Sam empfängt mich mit einem breiten Grinsen. "Setz dich", sagt er und lehnt sich selbst noch etwas weiter in seinem eigenen Sessel zurück. Wie immer kann ich nicht anders, als zurückzulächeln. Irgendwie strahlt er etwas aus, das mir immer gute Laune macht. Und ich bin nicht in ihn verliebt, das weiß ich. Ich mag ihn einfach. Er ist mir wichtig, und ich bin mir sicher, dass es ihm genauso geht. Sein Verhalten mir gegenüber, das kann man nicht spielen. "So, Lilly, wie würdest du denn gerne auf die Zuschauer wirken, hm?", fragt er und sinkt dabei noch ein bisschen tiefer in seinen Sessel. "Ist das nicht deine Aufgabe?", stammele ich etwas überrascht, ich selbst habe keinen blassen Schimmer. "Nun... du bist zusammen mit deinem Zwillingsbruder hierher gekommen und nur einer von euch kann überleben. Wer soll es sein? Du hast zwei Möglichkeiten: Entweder bist du egoistisch oder selbstlos. Aber egoistisch würde nicht auf euer voriges Verhalten passen. Also..." "...selbstlos, ich weiß schon", unterbreche ich ihn. Ich versuche, etwas genervt zu wirken, obwohl ich eigentlich ziemlich froh bin, zumindest einmal die Wahrheit sagen zu können. "Wollen wir das mal probieren, Lilly?", fragt Sam. Ich weiß, dass er mich durchschaut. Ich nicke. Sam beginnt, sich gerade hinzusetzen und mir Fragen zu stellen und ich versuche sie so gut wie möglich zu beantworten. Nach gefühlten 100 Fragen klatscht Sam einmal in die Hände. "Passt!", ruft er und lässt sich wieder in seinen Sessel sinken. "Eigentlich kannst du jetzt gehen, Lilly, oder willst du noch irgendwas loswerden?" Ich zögere. Will ich noch etwas loswerden? Schon halb aufgestanden, setze ich mich stockend wieder hin. "Ähm... ich wollte nur sagen, wie dankbar ich bin, dass du uns immer hilfst. Und dass du mich immer wieder glücklich werden lässt." Sam neigt den Kopf. "Lilly, das mache ich wirklich gerne. Nicht nur, weil das mein Job ist, sondern weil ich euch beide echt gern hab." Ich spüre, wie sich ein breites Lächeln auf mein Gesicht schleicht. Und dass ich nichts dagegen habe.
Immer noch lächelnd trete ich hinaus in den Flur. Erst da fällt mir ein, dass ich nichts habe, das ich jetzt machen könnte. Jimmy ist noch bei Joanne, Sam sitzt immer noch in dem Raum, den ich gerade verlassen habe. Jetzt wieder reinzukommen, nur weil mir langweilig ist, finde ich nach so ehrlichen und emotionalen Worten unangemessen. Was soll ich also machen? Ich entscheide mich, zum Essensraum zu gehen. Dort hängt eine große Uhr an der Wand, dann kann ich mich ungefähr orientieren. Ich weiß, dass ich um neun Uhr mit Joanne angefangen habe. Nach vier Stunden, also um 13 Uhr, war ich fertig. Bis 17 Uhr hätte ich Zeit mit Sam gehabt. Um 17.30 Uhr muss ich zu Paul, um 18.30 Uhr sollen wir im Studio sein. Um 19 Uhr beginnt die Übertragung. Essen gibt es nur schnell zwischendurch.
Relativ orientierungslos laufe ich durch die Gänge, ich weiß nur die ungefähre Richtung. Als ich endlich an meinem Ziel angelangt bin, gilt mein erster Blick der Wanduhr. 15.45 Uhr. Viel zu früh. Aber irgendwo hier muss die Küche sein, also kann ich mir einfach etwas zu Essen bestellen. Doch irgendetwas hält mich zurück. Vielleicht ist es die halbstündige Pause, die mir bevorsteht, in der wir, nehme ich an, sowieso zusammen essen werden. Also setze ich mich auf einen der Stühle und genieße die Vorzüge der Einsamkeit. Das Ticken des Sekundenzeigers ist irgendwie entspannend. Ich beobachte ihn auf seiner Reise zwischen den Zahlen, ohne auf die restlichen Zeiger zu achten.

