kleines Kompliment

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Ich stieß die Ladentür auf und trat nach draußen auf die Straße. Sofort umströmte mich die kühle Dezemberluft. Ich zog meinen Schal enger, eher gesagt verkroch ich mich tiefer in der Wolldecke um meinen Hals, und lief los in Richtung Bahnstation. Ich wollte nur noch schnell in die Bahn und dann nach Hause und mich mit einer Tasse voll mit mit schwarzem Tee an meinen Schreibtisch setzen, Weihnachtsmusik hören und für Stunden in meinem Bullet Journal versinken.

Ich stapfte durch den Schneematsch und in meinem Kopf fing ich an über dieses miese Wetter zu meckern. Typisch Dezember, nach einem kalten November mit ein wenig Schnee, gibt es im letzten Monat des Jahres nur noch Schneeregen und alles ist nass aber nicht kalt genug, damit man den Winter richtig genießen kann. Außer am frühen Morgen, wenn man bei jedem Schritt fast auf die Nase fällt, weil es in der Nacht dann doch kalt genug war und das Wasser auf den Straßen gefriert. Und etwa eine Woche vor Weihnachten schneit es dann und es sieht alles ganz toll aus und man hegt die Hoffnung auf weiße Weihnachten, aber etwa zwei bis drei Tage vorher schmilzt dann alles wieder weg. Ja, genau in dieser Zeit waren wir gerade, es ist Donnerstag, 22.12. morgen werde ich den Zug nach hause nehmen und die Gedanken an Universität und alles andere hier in der Stadt lassen. Wie ich mich auf die Stille freue, jedes Mal wenn ich nach hause komme eine wahre Erlösung.

Ich bin nun endlich auch an der Bahnstation angekommen, meine Bahn sollte in etwa drei Minuten hier sein. Ich schaue auf die Anzeigetafel und lese: S9 um 11:23 Uhr fällt aus, nächste Bahn 11:43 Uhr – Fantastisch! Was sagt man dazu; es konnte wohl kaum noch schlimmer werden. Nicht nur, dass meine Bahn ausfiel, ich fuhr auch noch von einer Station aus an der es wirklich nur den Bahnsteig gab, keine Läden oder Cafés in der Nähe, in denen man sich aufhalten könnte um die Zeit nicht in der Kälte verbringen zu müssen. Und doch, mein Schicksal überraschte mich mal wieder.

Nach etwa 5 Minuten wartete ich nicht mehr allein. Ein junger Mann gesellte sich zu mir auf den Bahnsteig. Er setzte sich auf eine Bank, etwa zehn Meter von mir entfernt. Er sah gut aus. Ich schätzte ihn auf Anfang 20, mein Alter. Er hatte kurze dunkelbraune Haare, trug eine Brille und hatte tolle, blaue Augen. Als er an mir vorbeilief musste ich feststellen, dass er mehr Herbstkleidung trug, und ihm der Schneematsch nicht als Grund ausreichte um warme Sachen anzuziehen. Braune Lederjacke über einem weißen Strickpullover, schwarze Jeans, mit Löchern und weiße Sneaker. Stilvoll, das musste ich zugeben. Unwillkürlich schaute ich an mir selbst herunter und betrachtete meine Kleidung, die ich zur Verteidigung gegen das Wetter ausgewählt hatte: Fetter Strickpullover, das hatten wir ähnlich entschieden, ich trug darunter aber noch ein T-Shirt, er mit Sicherheit nicht, darüber trug ich meinen fetten Wintermantel, vermutlich doppelt so dick wie seine Jacke. Dann kam meine Jeans, ohne Löcher, dafür mit fetten Wollsocken darunter. Und dann kamen meine Boots, gefüttert mit Lammfell, und mit Wollstulpen darüber, damit ich auch ganz sicher sein kann, damit möglicher kalter Wind, definitiv nicht unter meine Hose ziehen kann. Muss ich erwähnen, dass bei dem jungen Herren etwa drei Zentimeter Platz zwischen Sneakersocken und Hose war? Eigentlich nicht oder? Ach ja, und meine bereits erwähnte Wolldecke hatte ich natürlich um meinen Hals gewickelt. So viel Wolle, ob verarbeitet oder nicht, wie ich trug, hätte ich einem Schaf Konkurrenz machen können.

