Die Obstfliege

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Eine Obstfliege labte sich an einem aufgeschnittenen Apfel in Oma Olgas Küche. Oma Olga hatte an diesem Tag ihren neunzigsten Geburtstag geistig rüstig, aber körperlich geschwächt gefeiert. Sie saß am Küchentisch und war froh, dass endlich Ruhe in der Wohnung eingekehrt war, durch die kurz zuvor Kinder, Enkel und Urenkel wie ein Wirbelwind hindurch gezogen waren. Sie hatte sich mit langsamen Bewegungen den Apfel zugeschnitten, um ihn zu essen. Sie sah auch mit Lesebrille Obstfliege nicht. Zu stark getrübt war ihr Blick, was es ihr schwer machte Gesichter zu unterscheiden. Sie konnte die Menschen durch ihre Stimmen unterscheiden, wenn sie laut genug sprachen.

„Ich werde bald sterben," jammerte sie vor sich hin und strich sich mit den arthrotischen Fingern durch das schüttere, graue Haar. So klagte sie schon seit 20 Jahren.

„Jammere nicht über ein Unglück, das noch nicht eingetreten ist," piepste die Obstfliege, „meine Mutter hat mir erzählt, dass Du schon gestern darüber geklagt hast und sie ist schon tot. Also hast Du länger gelebt als sie."

Oma Olga holte ihre Lupe aus dem Küchenschrank, um zu sehen, wer mit sprach.

„Du bist ja eine Obstfliege," bruttelte sie, „du lebst ja nur einen Tag."

„Siehst du, ich lebe wahrscheinlich viel kürzer als du, bin glücklich mit deinem süßen Apfel und verschwende meine Zeit nicht mit Jammern." Die Obstfliege blickte in das riesige Auge mit der Lupe und saugte noch einen Tropfen Apfelsaft auf.

Oma Olga schüttelte sich ein wenig und und krächzte dann nachdenklich: „was du in deinem kurzen Leben für große Weisheiten entwickelst, erstaunt mich. Vielleicht muss ich tatsächlich froh sein, dass ich schon so viele Tage leben durfte. Manche Tage waren glücklich." Sie dachte an die Zeiten als sie verliebt war und als die Kinder aufwuchsen. Dann aber fiel ihr wieder ein, dass sie jeden Morgen Schmerzen in den Knochen hatte, meist alleine war und sich nur noch mühsam bewegen konnte: „Dafür musst du nicht so lange leiden, wie ich."

Die Obstfliege flog hoch und landete auf dem Tellerrand. „Wenn deine Lebenszeit kurz ist, kommst du nicht auf den Gedanken zu jammern. Wenn du aufhörst positiv zu denken, bist du schon tot."

Oma Olga dachte über diesen Satz nach. Es stimmte sie hatte aufgehört am Leben teilzunehmen und dachte nur an das Ende. So schien alles keinen Sinn zu haben. Sie musste sich wieder etwas vornehmen. Sie wollte dies mit der Obstfliege besprechen, aber sie konnte sie weder sehen noch hören. In krakeliger Schrift notierte Oma Olga auf einem Zettel: „Man sollte seine Lebenszeit nicht mit Jammern vertun."

Dann brummelte sie: „das will ich mir merken."

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⏰ Last updated: Nov 01, 2017 ⏰

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