Kapitel 1

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 Kapitel 1 - Mein ganz normales Leben

Piep, piep, piep… Blind fasste ich mit der Hand unter meiner Bettdecke hervor um den Störenfried zum Schweigen zu bringen. Blöderweise stieß ich dabei meinen verhassten und doch essentiellen Wecker von meinem Nachttisch. Piep, piep, piep… Genervt stöhnend sprang ich auf, machte den Wecker aus und tapste ins Bad. Zu der unangenehmen Eigenart meines Jobs (den ich zugegeben, lieber machte als alles andere, obwohl ich dabei zu einer unchristlichen Zeit aufstehen musste) gehörte leider der Beginn der Dienstzeit um sechs Uhr morgens. Ich sah in den Spiegel. Ich hatte Glück gehabt, dass ich in Krankenhaus meiner Kleinstadt, in der ich schon mein ganzes Leben verbracht hatte (um genau zu sein, dreiundzwanzig Jahre und sieben Monate), überhaupt einen Job als Krankenschwester bekommen zu haben. Unsere Stadt war nicht klein, aber auch nicht groß. Jedoch nicht so, dass jeder jeden kannte. Ich gähnte und versuchte Ordnung in meine, durch den Schlaf verwuschelten, roten Haare zu bringen. Meine Haare hatten schon immer eine komische Farbe, die sich nicht ganz als rotblond definieren ließ. Das hatte ich von meiner Mutter (zumindest sagte das mein Dad, denn ich kannte sie gar nicht) genauso wie ich die grünen Augen von meinem Vater geerbt hatte. Da meine Haare sich heute gegen mich verschworen hatten, schnappte ich mir kurzerhand einen Haargummi und band sie mir mit einem langweiligen Pferdeschwanz zurück. Ich erledigte meine Morgentoilette und verließ pünktlich um 5:30 meine kleine Wohnung.

Mit meinem kleinen, gebrauchten Opel Astra brauchte ich nur zwanzig Minuten um zum Krankenhaus zu kommen. Obwohl alles außen so ruhig aussah, wusste ich bereits, dass es drinnen schon seit den frühen Morgenstunden drunter und drüber ging. Ich kam gerade herein, als ich fast von einem Krankenhausbett angefahren wurde. „Morgen Claire.“, begrüßte mich der väterlich dreinblickende Arzt Dr. Rot (was für ein Zufall, dass sein Nachname genau zu seinem Beruf passte). „Morgen Doc.“, sagte ich und lächelte höflich, steuerte um das Bett herum und ging zum Schwesterbüro, das wir uns aufgrund des Platzmangels (das Krankenhaus müsste dringend ausgebaut werden, aber dazu hatte im Moment keiner das Geld) mit den Assistenzärzten teilen mussten. Was die anderen Schwestern mit Begeisterung erfüllte, mich jedoch nicht. Der Grund für diese Begeisterung saß grad lässig in der „Café-Ecke“, wie wir den kleinen Tisch mit den vier wackligen Stühlen immer nannten, und studierte irgendeine Akte von irgendeinem Patienten, der anscheinend erst gestern eingeliefert worden war. „Morgen, Claire.“, der Arzt hob seinen Kopf und sah mich an, „Wie geht es Ihnen?“. Ich war die einzige Schwester momentan im Büro. Was für ein Mist. „Morgen McGrey.“, sagte ich höflich, „Mir geht es gut, danke.“. Doktor Jamie McGrey, vermutlich sechsundzwanzig, dichtes goldbraunes Haar, silberfarbene Augen und ein Lächeln, dass jede andere, mit Ausnahme von mir, zu Kreuze kriechen – oder vielleicht in sein Bett bekommen - ließ. Missgelaunt zerrte ich ein Paar Latexhandschuhe aus dem Spender. Ich wollte mich schon nach dem Plan für die Zimmervisite umdrehen, doch meine Sicht wurde versperrt. McGrey hatte sich, ohne dass ich es mitbekommen hatte, aus seinem Stuhl erhoben und studierte gerade den Plan. „Wie es scheint“, sagte er gedehnt und warf mir ein Lächeln zu, „sind Sie heute dazu eingeteilt mit mir auf Visite zu gehen. Claire.“ Das konnte doch nicht wahr sein. „Ist das normalerweise nicht Tina?“ Tina war vollkommen verknallt in unseren lieben Assistenzarzt. „Ja, aber Tina hat sich heute krank gemeldet.“ „So ein Pech.“, sagte ich, „Für Tina natürlich.“. Ehrlich gesagt, wusste ich gar nicht, was mich an Dr. McGrey so nervte. Immerhin konnte er ja nichts dafür, dass er eben aussah wie ein Filmstar und Charisma hatte. Vielleicht ging mir auch dieses Ich-kann-jede-haben-Verhalten auch auf die Nerven. Andererseits konnte er vermutlich auch nichts dafür, dass seine Art mich einfach zu Tode nervte. Also kramte ich mein aus der High-School verblichenes Schauspieltalent hervor und setzte ein Lächeln auf. „Dann mal los.“, sagte ich, nahm ihm das Klammbrett aus der Hand und steuerte zum ersten Zimmer auf der Liste.

