2. DEZEMBER 1831, FRANKREICH

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DEZEMBER 1831, FRANKREICH

Die Frau eilte durch die verlassenen Dorfstraßen. Die Kirchenglocke hatte soeben Mitternacht geschlagen, aber die Dunkelheit war nicht vollkommen. Die dicke, glitzernde Schneeschicht, reflektierte das blasse Licht des Vollmondes über ihr und besiegte die Schwärze der Nacht. Schneeflocken tanzten vor ihren Augen, hielten mitten in ihrem Tanz inne, als ob der eisigkalte Kuss des Winterwindes sie dazu gebracht hätte in der Luft zu erstarren, nur um dann noch wilder in taumelnden Kreisen um sie herum zu wirbeln. Sobald die Schneeflocken sich zu ihren bereits gefallenen Brüdern und Schwestern am Boden gesellten, verwandelten sie sich unverzüglich in harte Eiskristalle, die eine geschlossene, knisternde Diamantdecke bildeten.

Die schweren Winterstiefel der Frau durchstießen bei jedem Schritt die Eisschicht. Das knackende Geräusch klang wie splitterndes Glas und hallte durch die Stille der Winternacht. Die Fellmütze fest über die Ohren gezogen, den Mantelkragen hochgeschlagen, schritt die Frau entschlossenen Schrittes dahin und sah nicht so aus, als ob sie bereit wäre der feindseligen Witterung mehr Beachtung als unbedingt nötig zu schenken.

Selbst der unheimliche Nebelmond über ihr vermochte nicht ihren Pragmatismus zu durchdringen. Er war ihr schlicht gleichgültig. Ganz im Gegensatz zur restlichen Dorfbevölkerung, welche noch Stunden zuvor die Geburt des Unglücksmondes mit wachsendem Unbehagen, ja gar Angst, verfolgt hatten. Bereits bei seinem Auftauchen am Himmel war der Mond in dieser Nacht von einer leuchtendweißen, nebelartigen Korona umgeben. Und mit fortschreitender Stunde bildete sich ein unheilverkündender, blutroter Ring um diesen weißen Kranz. Die Dorfältesten sprachen flüsternd von einem schlechten Omen, die Jüngeren begannen zu beten, hoffend, dass das vom Mond angekündigte Unglück an ihnen vorbeiziehen würde, ohne ausgerechnet sie zu treffen. Die Kinder verkrochen sich ausgesprochen früh ohne die üblichen Proteste unter ihren Bettdecken. Nicht so diese Frau. Die Stimmung und das Getuschel ihrer Mitmenschen ignorierend, ging sie weiter ihren üblichen Pflichten nach.

Sie war Hebamme, sie kannte sich mit Geburten aus und ganz sicher hatte sie sowohl schlimmere als auch unheimlichere Dinge erlebt als diesen Mond. Das Nachtgestirn befand sich weit weg, ihr eigenes Unglück war zu nah, zu irdisch, als das sie so weit oben danach suchen müsste. Vor vielen Jahren hatte ihr das Schicksal das genommen, was für sie das Wichtigste auf der Welt gewesen war: ihre Tochter. Sie, die unzähligen Kindern half den Weg in diese Welt zu finden, hatte ihr einziges Kind nicht behalten dürfen. Seitdem gab es wenig, was ihren schützenden Panzer aus Gleichgültigkeit zu durchdringen vermochte. Sie aß, sie trank, sie schlief, sie ging der Tätigkeit nach, die zu verrichten sie gelernt hatte, aber nichts berührte ihr Herz. Es gab weder Freude noch Furcht, weder Lachen noch Tränen, nur mechanische, menschliche Bedürfnisse: Essen, Trinken, Schlafen... Und eben arbeiten.

Von einer Geburt am anderen Ende des Dorfes kommend, wollte sie jetzt nur so schnell wie möglich nach Hause. Sie drückte soeben die Türklinke an ihrer kleinen Hütte auf - ihr Haus war nie abgeschlossen, was sollte man ihr denn wegnehmen? - als sie Rufen und eilige Schritte hinter sich hörte. Aufseufzend drehte sie sich um und blickte der Gestalt entgegen, welche sich ihr durch den Schnee hastend näherte. Es dauerte, bis sie dem Gestammel einen Sinn entnehmen konnte und es dauerte noch ein paar Augenblicke länger, bis sie das Mädchen vor sich erkannte.

„... bitte, Sie müssen ganz schnell kommen! Meine Herrin... das Kind kommt... oh, das Kind kommt einfach nicht...", stammelte das Mädchen mit vor Kälte erstarrten Lippen.

„Ich komme soeben von einer Geburt, Mädchen", unterbrach die Hebamme unwillig den Redeschwall.

„Aber Madame hat große Schmerzen, alles ist voller Blut und das Kind kommt nicht raus und ich weiß einfach nicht mehr, was ich tun soll."

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