in die Luft. Es konnte doch nicht sein… Oder doch?
Im nächsten Moment ging Mom auf ihn los. Sie holte aus und zerkratzte sein Gesicht. Fassungslos fasste er sich an die Wange. Das war genug.

Ich öffnete die Tür ganz und betrat die Küche. Die beiden sahen mich einen Augenblick lang an und versuchten dann, mich zu ignorieren. Es hatte sie noch nie gekümmert, was ich über sie dachte, aber selbst wenn ich es nicht mitbekommen hätte, würde es mir Dads zerkratzte Wange verraten. Moms Fingernägel waren echt mordsmäßig lang.

»Es reicht, verdammt!« Ich ging auf sie zu und schlug die Faust gegen den Kühlschrank. Eigentlich würde ich so etwas nicht wagen, aber das war eine Ausnahme. »Klärt das jetzt oder geht von mir aus sonst wohin. Aber nicht hier, wo ich alle mitbekomme«, rief ich wütend und fuchtelte mit den Armen vor ihnen herum.

»Geh auf dein Zimmer.« Dad deutete mit der Hand Richtung Decke.

Ruhig erwiderte ich seinen Blick. »Nicht, bevor ihr das geklärt habt.«

»Zoey, wenn du nicht sofort auf dein Zimmer gehst, fliegst du raus«, drohte Dad und baute sich vor mir auf. Ich seufzte nur genervt auf.

»Spinnst du jetzt völlig?« Meine Mutter sah ihn entsetzt an.

»Ich will, dass ihr das jetzt klärt, damit ich endlich meine Ruhe habe.« Ich rieb mir meine Hand, die seit dem Schlag gegen den Kühlschrank etwas pochte. Dad mochte mich zwar bedrohen, aber das kümmerte mich wenig, weil all die Drohungen sowieso nie Wahr wurden.

Mom gab ein schnauben von sich. »Gut, dann klären wir es jetzt. Also«, sagte sie zähneknirschend und wandte sich wieder an meinen Vater, »wann war es das erste Mal und mit wem? «

»Das ist doch vollkommen egal!«, brüllte Dad und fasste sich dann an den Kopf, als meinte er hoppla.

Bei der plötzlichen Lautstärke zuckten Mom und ich gleichzeitig zusammen.

»Aha«, meinte Mom nach ein paar Sekunden Stille. »Jetzt hast du es zugegeben.«

Ich war zu geschockt, um etwas zu sagen. Ich wusste, dass sie ihn immer beschuldigte, aber ich hatte fast nie einen Funken Wahrheit daran gesehen. Nie hätte ich gedacht, dass Dad mich noch mehr enttäuschen würde, als er es sonst auch schon tat.

Entsetzt starrte ich ihn an. Wir hatten nie so etwas wie Familienausflüge gemacht, da weder Mom noch Dad Lust dazu gehabt hatten. Ich war fast jeden Tag alleine zu Hause, meine Eltern arbeiteten beide bis in den späten Nachmittag hinein. Jeder machte seine Aufgaben und es kamen keine Fragen wie 'Wie war die Schule?' oder 'Hast du deine Hausaufgaben gemacht?'. Ich war von Anfang an auf mich alleine gestellt gewesen. Zuerst machte ich fast nie etwas, sondern tat das, was mir gefiel. Ich kam spät nach Hause, blieb meistens bis 3 Uhr morgens auf, aber niemandem kümmerte das. Meine Noten wurden schlechter, meine einzige Freundin wandte sich von mir ab. Ich war einsam und kurz davor, auf die schiefe Bahn zu kommen.

Aber eines Abends dachte ich nach. Was passieren würde, wenn es so weiterging. Ich würde später einen schlechten Job bekommen – wenn überhaupt einen -, kein Geld haben, keine Freunde. Ich riss mich zusammen und ging früher ins Bett, lernte für Arbeiten und machte brav meine Hausaufgaben. Meine Noten wurden besser und ich schaffte es tatsächlich mal, eineZwei zu bekommen. Meine Freundin wollte nur nicht mehr mit mir befreundet sein, was mich damals ziemlich mitnahm, aber dann zog sie um und war vergessen.

Mom und Dad stritten schon, seit ich denken kann. Es ging wirklich jedes Mal um dasselbe Thema. Einmal war es mir zu blöd gewesen und ich hatte sie angeschrien. Und zwar so richtig laut. Ich war total wütend auf mein Zimmer gegangen, weil sie mich nicht einmal beachtet hatten. Es ist ein Wunder, dass die Nachbarn sich noch nicht beschwert hatten. Vielleicht waren sie taub oder wollten es gar nicht erst hören. Jedenfalls hatte ich dann Hausarrest, aber ich war eh immer zu Hause, also war es mir im Grunde völlig egal.

Ein plötzliches »Verschwinde oder du wirst es bereuen!« riss mich aus meinen Gedanken. Ich blinzelte und starrte Mom an. Sie hielt eine Pfanne in der Hand und schwenkte sie drohend vor Dad. Dieser war bleich geworden und blieb still. Er bewegte sich nicht sondern sah zu mir herüber. Ich kochte innerlich und leckte mir über die trockenen Lippen. Sie schmeckten salzig. Dann erst bemerkte ich, dass es meine Tränen waren, die mir übers Gesicht liefen.