"Was machst du denn hier, Lilly?" Erschrocken fahre ich hoch. Jimmy. Ich erröte etwas. "Ich... war schon... früher fertig", stammele ich überrascht,"erschrick mich doch nicht so!" "Tut mir leid", lenkt Jimmy ein und setzt sich neben mich. "Joanne und Sam kommen gleich nach. Sie besprechen noch irgendwas", teilt er mir mit,"wir sollen uns schon Essen bestellen." "Wo denn?", frage ich. Jimmy zuckt mit den Schultern. Doch bevor er einen Vorschlag machen kann, kommt ein junger Mann mit Schürze hereingelaufen. "Was wollt ihr denn essen?",fragt er zu meiner Erleichterung. Er hält uns zwei Speisekarten entgegen, aber ich weiß schon, was ich nehme. "Ich hätte gerne Spaghetti mit Pesto", sage ich und gebe ihm die Speisekarte zurück. Er nickt und kritzelt etwas auf seinen Block. Als er merkt, dass Jimmy sich noch nicht entschieden hat, rennt er zurück, wahrscheinlich zur Küche um meine Bestellung aufzugeben. Als er wiederkommt, klappt Jimmy gerade die Karte zu. "Einen Hamburger, bitte", sagt er. "Und dafür hast du zehn Minuten gebraucht?", höre ich jemanden aus der Richtung des Eingangs fragen. Die Stimme kenne ich. Das kann nur Sam gewesen sein. Ich drehe mich herum. Er steht neben Joanne im Türrahmen. "Weißt du denn, was du nimmst?", fragt Jimmy, der jetzt ebenso zu ihm hinguckt. Doch der spielerische Streit wird durch meine Nudeln und den Burger unterbrochen. Mein Magen knurrt ein letztes Mal, dann mache ich mich gierig über das Essen her.

"Gefällt es dir?", fragt Paul. Ich sehe mich in einem normalen hellblauen Schulmädchenkleid vor einem Spiegel. "Klar", sage ich,"aber wieso auf einmal so schlicht? Wir hatten doch die ganze Zeit einen auf Hardcore-Kapitolaner gemacht!" "Genau das erwarten die Leute jetzt auch. Aber sie haben die Botschaft schon verstanden. Und jetzt kommen wir mit der zweiten Botschaft." "Die wäre?" "Dass es nicht nur diese Kapitolaner gibt, sondern auch solche wie ihr wart. Das ist schon schwerer zu verstehen, aber heute kannst du deine Botschaft mit Worten unterstreichen." Darauf wäre ich nicht gekommen. Ich war viel zu festgefahren auf unsere erste Idee. Jetzt bin ich froh, dass mir nichts eingefallen ist.
Paul flicht mein Haar zu zwei Zöpfen und trägt keine Schminke auf. "Hast du noch Fragen?" Ich überlege kurz. "Wo sind meine Schuhe?" Paul lächelt verschwörerisch, dann geht er aus dem Raum. Er kommt mit einem Paar schlichter Ballerinas wieder. Ohne Absätze. Ohne Glitzer. Einfach schwarz. Im Spiegel sehe ich, wie ich strahle. "Oh, danke", keuche ich fast nur noch. Nie hat mir ein paar schlichter Schuhe so viel Freude gemacht. Ich schlüpfe hinein und sie passen perfekt. Ich fühle mich sofort wohl. "Na dann", sagt Paul,"los geht's!"

Ein schwarz gekleideter Mann steht vor der Tür. "Lilly Eisenberg aus Distrikt 5", sagt Paul etwas unsicher. Der Mann nickt und öffnet mir die Tür. Kaum sind er und ich durchgegangen, lässt er sie ins Schloss fallen. Durch die Glasscheibe sehe ich, wie Paul mir nachwinkt, doch der Mann bewegt sich so schnell vorwärts, dass mir keine Chance geboten wird, zurückzuwinken.

Der Warteraum ist mit 24 sehr bequem aussehenden Sesseln ausgestattet, an einer Wand ist ein großer Flachbildfernseher. Jimmy ist schon da, ich setze mich neben ihn. Er trägt ein Hemd in der Farbe meines Kleides und eine schwarze Hose. Seine Haare fallen wie an einem ganz normalen Schultag. Wir reden nicht. Niemand redet. Ich versuche nur, meine Aufregung zu unterdrücken und möglichst unbeteiligt zu tun. Wir sind direkt unter der Bühne.

Irgendwann ertönt tosender Applaus und Julius Barnes betritt die Bühne. Ich höre, wie er das Publikum begrüßt und das erste Interview ankündigt. Der schwarz gekleidete Mann führt das Mädchen aus Distrikt 1 aus dem Raum. Sie trägt ein bodenlanges Kleid, ihr Haar ist kunstvoll geflochten. Wir können ihr Interview auf dem Fernseher mitverfolgen. Aber ich schaue nur halb zu.
Kaum ist sie wieder da, wird Justin Wilkinson aufgerufen. Bevor er geht, durchbohrt er mich mit einem Blick, der mich erschaudern lässt. Gratuliere, Lilly, du hast dir schon deinen ersten Erzfeind gemacht!

Die Tribute von Panem: Tödliche Entscheidung Donde viven las historias. Descúbrelo ahora