Der Napoleon-Komplex

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„Ich dachte, Sie wären der Postbote.", erklärt sie und bleibt in einigen Abstand zu mir stehen. Sie hat ihren Kopf schief gelegt und mustert mich.

„Bin ich nicht.", sage ich dümmlich und atemlos. Die gesamte Luft ist aus meinem Körper entwichen.

Ich finde keine Worte mehr.

Theresa trägt eine dunkelblaue, enge, sehr enge, Jeans. Außerdem hat sie eine karierte Flanellbluse an, dessen Enden sie zu einer Schleife gebunden hat, sodass ein kleiner Teil ihres flachen Bauches sichtbar ist. Ihre Haare hat sie zu einem hohen, unordentlichen Dutt gebunden, aus dem sich einzelne Strähnen gelöst haben und in ihr Gesicht fallen. Ich bemerke, dass ich auf ihre Füße starre weil sie barfuß läuft.

„Ich kann auch Socken oder Schuhe anziehen wenn Ihnen das lieber ist.", bietet sie mir an und blickt prüfend in meine Augen.

„Was?", krächze ich und räuspere mich.

„Einige Menschen sollen ja was gegen Füße haben. Wenn Sie dazu gehören, kann ich gerne Schuhe anziehen.", erklärt sie sich. Ich weiß, dass sie es ernst meint und kann trotzdem ein Schmunzeln entdecken, dass sie zu unterdrücken versucht.

„Nein, ich habe nichts gegen Füße.", sage ich kopfschüttelnd und versuche mich an einem gewinnenden Lächeln. Ich habe mir für heute vorgenommen, besonders nett und freundlich zu Theresa zu sein und damit will ich auch gleich anfangen.

„Ok.", sagt sie und lässt mich dann stehen. Sie verschwindet einfach hinter der Ecke von der sie gekommen war und über meinem Kopf prangt ein riesiges Fragezeichen.

„Kommen Sie?", ruft sie von irgendwo aus dem Haus über Ed Sheeran hinweg.

„Können wir vielleicht erst mal für gute Musik sorgen?", rufe ich zurück und erinnere mich dann erst daran, dass ich ja nett hatte sein wollen. Die Musik, die sie hört, zu beleidigen, zählt wahrscheinlich nicht dazu.

„Gott, Sie sind keine zehn Sekunden da und gehen mir schon auf die Nerven.", höre ich sie lachen. Es ist ein schönes Geräusch und ich fühle mich erleichtert, dass sie es so locker nimmt. „Mein Handy ist auf der Musik-Station im Dienstzimmer. Machen Sie sich einfach an was Ihnen gefällt."

Ich zögere nicht lange und gehe in die Richtung aus der die Musik dröhnt. Als ich das Dienstzimmer betrete, entdecke ich sofort die besagte Musikanlage und scrolle mich interessiert durch ihre Mediathek.

Ach du scheiße, denke ich, als ich entdecke, dass ihre Lieblings-Playlist ausschließlich aus Liedern von AnnenMayKantereit besteht. Die hasse ich. So richtig. Nicht nur so, wie ich total witzige, unwitzige, Whatsapp-Status-Sprüche oder meine Chefin hasse. Halbherzig und einfach aus Prinzip.

Abgesehen davon scheint sie eine Vorliebe für britischen Neo-Folk zu haben. Die inzwischen weltbekannten 'Mumford and Sons' sind ebenso zu finden, wie die weniger bekannte, aber dafür begnadete 'Laura Marling'. Damit kann ich zumindest leben.

Beim genaueren hinsehen bemerke ich, dass ihr Geschmack überdies überraschend breit gefächert ist. Ich finde deutschen Hip-Hop, genauso wie Metallica und die allgegenwärtige Mainstream-Scheiße.

Als ich klassische Geigen-Stücke entdecke, entscheide ich mich dazu Antonio Vivaldis 'Vier Jahreszeiten' abspielen zu lassen.

Schon bei den ersten Klängen wird das von mir geliebte Stück jedoch unterbrochen. „Ich hätte nicht gedacht, dass Sie tatsächlich frech genug sind, in meinem Telefon rumzustöbern."

Als ich mich zu Theresa umdrehe, lehnt sie belustigt am Türrahmen. Es sieht aus, als ob sie schon eine Weile dort stehen würde. Allerdings tue ich dies als blankes Wunschdenken ab. Es gibt keinen Grund für sie mich zu betrachten.

Point of no returnWhere stories live. Discover now