London

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Es war kalt in London zu dieser Jahreszeit. Zwar hatte die Sonne den Winter längst vertrieben, aber trotzdem zeigte sich der Atem noch in kleinen Wölkchen in der Luft. Beck fröstelte und zog sich die Kapuze ihres Umhangs noch tiefer ins Gesicht. Im Arm hielt sie ihre neuen Kleider fest umschlungen, als wären sie ein seltener Schatz. In gewisser Weise waren sie das auch. Ihr Vater hatte sie bei ihrem letzten Besuch in London vor zwei Jahren in Auftrag gegeben. Er war der Meinung, dass jedes junge Fräulein eine Abendgarderobe besitzen sollte, auch wenn sie selten die Gelegenheit bekam, sich in Schale zu werfen.

Ihr Vater war Freibeuter im Auftrag der englischen Krone, der einzige Grund, wegen dem sie hier geduldet wurden und anlegen konnten. Denn streng genommen war ihr Vater und seine Crew nur eins: ein Haufen verlauster Piraten. Sie schmunzelte und rügte sich selbst, während sie durch die verlassenen Gassen Londons eilte. Sie sollte nicht so streng mit ihnen sein, schließlich war sie selbst Teil der Crew und die Crew war ihre Familie.

Schließlich bog sie in die Straße ein, die direkt zum Hafen führte. Ihr Schiff, die Fairytale, war ein stolzes Schiff, dass zwischen den Handelsschiffen am Anleger auffiel wie ein bunter Hund. Sie war etwas größer, als die anderen und definitiv auch stärker bewaffnet. Dafür war sie flacher und wendiger, als die üblichen Handelsschiffe, was ihnen bei Seegefechten eindeutig zum Vorteil war. Bei ihrer letzten Reise waren sie auf eine spanische Armada gestoßen, die der Fairytale übel zugesetzt hatte. Sie konnten grade noch entkommen und sich in den Hafen von London schleppen lassen. Sie mussten den ganzen Winter in England verbringen um alle Schäden an der Fairytale auszumerzen. Zu ihrem Glück war der König besessen von den Raubzügen, die Captain James Smith unternahm und kam für die Kosten der Reparatur auf. Ihr Vater konnte es natürlich nicht lassen sich auch davon etwas zu ergaunern und setzte die Kleider, die Beck grade vom Schneider geholt hatte, mit auf die Rechnung. Die letzten Arbeiten waren auf diese Woche geschätzt und damit der morgige Tag zum Tag der Abreise erkoren worden. Ihr Vater hasste es an Land. Auf See war er ein Gesetzloser und ein freier Mann. Der Freibeuterbrief machte ihn immun gegenüber der Justiz der Krone. Zumindest galt das für die Verbrechen, die auf See begangen wurden, nicht für die Gaunereien an Land.

Ihr wollener Umhang triefte vor Wasser, als sie endlich das Schiff erreichte. Trotz des Unwetters war die Crew tapfer dabei die letzten Vorräte zu verladen, damit es bald endlich losgehen konnte. Kaum einer beachtete sie, als sie den Kai entlang sprang. Ihre Füße rutschten über die durchweichten Planken, doch geschickt bahnte sie sich ihren Weg durch die arbeitende Crew. Kaum war sie unter Deck, zog sie den schweren Mantel von ihren Schultern und streckte sich. Mit jedem Regentropfen hatte er sich noch mehrvollgesogen und war schwerer geworden. Sie konnte es nicht erwarten wieder abzulegen. So sehr sehnte sie sich doch nach der eisblauen und spiegelglatten See  in der Karibik. Die See hier war rau und aschfahl. Auch wenn sie in England ihre Kindheit verbracht hatte, waren die karibischen Inseln und die Fairytale ihre eigentliche Heimat.

Beck fand ihren Vater über die Seekarten in seinem Arbeitszimmer gebeugt. Seinen Dreispitz hatte er abgelegt - ein höchst seltener Anblick. Vorsichtig klopfte sie an den Türrahmen: "Verzeih die Störung Vater." Sie zögerte. Er bedeutete ihr hereinzukommen, ohne auch nur den Blick von den Karten zu heben. "Was gibt es, Liebes?" "Ich war beim Schneider. Die Kleider passen wie angegossen. Ich danke euch." Freudig sah er nun doch auf und zeigte ein strahlendes Lachen. "Für meine Tochter tue ich doch alles", er zwinkerte. "Jedes junge Fräulein sollte selbstverständlich auch eine Abendgarderobe besitzen." "Ich freue mich schon sehr darauf die Kleider zu tragen". Erst jetzt bemerkte sie den Kurs, der auf den Seekarten vermerkt war. "Tortuga?", fragte sie. Sie legte den Kopf schief um den Kurs genauer zu verfolgen. "Aye", gab ihr Vater zurück. "Neugierig wie eh und je. Ich habe bereits unser nächstes Ziel vor Augen. Aber dafür brauche ich die Hilfe von jemandem. Ich hoffe, dass derjenige in Tortuga zu finden ist." Beck runzelte die Stirn. "Auf was seid Ihr aus, Vater?" "Wir machen uns auf die Suche nach dem legendären Schatz von Blackbeard." Seine Augen strahlten. "Liebes, es heißt, bevor die Queen Ann's Revenge in Beaufort sank, soll er seinen Schatz auf Jamaika versteckt haben. Für die Suche brauche ich jemanden, der sich mit den Legenden der See genaustens auskennt. Ich will verdammt sein, wenn ich den Taugenichts nicht in einer Seemannskneipe in Tortuga aufspüren kann."

Das Flüstern des MeeresWhere stories live. Discover now