Kapitel 1

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Es war vorbei. Das war Fabien Marchals einziger Gedanke, als die Soldaten des Königs ihn wie einen Ganoven abführten. Nun, er schätzte, dass er jetzt in den Augen der restlichen Welt etwas viel schlimmeres war: ein Verräter. All die Jahre, in denen er der treue Diener des Königs gewesen war, schienen plötzlich vergessen. All die grausigen Befehle, die er ausgeführt hatte, waren für den König Selbstverständlichkeit, doch ihn würden sie für immer verfolgen. Manchmal fragte er sich, ob er ein Monster war. Und wenn ja, seit wann. Als er seine Stelle als Polizeichef angenommen hatte, oder als er seinen ersten Mord begangen hatte, den ersten Gefangenen abgeführt hatte oder zum ersten Mal einen Menschen gefoltert hatte? Jahrelang hatte er mit seiner Schuld leben können. Marchal war extrem gut darin geworden, sich einzureden, dass er das alles nur zum Schutz von König Louis getan hatte. Dem Mann, dem er nicht nur wegen seiner beruflichen Stellung, sondern auch der Tatsache, dass er Franzose und somit sein Gefolgsmann war, zu absolutem Gehorsam verpflichtet war.  Und außerdem, ganz ehrlich, wenn er es nicht getan hätte, müsste jetzt eben ein  anderer mit der Schuld leben. Also warum sollte er es, begabt und fähig wie er war, nicht tun?

All diese alten Gedankenmuster waren ihm so vertraut wie die Inneneinrichtung des Waisenhauses, in dem er nach dem gewaltsamen Tod seiner Eltern aufgewachsen war. Allein schon dies gesehen zu haben, reichte völlig, um einen Menschen bis an sein Lebensende zu traumatisieren. Doch als Junge hatte er bereits viel mehr ertragen müssen. In diesem Waisenhaus standen Missbrauch und schlechte Behandlung an der Tagesordnung. Also war er weggerannt, hatte sich irgendwie alleine auf den Straßen von Paris rumgeschlagen. Andere Männer wären zerbrochen, wenn sie dasselbe hätten durchmachen müssen wie er. Doch Fabien hatte es überstanden. So hatte er es mental auch mit seinem Beruf gehandhabt. Ein weiteres Trauma war nicht mehr als ein weiterer Stein in seiner Mauer der Resistenz. Oder der emotionalen Kälte, je nachdem, wie man es nahm. Er verstand schon, warum er für andere Menschen ein Monster war. Sogar ihm selbst war es zu viel geworden. In dem Moment, in dem er sich entschlossen hatte, seine Waffen vor dem König auf den Tisch zu legen, hatte er den Entschluss gefasst, ein neuer Mensch zu werden.

Es war töricht gewesen, zu glauben, dass er alle hätte retten können. Die Flucht aus Frankreich wäre ihm gelungen, beinahe. Wenn Jeanne nicht gewesen wäre. Sein neu gefundenes Gewissen, geboren in dem Augenblick, in dem er Sophie und die Prinzessin Elonor trotz des offensichtlichen Verrats, den er damit beging, hatte ziehen lassen, hatte ihn zur Umkehr gezwungen. Jeanne war ein guter Mensch und hatte es nicht verdient, für ein Attentat auf den König, das zum Scheitern verurteilt war, hingerichtet zu werden. Er wollte sie aufhalten und sie somit retten, doch vergebens. Sie war tot, genau wie ihr Bruder und viele weitere unschuldige Bürger Frankreichs. Es hatte nur dazu geführt, dass er jetzt in dieser dreckigen Gefägniszelle saß. Die Situation hatte jedoch eine gewisse Ironie, wenn man bedachte, wie viele Menschen er in Zellen wie diese eingesperrt hatte. Hätte er einfach weiterreiten und dieses in ihm aufkeimende Bedürfnis, unschuldige Menschenleben zu retten, ignorieren sollen? Wenn er es getan hätte, wäre er vielleicht schon bei Sophie. Bestimmt hatte sie es geschafft, sich und die Prinzessin in die Niederlande zu bringen wo sie hoffentlich in Sicherheit waren. Es brach ihm das Herz, dass er es nie erfahren würde. Außerdem musste er sich fragen, ob sie ihn überhuapt liebte, oder ob alles zu ihrem eigenen Schutz nur gespielt war. Fabien hatte keinen Zweifel daran, dass es Sophie gewesen war, die die Königin vergiftet hatte. Sie hatte selbst zugegeben, eine Spionin des Kaisers von Österreich zu sein. War es nicht lustig, dass dieses ach so unschuldige Mädchen zu einer solchen Tat fähig war? Nun, sie war eben erwachsen geworden und musste irgendwie überleben. Ach, wie sehr er sich doch nur wünschte, bei ihr zu sein.

Er schloss seine Augen und dachte an ihre Schönheit, wie weich ihre Haut war, wie sanft ihre Küsse. Als er sie wieder öffnete, sah er die Dunkelheit der Zelle, in der lediglich Ratten ihm Gesellschaft leisteten. Fabien spürte, wie sich in seinem Auge eine Träne bildete und diese langsam seine Wange hinunterlief. Hier würde er also den Rest seines Lebens verbringen, wenn man ihn nicht vorher hinrichtete. Er wünschte es sich fast, damit dieses Elend endlich ein Ende hatte. Das hatte er nun von dem Versuch, ein guter Mensch zu sein, dachte er bei sich. Anstatt Jeanne zu retten, hatte er sein eigenes Leben zerstört. Oder zumindest das, was davon noch übrig war.

Leaving Versailles behindWhere stories live. Discover now