Enteignete Tränen

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Scheinheilig.

Die Menschen sind scheinheilig.

Die Blicke auf all die Züge, die vorbeifahren; der voller Menschen sind. Nein, keine Menschen. Verlorene Seelen. Geboren um zu sterben.

Kalt, unbarmherzig schaut die Masse durch uns hindurch. Keiner sieht uns, keiner sieht wie wir in den Zug gedrängt werden. Ausgehungert, verletzt, kaputt. Kaputte Körper, kaputte Seelen.

Verloren.

Nein, nicht verloren. Wenn etwas verloren ist, sucht man es. Was verloren ist, hat einen Wert. Wir hatten nie einen Wert. Wir sind nichts, Staub, und das werden sie aus uns machen. Und alle wissen das. Sie wissen das, doch tun nichts.

Der Zug rollt los, es ist eng, kein Platz, kein Platz für gebrochene Seelen. Alte, Kranke, Kinder; alle stehen dicht neben einander. Es gibt kaum Luft. Nicht einmal die Luft gehört uns. Uns gehört nichts. Keine Kleidung, kein Wille, keine Luft, keine Hoffnung, keine Träne, die ein Kind weint. Wir haben nichts, wir sind nichts. Es gibt keine Gerechtigkeit für uns.

Jeder kennt uns, jeder weiß es, niemand tut was. Es ist gerecht, es soll so sein.

Wir sind nichts. Es gibt keine Gerechtigkeit. Sie sehen es, sie sehen uns, aber sie nehmen uns nicht wahr, sehen durch uns hindurch. Wir sind Luft, Staub, nichts.

Lügen, alles Lügen. Nichts, was erzählt wird, ist wahr. Nichts.

Jeder sieht es, jeder leugnet es.

Keiner fragt, keiner redet. Hinter Mauren verschwinden wir. Mauern, Zäune, Maschendraht, Auschwitz. Weg, tot, zu Staub zerfallen. Kein Wiedersehen, wir werden getrennt. Es ist richtig, es ist fair.

Keine Nahrung. Arbeit, Arbeit, Arbeit, Gas zu fressen.
Wir sind kaputt, kaputte Seelen, zerbrochen, Dreck. Man schlägt mit dem Vorschlaghammer auf unsere Seelen ein. Zermahlen zu feinem Staub, geblasen in die Luft segeln wir zu tausenden dem Himmel entgegen und landen auf der Straße. Häuser, Autos, spielende Kinder. Wir sind nichts, wir sind schwarzer Schnee. Keine Seele mehr, alles weg, enteignet.

Sinnlose Hoffnung, sinnlose Tränen. Wasser erzeugt Leben, Wasser und Salz auf Staub erzeugt nichts, es verschwindet.

Wir sind verschwunden.

Wir sind tot.

Wir sind nichts.

Alle haben es gesehen, alle haben es gewusst, niemand gewollt. Alle bereuen, alle weinen, alle sind laut nachdem sie so lange geschwiegen haben.

Scheinheilig, verlogen, heuchlerisch!

Krieg, Krieg, Gerechtigkeit! Bomben treffen immer die Richtigen!

Es gibt keine Gerechtigkeit, das wissen nur wir. Aber wir sind nichts, wir sind Staub, auf uns trampelt man herum.

Keine Angst mehr, kein Leid, kein Schmerz. Wir sind weg. Wir sind weg.

Vergessen, verlassen. Bereut, bemitleidet, beweint.

Zu spät.

Jetzt ist es vorbei.

Es ist alles vorbei.

Und doch sind sie die Selben.
Es wird nie vorbei sein. Es gibt keine Gerechtigkeit.

Enteignete TränenWhere stories live. Discover now