Ich schluckte und unterdrückte einen nahestehenden Heulkrampf. Selbst wenn sie sich nicht gut um mich kümmerten, waren sie dennoch meine Eltern.

»Raus«, knurrte Mom. »Verschwinde!«

Dad's Gesicht nahm einen sonderbaren Ausdruck an. Darin sah ich Schmerz, Wut und Belustigung. Ich hoffte mich beim letzten zu täuschen.

»Warum sollte ausgerechnet ich gehen? Ich habe dieses Haus von meinem Vater geerbt und sonst niemand.« Er lächelte hinterhältig.

All die Jahre hatte Mom recht gehabt. All die Zeit, wo er abends noch mit Freunden ausging… Wahrscheinlich hatte er nicht mal Freunde. Langsam brodelte ein heißer Zorn in mir und er wurde immer stärker.

Mom sah aus, als würde sie gleich mit der Pfanne auf ihn losgehen. »Du hast nicht das Recht dazu«, brachte sie hervor. »Du kannst mich nicht einfach rausschmeißen.«

»Du irrst dich, Clara«, sagte er. Ich erstaunte, wie schnell er sein Image wechseln konnte. »Meinem Vater gehörte das Haus. Ich habe es geerbt und nicht du.«

Ich bebte vor Wut. »Was fällt dir eigentlich ein?«, fauchte ich. »Du kleines…«

»Von mir aus kannst du bleiben, Zoey. Aber sie«, er deutete auf Mom, die stocksteif dastand, »geht.« Dad's Züge hatten sich seltsam verzerrt. Als ob er der Herrscher war und wir die dreckigen Diener, die er herumkommandieren konnte, wie er wollte.

Ich traf meine Entscheidung sofort. »Du kannst von mir aus zur Hölle fahren, aber ich bleibe bei Mom.«

»Sei nicht so frech.« Er nahm meiner fassungslosen Mutter die Pfanne aus der Hand und legte sie auf den Herd. »Ich würde sagen ihr packt eure Koffer und verschwindet.«

»Du bist ein Arschloch.« Das wollte ich schon immer mal sagen, wenn ich ehrlich war. »All die Jahre habe ich dir vertraut, meinem Vatervertraut. Aber du hast es nicht verdient, du hast gar nichts von mir verdient. Du kümmerst dich nicht um mich, hast es auch nie getan und jetzt schmeißt du uns einfach raus! Ich frage mich, wie du so leben kannst. Wegen dir bin ich hier! WEGEN DIR!«, brüllte ich völlig außer mir. »Weil du meine Mutter liebst! Weil ihr beschlossen habt, ein Kind zu bekommen! Wie kannst du es wagen meine Mutter auch nur einen Tag zu betrügen! Sind wir dir gar nichts Wert?«

Während ich sprach umfasste mich ein derartiger Zorn, dass ich kaum noch denken konnte. Ich wollte auf ihn losgehen, aber Mom hielt mich fest und die Wut verebbte ein wenig. Sie beugte sich zu mir hinunter und flüsterte mir »Er ist es nicht Wert« ins Ohr. Sie hatte Recht, aber trotzdem wollte ich ihn verletzen. Ich wollte ihm wehtun, weil er uns wehtat. Weil er mir wehtat.

»Ich gebe euch eine Stunde.« Schnaubend machte er kehrt und verließ ohne ein weiteres Wort die Küche.

Sprachlos starrte ich ihm hinterher. Wie konnte er einfach nichts dazu sagen?
Ich griff nach der Pfanne und schmiss sie mit voller Kraft gegen die Tür. Sie fiel scheppernd zu Boden und hinterließ eine Walnussgroße Delle im Holz. Das hatte ich gebraucht; einfach meine Wut rauszulassen.

Mom ging ein paar Schritte nach vorne und fasste die Delle an. »Wie hast du das gemacht?«, flüsterte sie und drehte sich verwundert zu mir um.

Ich trat zu ihr und betrachtete mein Werk. Jetzt, wo ich die Stelle genauer ansehen konnte, erkannte ich, dass es eigentlich unmöglich war. Es war nur eine Pfanne gewesen und so stark hatte ich sie nun auch nicht geworfen. Sehr komisch.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte ich. Dann legte ich einen Arm um Mom's Schulter und sah sie an. Ihr Ausdruck war seltsam nachdenklich. Als sie bemerkte, dass ich sie ansah blinzelte sie und ich sah nur noch eine tiefe Traurigkeit.

»Das wird schon wieder«, sagte ich und hoffte, dass es auch so sein würde.

Mom schüttelte langsam den Kopf. »Pack die wichtigsten Sachen ein. Ich besorge uns ein Hotel für die Nacht. Solange überlege ich, wohin wir ziehen können.«

»Er wird es irgendwann merken«, versicherte ich ihr. »Es wird merken, dass er einen großen Fehler gemacht hat.«

Sie sah mich mit müden Augen an. »Hoffentlich hast du Recht.«



Dark WhisperWhere stories live. Discover now