Kapitel 1

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Ich lief durch die dunklen Hausflure, den Blick auf den Boden gerichtet. Mein Körper war in einen langen Mantel gehüllt, um mich gegen die bevorstehende Kälte zu wappnen. Es war zwar bereits Frühlingsanfang, aber nachts war es immer noch erstaunlich kühl. Schnellen Schrittes näherte ich mich dem Stiegenaufgang und machte mich auf den Weg in das oberste Stockwerk.

 Das Haus hatte insgesamt 3 Stockwerke, wobei sich im obersten nur die Zimmer der Bediensteten und der Zugang zum Dach befanden und genau dorthin wollte ich. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend schlich ich leise die Treppe hinauf. Ich konnte die Strecke bereits im Dunkeln zurücklegen, da ich jeden Abend denselben Weg nahm. 

Unter meinen Füßen knackte eine lose Holzdiele. Ich blieb angespannt stehen und lauschte. Verdammt, heute war ich besonders unaufmerksam. Normalerweise wusste ich, wo sich die losen Holzdielen befanden und vermied es, diese zu berühren, aber irgendetwas war heute Abend anders. Niemand schien mich gehört zu haben und so schlich ich weiter, dieses Mal besonders vorsichtig.

 Oben angelangt führten mich meine Füße geradewegs zum Ende des Ganges. Für das bloße Auge unsichtbar und gut versteckt, trat ich auf die Türe zu, die mich auf das Dach führen würde. Ich öffnete die Tür und ein kalter Luftzug wehte mir entgegen. Draußen war es bereits dunkel, nur die Sterne erhellten die Nacht. Es war Neumond. 

Gerade als ich den ersten Schritt auf das Dach machen wollte, hörte ich das Quietschen einer sich öffnenden Tür. Das konnte nur eines bedeuten. Jemand der Bediensteten hatte mich doch gehört und wollte nachsehen, wer so spät noch wach war. Schnell sprang ich auf das Dach und zog im letzten Moment die Tür lautlos hinter mir zu. Ich lehnte mich erschöpft an das alte Gemäuer und versuchte kein Geräusch zu machen. Nach einigen Minuten lauschte ich an der Tür, konnte aber nichts hören. Ich beschloss, dass es sicher genug war, weiter zu gehen. Das war verdammt knapp gewesen.

Ich kletterte geschickt zu meinem üblichen Platz und setzte mich auf die Decke, die ich vor einigen Wochen hier hingelegt hatte um es mir gemütlich zu machen. Wie magisch, zog es meinen Blick hinauf zu den Sternen. Ich liebte es, nachts hier hoch zu kommen und einfach nur die Sterne zu beobachten. Besonders gefiel es mir, wenn Neumond war, denn dann konnte das Licht des Mondes das Leuchten der Sterne nicht verfälschen. 

Ich starrte mehrere Minuten in den Himmel und merkte, wie sich mein Körper langsam entspannte und mein Herzschlag sich beruhigte. Dies war der einzige Ort, an dem ich mich fallen lassen konnte. Hier war es nicht wichtig, ob ich beliebt war, welche Klamotten ich an hatte oder wie die anderen mich sahen. Hier oben war ganz allein mein Ich wichtig. Ich ließ meine Gedanken schweifen und versuchte die Energie, die die Sterne ausstrahlen in mich auf zu nehmen. 

Immer wenn ich hier auf dem Dach saß und die Sterne beobachtete, fühlte ich mich besonders, einzigartig und wertvoll. Ich hatte das Gefühl, dass ich endlich zu Hause war. Besonders gut gefiel mir das Sternenbild, dass ich vor zwei Monaten wie durch Zufall entdeckte. Die Sterne waren an dieser Stelle so angeordnet, dass es aussah als würde sich eine Hand hoch in die Weite des Weltalls strecken und mit dem Finger auf einen besonders hell leuchtenden Stern zeigen. Ich versuchte mir einzureden, dass dieser Stern all die lieben Menschen symbolisierte, die ich bereits verloren hatte. 

