1. Der Geist der Vergangenheit

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Vor ewigen Zeiten, da lebte in einer Kleinstadt hier im hohen Norden eine wunderschöne, geheimnisvolle Frau. Wie sie richtig hieß, ist nicht überliefert und auch nicht weiter von Belang. Wir wollen sie einfach so nennen, wie sie damals alle nannten: Madame Buchmarie.

Madame Buchmarie war hauptberuflich Bibliothekarin und eine Frau im besten Alter. Sie hatte schulterlange, leuchtend rote Haare, die sie gerne offen zur Schau trug. Und Augen, so blau wie das Meer. Sie trug bevorzugt einfache, weiße Kleidung, denn sie war im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen im Dorf eine eher lebensbejahende Kämpfernatur. Und sie lachte viel, wobei sich immer die schönsten Grübchen an ihren Mundwinkeln bildeten, die man sich vorstellen kann. Die Menschen, vor allem die Frauen im Ort beneideten sie dafür.

Ihre Bibliothek war „klein, aber fein", wie sie selber zu sagen pflegte. Da gab es Bücher mit den wundersamsten Geschichten von fernen Welten, Helden und Bösewichtern aller Arten, die schon so manch einem das Gruseln gelehrt hatten.

Und etwas gab es, dass Madame Buchmarie's Bibliothek besonders machte: Sie öffnete immer erst um zwölf Uhr mittags. Denn Madame Buchmarie liebte es, morgens aufzustehen, ausführlich zu frühstücken und dann ein wenig zu an ihren eigenen Werken zu schreiben, denn das war neben der Bibliothek ihre große Leidenschaft. Sie schrieb mit Vorliebe Kurzgeschichten im Stil der klassischen Märchen. In ihren Büchern wimmelte es nur so vor ausgefallenen Figuren und Ereignissen. Dort gab es böse Hexen, die mit Vorliebe kleine, unschuldige Kinder fraßen, mächtige, blutrünstige, bizarr hässliche Herrscher, männliche wie weibliche, die ihre Völker tyrannisierten und betrogen, indem sie etwa mit völlig dahergeholten Versprechen Mauern als Landesgrenzen errichteten. Es gab edle Könige und Prinzen, die oft vergeblich um das Herz einer schönen Prinzessin buhlten, da sie nicht so perfekt aussahen wie die Vorzeigeprinzen auf den edlen Bildern in den Schriften, die nur nachts gelesen wurden, da die vornehmen Frauen nicht ihre Gesichter verlieren wollten. Wichtig war ihr dabei vor allem der Humor, gerne auch bis ins Makabere, aber immer mit einer positiven Botschaft am Schluss. Da legte sie Wert drauf. Denn deprimierende Ereignisse ohne gutes Ende gab es in der Realität ja schon genug, fand sie. Da wollte sie nicht noch einen draufsetzen.

Doch es gab Gerüchte um sie, vor allem um ihren Namen. Dass der erste Teil von ihrer Leidenschaft für Bücher herrührte, war klar. Der zweite, so sagte man sich, stammte daher, dass eine junge Frau namens Marie vor vielen hundert Jahren hier gelebt hatte, die aufgrund des Mordes an ihren Kindern zum Tode verurteilt und erhängt wurde. Die Frau hatte ebenfalls rote Haare, das zeigte auch das einzige noch vorhandene Gemälde von ihr, das als Mahnmal in der Kapelle des Ortes hing. „Sieh mal, genau solche wie die Buchmarie", meinten die Leute immer. Viele von ihnen verachteten beide deswegen. Manche meinten, sie hätten des Nachts den Geist der Frau im Ort umherschwirren sehen und ihn für die Buchmarie gehalten. Aber nachweißbar war das nicht.

Die Buchmarie litt darunter. Schließlich war sie doch eine ganz normale Frau. Zumindest versuchte sie, sich normal zu verhalten. Wenn sie um die Mittagszeit ihre Bibliothek öffnete, standen ihre beiden Mitarbeiter meistens bereits vor der Tür und warteten geduldig. Es handelte sich hierbei um einen Mann mittleren Alters und eine junge Frau. Sie hieß Malaika, doch viele Leute riefen sie nur spöttisch „Balalaika" wie das Instrument, denn sie war Russin, was man ihr auch ansah.