Keine Ahnung ob er meinen Blick bemerkt hatte oder ob er mich einfach genauso unter die Lupe nahm, wie ich es bei ihm gemacht hatte. Ich starrte zurück, er sollte bloß nicht denken, dass ich das einfach so über mich ergehen lassen, oder es auch noch genießen würde. Aber es schien ihn gar nicht zu interessieren. Er schaute mir sogar kurz direkt in die Augen und dann wanderten seine Augen zu meinen Beinen, und auf einmal begann er zu lächeln, während er da so meine Beine inspizierte. Kurz fühlte ich mich ein wenig unwohl. Schließlich hatte er mir erst ins Gesicht geschaut und grinste jetzt meine Beine an. Aber sein Blick sah irgendwie aus, als würde ihm gefallen was er sah. Fitnessstudio lohnt sich also. Als Memo abgespeichert, wenn ich mal wieder nach Motivation suche um überhaupt hinzugehen.

Ich schaute weg, musste ich bei dem Gedanken auch grinsen, und er sollte ja wie gesagt nicht denken, ich würde das hier genießen, auch wenn ich es tat.

Mein Blick wanderte zur Anzeigetafel, 11:27 Uhr. Wow, ich hatte gehofft es wäre schon mehr Zeit vergangen. Aus Langeweile wanderte mein Blick die Gleise entlang und aus dem Augenwinkel sah ich, dass ich immer noch angestarrt wurde. Oder eben schon wieder. Ich versuchte ihn nicht zu beachten, aber das Gefühl beobachtet zu werden ging nicht weg. Ich wandte mich wieder zu ihm und mein Gefühl wurde bestätigt, er starrte.

Jedes Mal wenn ich ihn ansah musste ich feststellen, dass er mich bereits ansah. Irgendwann begann er zu lächeln. Er schaute mir dabei dann auch ins Gesicht. Ich konnte nicht anders, der Kerl war gruselig. Irgendwie. Manche sagen vielleicht, ich sollte mich geehrt fühlen, dass er mich so interessant fand. Ganz ehrlich, mehr gab es an der Bahnstation aber auch wirklich nicht zu sehen. Den Bahnsteig, die Gleise auf der einen Seite und auf beiden Seiten hohe Blechwände für den Lärmschutz, an manchen Stellen mit Graffiti besprüht.

Um 11:38 Uhr fuhr eine Bahn ein, nicht meine leider. Aber er stand auf und lief auf die Bahn zu. Als er an mir vorbei lief, lächelte er mir ins Gesicht und sagte: „Mir gefallen deine Haare. Wirklich. Steht dir echt gut."

Ich war komplett überrumpelt, keine Ahnung wie mein Gesicht aussah als ich irgendwie tatsächlich ein „Danke" zu Stande brachte. Er stieg in die Bahn und lief zu einem freien Platz. Ich folgte ihm mit meinem Blick. Er setzte sich, die Bahn fuhr an und grinste mir noch einmal zu. Und diesmal grinste ich zurück.

Er hatte ja keine Ahnung, dass ich gerade frisch vom Frisör kam und morgen wahrscheinlich wieder aussehen würde, wie ein gerupftes Huhn, aber das kleine Vermögen, das ich beim Frisör gelassen hatte, schien sich gelohnt zu haben. Und auf meinem restlichen Heimweg konnte ich dem grauen Schneematsch fast etwas Gutes abgewinnen.

Kurze Auszeit bitteWhere stories live. Discover now