Zum einen meine Großeltern, die ich über alles geliebt hatte und doch nie richtig kennenlernen durfte, da sie bei einem Autounfall starben, als ich gerade erst einmal neun Jahre alt war. Zum anderen erinnerte mich der Stern an meine beste Freundin Katlyn, die erst vor einem halben Jahr an den Folgen ihrer Chemotherapie starb. Diese hatte sie so geschwächt, dass sie keine Kraft mehr besaß, um gegen die Krankheit anzukämpfen. Der Gedanke an Kat und mich, wie wir jede freie Minute gemeinsam verbrachten, seid wir kleine Kinder waren, stimmte mich traurig. 

Mein Psychologe sagte mir, dass es noch länger dauern würde, bis ich ihren Tod verarbeitet hätte, womit er vollkommen recht behielt. Nie würde ich verstehen, wie jemand so besonderes wie Kat von einem auf den anderen Tag für immer verschwinden konnte. Kat hatte Leukämie und ihre einzige Chance zu überleben war die Chemotherapie. Das sagten zumindest die Ärzte. Dass es gleichzeitig ihren Tod bedeuten könnte, daran hatte ich nie gedacht, erst dann, als es bereits zu spät war. 

Das war auch der Grund, warum wir umgezogen waren. Meinen Eltern war es egal, wo wir wohnten, Hauptsache sie hatten ein großes Haus, genug Platz für ihre vielen Angestellten und konnten in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen. Was mit mir passierte schien ihnen schlichtweg egal zu sein. Um es in einem Wort auszudrücken, mein Leben war gerade ziemlich beschissen. Noch lange saß ich dort auf meinem Lieblingsplatz und hing meinen Gedanken nach. 

Immer wieder tauchte ich in meine Erinnerungen ab und dachte über die Zeit vor Kats Tod nach. Damals war alles noch einfacher gewesen als jetzt, aber das Schicksal hielt anscheinend einen anderen Weg für mich bereit. „Ich vermisse euch und werde immer an euch denken. Danke dass ihr jeden Tag über mich wacht. Ich liebe euch", flüsterte ich in die Nacht hinaus und schickte einen Luftkuss hinauf zu den Sternen. Mit diesem Ritual hatte ich vor einem halben Jahr angefangen und es durfte nicht mehr fehlen. 

Danach machte ich mich wieder auf den Rückweg. Im Gegenteil zu vorher, schaffte ich es dieses Mal unauffällig zurück zu meinem Zimmer. Dort angekommen zog ich schnell den Mantel aus, hängte ihn zurück in den Kasten und ließ mich erschöpft in meine Kissen fallen. Die Schlafsachen hatte ich bereits an und so musste ich nur noch meine Schuhe ausziehen und konnte mich endlich schlafen legen. 

Bevor ich die Augen schloss und mich dem Schlaf hingab, sah ich auf das Familienfoto auf meinem Nachtkästchen und wünschte mir wie so oft, die alten Zeiten zurück. Damals vor dem Tod meiner Großeltern, waren wir noch eine richtige Familie. Meine Eltern arbeiteten zwar viel, aber hatten trotz alldem noch genügend Zeit für mich, ihre Tochter. Erst nach dem Autounfall hatte sich alles geändert. 

Sie fingen an, immer mehr und mehr zu Arbeiten und verbrachten kaum noch Zeit mit mir. Ihr schlechtes Gewissen versuchten sie durch Unmengen an Taschengeld und Geschenken zu beruhigen, aber so viel sie mir auch schenkten, es brachte mir meine Eltern nicht zurück. Früher dachte ich immer, ich hätte etwas falsch gemacht, wäre vielleicht nicht brav genug gewesen, bis ich mit zunehmendem Alter verstand, dass, was auch immer machen würde, nichts an der Situation änderte. 

Es war nicht meine Schuld und deshalb würde ich ihnen auch nicht helfen können. Ich konnte schließlich nicht meine Großeltern zurückbringen. Eine einzelne Träne rollte mir die Wange hinab und bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, schlief ich ein, das Bild meines jüngeren lächelnden Ich vor Augen.

Sternenkuss- Unter Sternen erwacht #GoldenAward18, #brilliants18, #BeginnerAwardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt