1: Aysha

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Die kleinen, federartigen Flossen an ihren Ellbogen und Knien bebten leicht, um Aysha still im Wasser zu halten. Die grünen Augen weit aufgerissen, starrte sie nach oben. Dem Licht entgegen. Hier, noch über zehn Meter unter der Oberfläche, war es zu warm. Sie sehnte sich nach den kühlen Tiefen, aus denen sie aufgetaucht war, konnte aber noch nicht zurück. Sie musste sehen, was geschah. Über ihr versuchten Krieger ihres Stammes verzweifelt, einen einzigen alten Mann zurückzuhalten. Nun gut, nicht irgendeinen Mann. Er war Altan, ihr Häuptling, bekannt für Weisheit und wohlüberlegtes Handeln. Bis zu dem Tag, an dem er von der Oberfläche zu schwärmen begonnen hatte. Seitdem war es immer schlimmer geworden, seine Geschichten, Legenden von Welten, in denen die Sonne freundlich war, Leben spendete. Aysha hatte die Geschichten zuerst genossen, hatte sich zu ihm setzen dürfen, nachdem sie die Hausarbeit erledigt hatte. Eine Ehre für eine einfache Dienerin! Doch dann wurde er zunehmend irrational. Meinte, dass sie sich selbst etwas vormachten, dass auch hier die Sonne Leben spendete. Dass sie ihn wieder verjüngen würde, wo doch seine Kiemen schon ergrauten. 

Und an diesem Morgen war er verschwunden gewesen. Als Aysha ihn wecken wollte, um zum Frühstück zu kommen, war er nicht in seinem Zimmer. Mitgenommen hatte er nichts, weder den Muschelgurt seines Amtes noch die feine Maske, die die Feadah - ihr Stamm - draussen im Wasser trugen, um besser nur mit den Kiemen atmen zu können. Das verhiess nichts gutes. Im Haus hatte ihn niemand gesehen, nur die Köchin meinte, vielleicht die Haustür gehört zu haben. Aysha fluchte, riss ihre eigene Maske von ihrem Hals über ihr Gesicht, und öffnete die erste Haustür. Diese führte in einen kleinen Flur, mehr eine Kammer, mit feuchten Wänden und Muschelbelag auf dem Boden. Sie schloss die erste Tür und öffnete die zweite, in der Wand verschwand. Sofort drang ihr ein Schwall Wasser entgegen, zusammen mit der Dunkelheit der Höhlen. Sie zog sich nach draussen und spürte, wie sofort Wasser um ihre Kiemen spielte, sie erfrischte. Klar war das alltägliche Leben im Trockenen angenehmer - man denke nur an die Mahlzeiten! Doch hier draussen war Freiheit. Die Tür schob sich von selbst wieder über ihren Rahmen, und Aysha sah nur noch die blinkenden Lichter, die Orientierung in den Höhlensystemen der Feadah ermöglichten. Ihr Vater hatte erzählt, dass nur  Mitglieder des Stammes sich an den Lichtern orientieren konnten. Fremdlinge verwendeten zu Hause andere Zeichen und würden sich verirren. 

Aysha schwamm auf die Abfolge grüner und blauer Lichter zu, die die Baracken der Krieger markierten. Nur sie wären schnell genug, den Häuptling aufzuhalten. 

"Halt. Wohin willst du?", die Worte des Türwächters drangen mühelos in ihren Kopf. 

"Zu Karahn. Es geht um Häuptling Altan, schnell!" Sie antwortete auf die gleiche Weise. Es gab Geschichten von Wesen, die durch den Mund sprachen. Für Aysha ergab dies keinen Sinn. Der Mund war da zum Essen und Atmen, und schon diese Dualität machte manchem Kind Mühe. 

Der Wächter trat zur Seite und sandte einen kleinen Lichtpuls aus seinem dritten Auge ins Innere der Höhle. Das hellblaue Licht breitete sich in Wellen aus und verblasste, wurde jedoch an einer Ecke des Tunnels wiederholt. "Dort ist der Eingang zu den Quartieren. Er wird gleich rauskommen. Was ist mit dem Häuptling?"

Aysha schüttelte den Kopf. "Er ist verschwunden - zur Oberfläche, glaube ich. Wie die alte May."

"Die war doch eh nicht mehr ganz klar! Redete seit Jahren nur vom Sterben! Wieso sollte Herr Altan so etwas tun?"

"Ich -" ein weiterer Lichtpuls erschien, diesmal von hinten im Tunnel. Gelblich. Der Gedanke erstarb in Aysha's Kopf.  "Was bedeutet das?"

"Er kommt. Mit zehn Männern. Und er ist sehr besorgt." Aysha sah das dritte Auge des Wächters vor ihr in dem gleichen Gelb flackern. Ihres sah wohl nicht viel anders aus. "Halt dich fest." 

"Was?" 

Das Wasser um sie herum begann zu wirbeln, wurde zurück in den Tunnel gesogen und riss Aysha mit sich. Sie streckte eine Hand aus und der Wächter ergriff sie. "Was ist das?"

"Sie haben das grosse Tor geöffnet. Die Krieger kommen." So schnell der Sog aufgetreten war verschwand er wieder, und elf Männer schwammen ihnen entgegen. Ihre dritten Augen leuchteten hellgrün, entschlossen. Ihr Anführer hielt bei Aysha, die anderen schwammen nach draussen und schwebten dort im Wasser, lautlos. 

Sie hatte Karahn schon viele Male gesehen, ihm in Gesprächen mit dem Häuptling sogar Fischkuchen serviert. Er war grösser als sie, eigentlich grösser als die meisten der Fedeah, mit einem ungewöhnlich runden dritten Auge - bei den meisten war es eher oval geformt. Die Seherinnen hielten dies für ein Zeichen von Intelligenz und Kampfgeist. Seine sehenden Augen waren tiefblau, wie das Meer näher an der Oberfläche. Der Oberfläche, wo - sie bebte und senkte den Blick. Er griff nach ihrem Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. "Was ist passiert?"

"Ich - ich weiss nicht genau. Der Häuptling - er ist verschwunden. Ohne seine Maske, ohne - er hat nichts mitgenommen, er - ich glaube, er ist auf dem Weg zur Oberfläche. Wie-"

"Wie die alte May, meinst du. Bist du sicher?"

Sie schüttelte den Kopf. "Nein, ich - ich spüre es irgendwie. Seit Wochen hat er von der Sonne geredet, wie May damals, ich dachte - ich dachte, er hätte ein neues Projekt, doch - es wurde immer schlimmer. Ich glaube, er denkt, dass die Sonne ihn heilen wird. Wieder jung machen."

Feine Blasen stiegen aus den Kiemen des Kriegers. "Das darf nicht sein."

"Vielleicht stimmt es auch nicht. Vielleicht kommt er gleich nach Hause und schimpft, weil sein Frühstück nicht bereitsteht. Aber-"

"Aber wenn nicht, verlieren wir hier nur Zeit." Sein drittes Auge pulste in grellem Grün, dann schwamm er nach draussen. Im Nu waren er und seine Männer nur noch Punkte in der funkelnden Dunkelheit, schwimmend, wie nur Krieger schwimmen konnten. Aysha atmete tief ein und stürzte sich ihnen nach. Der Türwächter hielt sie am Fuss fest, vorsichtig, die zarten Flossen dort nicht zu berühren. 

"Wohin gehst du? Du holst sie eh nicht ein!"

"Ich muss ihnen nach! Vielleicht hört er ja auf mich, er mag mich er - bitte lass mich los"

Der Wächter seufzte. "Sei vorsichtig. Komm nicht zu nah an die Oberfläche."

"Werde ich nicht." Er liess ihren Fuss los und sie schwamm den schwindenden Lichter der Krieger nach, durch Höhlen und Gänge, die sie seit ihrer Kindheit kannte, an den grossen Toren des Labyrinths und ihren Wachen vorbei nach draussen in den offenen Ozean. 


Und jetzt war sie hier, geblendet vom Licht der Oberfläche, zitternd von der Anstrengung, hinter den stärkeren und grösseren Kriegern her zu schwimmen und voller Sorge um ihren Herrn. Die Krieger zerrten inzwischen an ihm, während er sie verfluchte, sein drittes Auge violett pulsierend. Sie hatte diese Signalfarbe noch nie gesehen. Die Männer hatten Mühe, ihn zurückzuhalten, auch wenn sie in der Überzahl waren. Sie hatten sich alle gewundert, wie May so weit hatte schwimmen können, in ihrem Alter. Der Wahnsinn schien auch Atlan Kraft zu geben, riss ihn nach oben dem sicheren Tod entgegen. Mit einer plötzlichen Drehung riss er sich los, wobei seine rechte Kniefloss riss. Helles Blut sickerte ins Wasser und die Krieger wichen zurück. Atlan schwamm los, weiter nach oben in die Hitze und die Sonne. Ohne nachzudenken warf sich Aysha nach oben, ihm entgegen. Sie musste ihn stoppen, musste - das Wasser versengte ihr die ausgestreckten Hände, doch sie musste, musste ihn erreichen, musste - jemand packte sie um die Hüfte und zog sie zurück in die Tiefe. 

"Aysha! Stopp!" Es war Karahn, seine Arme stählern. "Du folgst ihm nur in den Tod." Aysha sank in sich zusammen, froh um das kühlere Wasser, auch wenn es ihr immer noch zu warm war. 

"Wir können ihn doch nicht einfach gehen lassen" Die Krieger um sie herum schauten nach oben, ihrem Häuptling nach. Das weisse Licht ihrer dritten Augen fast ausgelöscht durch die Brillanz der gnadenlosen Sonne. Atlan schwamm jetzt langsamer, als müsse er gegen das Gewicht des Lichts ankämpfen. Kurz unter der Oberfläche drehte er sich noch einmal um, seine blasse Haut leuchtend rot. "Wollt ihr nicht mit mir kommen?" Dann drehte er sich nach oben, brach durch die Oberfläche - und sank zurück, sank rasend schnell nach unten. Er stürzte an Ayshas Gruppe vorbei,  und Karahn versuchte, ihr die Augen zu verschliessen. Doch er war zu spät. Sie sah. Sah die schwarze, blasige Ruine, die vom Kopf ihres Häuptlings übrig geblieben war. Sah die laschen, farblosen Stränge, die mal glänzende Flossen gewesen waren. Sah seine rot gekochte Haut. Dann nur noch Dunkelheit. 

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⏰ Last updated: Apr 20, 2016 ⏰

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