Kapitel 1

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Es war nun fast sechs Monate her, dass ich Pristina verlassen hatte. Heute war Weihnachten. Die Schneeflocken stoben vom Himmel und bedeckten die Straße mit einem leichten Flaum. Laza und Valeria waren vor wenigen Minuten zum Gottesdienst aufgebrochen. Mich haben sie hier gelassen. Seitdem ich bei ihnen bin, meide ich die Öffentlichkeit. Ich fühle mich nicht wohl in der Anwesenheit anderer Leute.

Während ich die würzige Fülle in den Truthahn stopfte, warf ich immer wieder den Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite. Dort wohnte eine ältere Frau, die mir jeden Tag ihren Rosinenkuchen brachte, bevor sie in die Messe ging. Miriam war die Einzige, der ich vertraute. Meine Geschichte kannte sie nicht. Sie hatte nie danach gefragt und das tat gut. Ich merkte ihr zwar an, dass sie bereits ahnte, was sich hinter den Türen dieses Hauses abspielte, aber sie war nicht allein deshalb so gut zu mir.

Als die Glocken zur Messe läuteten und sie immer noch nicht aufgetaucht war, machte ich mir Sorgen. Das Licht brannte doch, war sie krank? Gedankenverloren räumte ich das Geschirr aus dem Schrank, um den Tisch zu decken. Dabei rutschte eine Tasse aus dem Fach und knallte mir auf das Schlüsselbein. Schmerzerfüllt kniff ich die Augen zusammen. Mit einem lauten Klirren zerbrach sie auf dem Küchenboden. Fluchend sammelte ich die Scherben auf. Es war Lazas Lieblingstasse gewesen. Das würde Ärger geben, mächtig Ärger. Dabei hatte ich ohnehin schon genug blaue Flecken. Fieberhaft überlegte ich wo ich die Scherben verstecken sollte. Letztendlich schlüpfte ich in meine Strickjacke und warf sie in die Mülltonne der Nachbarn.

Das Bellen eines Hundes sauste durch das Schneegestöber. Ich spitzte die Ohren. Da war noch ein anderes Geräusch. Ich spähte durch die Hecke in Miriams Vorgarten. Frische Fußspuren waren dort im Schnee. So groß, wie sie nur von Männern stammen konnten. 

Ein gellender Laut ließ mich zusammenzucken. Hastig drehte ich mich um. Hinter mir saß Miriams Kätzchen und blickte mich mit großen Augen an. Ihr Fell war von der Kälte so dicht, dass es aussah wie ein gigantischer Schneeball. Ich wollte es hochnehmen, doch es wich zurück und schlüpfte durch die Holzlatten des Gartentors. Verzückt schaute ich ihr hinterher, da bemerkte ich, dass die Haustür ein Stück offen stand. Ich stutzte, da glaubte ich ein leises Wimmern zu hören. Ich gab mir einen Ruck und sprang über das Gartentor. Die Klingel hatte noch nie funktioniert und Schlüssel hatte ich sowieso keinen.

„Miriam?", rief ich und öffnete die Haustür mit einem Knarzen. „Bist du hier?"

Ich bekam keine Antwort. Mein Herz klopfte wild gegen meine Brust. Mir war das nicht ganz geheuer.

„Ich komm jetzt rein, ja?"

Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, da sah ich sie. Sie lag reglos auf dem Perserteppich in der Küche. Eine große Platzwunde war auf ihrer Stirn. Erschrocken rannte ich zu ihr und zückte mein Handy. Während ich mit dem Notarzt telefonierte, fühlte ich ihren Puls. Zum Glück war er nicht auffällig.

„Miriam!", rief ich und klatschte ihr auf die Wange, doch sie zeigte keine Reaktion.

Nervös suchte ich ihren restlichen Körper nach Verletzungen ab. Am Handgelenk hatte sie ein großes Hämatom, was sie sich wohl beim Sturz zugezogen hatte. Gebrochen war es offensichtlich nicht, aber ich fragte mich, wo sie die Platzwunde überhaupt her hatte. Ich deckte sie mit meiner Strickjacke zu und blickte mich in der Küche um.

Plötzlich hörte ich Schritte. Ein aufgebrachtes Geflüster drang von draußen durch die Tür. Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Es war albanisch und ich kannte diese Stimme. 

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So hier ist das erste Kapitel:) Wer glaub ihr, sind denn diese mysteriösen Männer? Und was wollen sie bei Miriam?

Im Namen des Kanun (Frederik Seehauser/Klinik am Südring)Kde žijí příběhy. Začni objevovat