Gegen Mittag ging ich in die Cafeteria um etwas zu essen zu bekommen. Kaum zu glauben, dass der Vormittag grad mal herum war, und ich so müde war, als wäre es zehn Uhr abends. Vielleicht lag es auch daran, dass die morgendliche Visite diesmal länger gedauert hatte als sonst. McGrey hatte auch wirklich mit jedem der Patienten Smalltalk führen müssen! Seine soziale Ader war wirklich zum auf den Mond schießen, wenn ich das mal so sagen darf. „Hallo Claire.“ Beinahe hätte ich die Begrüßung überhört. Patric lächelte mich freundlich an und deutete auf den Platz gegenüber von mir. „Ist da noch frei?“ „Setz dich.“, ich lächelte zurück. Im Gegensatz zu Dr. McGrey war Patric nur halb so nervig. Er war ein Pfleger in einer anderen Abteilung als ich (so bekam ich ihn nur in der Mittagspause und am Ende meiner Schicht zu sehen) und dazu noch mein Nachbar, was allerdings völliger Zufall war. „Wie war dein Tag derweil so?“, fragte er. Ich verdrehte die Augen. „Verhältnismäßig okay.“, erwiderte ich und brach ein Stück von meinem Baguette ab. „Verhältnismäßig?“, er hob die Augenbrauen. „Naja, ich musste mit McGrey auf Visite gehen.“ „Oh, unser Romeo in der Chirurgie?“, fragte Patric und grinste schief, seine karamellbraunen Augen glänzten verschmitzt. Ich musste gegen meinen Willen lachen. „So könnte man es bezeichnen.“, erwiderte ich. „Ist er so schlimm?“ Ich wurde wieder ernst. „Nein, eigentlich nicht.“, antwortete ich, „Es ist nur so… mir geht seine Art auf die Nerven, da kann er gar nichts dafür.“ Patric zuckte mit den Schultern und begann seinen Sandwich zu essen. „Und?“, versuchte ich das Gespräch am Laufen zu halten, „Was hast du heute so gemacht?“ „Ach, nur das Übliche.“, meinte er ohne mich anzusehen, „War nichts Neues dabei.“ „Ach so.“ Wir setzten stillschweigend unser Mittagessen fort, aber es war ein angenehmes Schweigen. Danach warf ich einen Blick auf die Uhr. „Ich muss los.“, erklärte ich Patric, „Also, man sieht sich.“ „Ja, bis später, Claire.“ Ich desinfizierte meine Hände und ging Richtung Küche zurück. Dort wartete schon Lilly, eine mindestens fünfzig Jahre alte Schwester, auf mich. „Beeil dich, Schätzchen, unsere Patienten haben Hunger.“, erklärte sie und schob den Speisewagen los.  

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