Für den Mann war die Arbeit in der Bibliothek ein Nebenjob. Hauptsächlich arbeitete er auf einem alten Gutshof bei einem Bauern etwas außerhalb des Ortes, weshalb ihn alle nur als „den Knecht" bezeichneten. Er war spanischer Herkunft, das sah man an seinem dunklen Teint, deswegen wurde er von den meisten Menschen im Dorf als „unrein" bezeichnet und gemieden. Manche spuckten sogar nach ihm, wenn sie ihm auf der Straße begegneten. „Hau ab, du Missgeburt des Teufels. Geh dorthin zurück, wo du herkommst" schrien sie ihm nach. Einmal, als er mit der Kutsche des Bauern unterwegs war, hatten ein paar Unbekannte ihm mit Schweineblut das Wort „Drecksbrut" hinten drauf geschmiert. Kurzum: Er wurde von vielen einfach nur gehasst.

Malaika erging es da nicht anders. Ihre Mutter war vor einigen Jahren gestorben, „bei einem Unfall" wie es hieß. Sie war als Jugendliche zunächst in ein Heim gekommen, wo sie, da sie schon damals einfach gerne ihr eigenes Ding machte, verdroschen wurde, gerne auch mit einem Schürharken. Sie ergriff die Flucht und stand irgendwann vor dem Haus der Buchmarie und fragte, ob sie einen Job und etwas Essbares für sie hätte. Seitdem unterstützte sie zusammen mit dem Knecht die Buchmarie in der Bibliothek. Die drei passten einfach gut zusammen. Einmal sagte die Buchmarie: „Ach ihr beiden. Was würde ich ohne euch bloß machen? Ich hätte wohl viel weniger zu lachen."

So ging die Zeit ins Land. Alles lief seinen gewohnten Gang. Doch eines Tages geschah etwas, womit die Buchmarie nicht gerechnet hatte. Sie sortierte gerade die Regale in der Bibliothek durch, als sie plötzlich auf ein Buch stieß, dass ihr unbekannt war. Es war alt, in schwarzem Leder gebunden und so dick, wie sie es noch nie bei einem Buch zuvor gesehen hatte und ohne Titel. Sie schlug es auf und blätterte darin, als ihr auffiel, dass die Seiten leer waren.

„Was ist das denn bitte? So ein komisches Buch habe ich ja noch nie gesehen", dachte sie bei sich, klappte es zu und wollte es gerade in den nächsten Mülleimer tun, da geschah etwas: Das Buch fing an zu beben und sich zu winden, so stark, dass sie es fallen ließ. Es krachte auf den Boden und sprang einige Meter weiter, bis es ruhig und aufgeschlagen liegenblieb.

Die Buchmarie erschrak dabei und kroch hastig hinter das nächste Regal. Vorsichtig lugte sie hervor, in der Angst, das Buch könnte zurückfliegen. Erst langsam schritt sie weiter voran und näherte sich, so vorsichtig, wie sie nur konnte. Als sie bei dem Buch ankam, wurden ihre Augen noch größer. Denn auf der ersten Seite bildete sich ein in alten Runen gehaltener, handgeschriebener Schriftzug:

„Lies mich. Bitte."

Die Buchmarie wusste nicht, wie ihr geschah. „Was ist bloß los mit mir? Ich muss einen Knall haben. Das kann doch alles nicht sein!"

Verunsichert sah sie sich um, ob nicht vielleicht noch jemand anwesend war. Doch sie war allein. Erst zögerte sie, dann, ganz langsam, nahm sie das Buch und blätterte mit zitterigen Händen um. Auf der Folgeseite bildeten sich langsam die ersten Wörter. Mit aufgerissenen Augen las sie, was da stand:

„An Dich, die Du das hier wirst lesen.

Ich bin ein' Frau, kein böses hässlich' Wesen.

Die Menschen, sie verdammten mich für eine Tat,

die nie von mir begangen ward.

Sie jagten und bespuckten mich,

als sei ich wertlos und widerlich.

So wurd' ich aufgrund von Missgunst und der Hatz

letzte Nacht gehängt am Rathausplatz.

Unschuldig und voller Schmerz

wird Ruhe nicht kehren in mein Herz.

Solange, bis Du das hier wirst gewahr.

Denn nur Du allein bist so herzensklar

und hast die Gabe, rein zu seien und auch zu bleiben,

und meine Geschichte neu zu schreiben.

Auf das sie niemals wiederholen wird sich.

Liebste Buchmarie, ich meine Dich."


Mit schmerzlich' Gruß und weinender Note,

Marie, der Geist, die Untote

© 2019 Johannis Röhrs

Das Geheimnis der Madame BuchmarieWhere stories live. Discover now