Gegenwart, 23.9.2018

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Ich sitze an meinem Schreibtisch. Es ist Sonntagmittag. Ich arbeite an meinem Autoren-Blog und versuche, eine Schreibübung zu einem glücklichen Abschluss zu bringen. Es harzt mehr, als ich es mir am Anfang vorgestellt hatte. Aber dazu bin ich ja Autor. Ich kann Hindernisse wegschreiben, Welten erschaffen und einstürzen lassen und Liebende zusammenbringen. Langsam macht sich ein kleiner Hunger breit. Aber wir wollen erst am Abend essen, da wir permanent mit unserem Gewicht zu kämpfen haben.

Ein seltsames Kribbeln der Kopfhaut veranlasst mich, aus dem Fenster zum Waldrand hoch zu schauen. Dort steht ein Mann, der in Richtung unseres Hauses blickt. Komischer Typ. Kommt mir irgendwie bekannt vor und wirkt doch so unwirklich, wie von einer anderen Welt. Sein wallendes, weißes Haar fällt ihm über die Schultern. Er trägt einen dunkelgrauen, bodenlangen Mantel oder Umhang aus einem seltsam glitzernden Material, ein gelbes Hemd, weiße Hosen – und weiße Handschuhe.

Nun setzt er sich in Bewegung. Obwohl er sich wie ein Gehender bewegt, scheint er sich ständig um mehrere Schritte zu verschieben, ohne wirklich den Boden zu berühren. Ich schüttle den Kopf und reibe mir die Augen. Leide ich unter einem Tagtraum oder Halluzianationen?

Als ich wieder hinaussehe, steht er neben unserem Wohnwagen an der Straße und winkt zu mir herunter.

Ich öffne das Fenster. „Kann ich Ihnen helfen?", rufe ich hinaus. Nun erkenne ich sein Gesicht, obwohl er ein gelblich eingefärbtes Radfahrervisier trägt. Oder so was in der Art. Diese Nase und diese Zähne! Der Typ sieht aus, wie mir aus dem Gesicht geschnitten. Ist das vielleicht ein Verwandter von mir? Neulich ist mir auf einer Geschäftsreise einer begegnet, der mein Bruder hätte sein können.

„Hey, Martin! Nicht erschrecken, ich bin's", sagt er. Seine Stimme klingt wie meine, wenn ich mich selber in einem Video sprechen höre. Und die Haltung seiner beiden Daumen! Wie ich, mein Bruder und mein Vater. Das ist doch verrückt. Er muss ein Verwandter sein.

„Ich komme jetzt zu dir runter. Bietest du mir ein Glas Wasser an? Hahnenburger aus dem Kühlschrank." Er setzt sich langsam in Richtung Eingangstür in Bewegung. Rasch öffne ich die Tür und da steht er vor mir. Mich erfasst das unheimliche Gefühl, in einen lebenden Spiegel zu blicken.

Meine Stimme quietscht. Ich räuspere mich. „Kennen wir uns?" Mehr bekomme ich nicht heraus?

Er lacht entspannt. „Keine Angst, es ist alles im grünen Bereich. Hol du mir erst mal ein Glas Wasser, dann reden wir im Wohnzimmer." Ohne zu zögern, schreitet er durch den Gang und verschwindet durch die dänische Scheibentür. Wo sind Elisabeth und Achim? Ach ja, auf einem kurzen Spaziergang im Wald. Ich bin mit diesem Verrückten also allein. Na toll.

Ich trage das Glas mit gekühltem Leitungswasser zur Couch, wo sich der Typ in meinen Sessel gesetzt hat. Dabei trägt er immer noch seinen seltsamen Umhang. Nur die Handschuhe hat er ausgezogen. Sie liegen sauber gefaltet auf dem Couchtisch.

Er nimmt das Glas entgegen. „Danke", sagt er grinsend und nimmt einen Schluck. Er sieht aus wie ich. Habe ich vielleicht doch einen Doppelgänger, der mich hier zum Narren hält?

„Okay, stop. Jetzt ist es gut. Wo ist die Kamera? Ich gebe mich geschlagen. Können Sie jetzt erklären, worum es bei dieser Maskerade geht?"

Er stellt das Glas auf den Tisch und lehnt sich zurück. „Keine Maskerade und keine Kamera, Martin. Setz dich bitte auf Elisabeths Sessel." Meine Stimme klingt so anders. Voller, majestätischer, befehlsgewohnt. Mechanisch führe ich seine Anweisung aus. Ich schaue ihn gespannt an.

„Ich bin hierher gekommen, um dir ein Geheimnis anzuvertrauen, das dein Leben retten wird und dich und deine Familie vor dem Untergang bewahren kann. In wenigen Jahren wird die ganze Welt auf den Kopf gestellt. Die Usurpatoren steigen auf die Erde herab und versuchen sie zu plündern."

Der BesucherWhere stories live. Discover now