Kapitel 2

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Mika ist groß geworden, denke ich mir, er ist schlau und weiß genau wie er sich verhalten muss. Er ist mein Verbündeter und ich muss mir eingestehen, dass wir vorallem durch ihn, noch nicht bei unseren abendlichen Ausflügen entdeckt wurden. Nach außen hin und besonders für die Regierung ist er ein Engel, doch in seinem Inneren broddelt der Hass, der Hass auf all die Verbote, auf die Armut hier am Rande von Halle 4. Er kann sich gut beherrschen, doch heute entdecke ich auch Hass in seinen Augen. Er verabscheut die Zählungen, das war schon immer so, aber da Morgen zum allerersten Mal seine Schwester daran teilnehmen muss, hasst er sie nicht nur, sondern er fürchtet sie. Das erkenne ich sofort: Hass und Furcht liegen in seinen dunkelblauen Augen. Tiefe Furcht. Ich werfe meine Anziehsachen aufs Bett und gehe hastig auf Mika zu, nehme ihn fest in meine Arme und er lässt sich hinein sinken. WARUM?- Warum muss es so weh tun? Unsere ganz Kindheit lang werden wir auf die Zählungen vorbereitet und jetzt da sie mir so kurz bevor stehen fühlt es sich immer noch so falsch an, wie an dem Tag, als ich das erste Mal von ihnen gehört hatte. Ich bemühe mich um Kontrolle über meinen Körper, aber meine Schultern beben sanft auf und ab. Ich muss stark sein - ich muss stark sein! Schnell streife ich mir meine weißen Socken über und schlüpfe in den Rock. Es wird Zeit sich fertig zu machen. Auf dem Weg in die Küche werfe ich kurz einen Blick in den dritten und somit letzten Raum unserer Wohnung. Mein Vater in schwarzen Morgenmantel lächelt mich noch mit müdem Blick an. Bei meinen Eltern ins Zimmer fällt nur das spärliche Licht vom Flur, es gibt kein Fenster wie bei Mika und mir. Ich fände es furchtbar in einem Raum wie diesem ohne das morgentliche Lichtspektakel zu erwachen. Mit seiner tiefen, brummenden Stimme, die ich als Kind schon immer geliebt hatte und die mein Bruder nun, da er in den Stimmbruch kam auch bald haben würde, teilte mir mein Vater mit, dass meine Mutter schon in der Küche wartete. Sie lächelte, als ich unseres kleine Gerüchekammer betrete, gibt mir einen dicken gutenmorgen Kuss und drückt mir grinsend mein Sauerstoffdrink in die Hand. Den Grund ihrer Freude entdecke ich sofort, der kleine grün leuchtende Display auf meinem Drink blingt. Die Zahl darauf springt mich förmlich an: 75% ! So viel hatte ich noch nie in meinem Leben bekommen. Jetzt musste ich auch grinsen. 75% mehr Sauerstoffgehalt bedeutete eine 75-prozentige Aufladung meines Sauerstoffchips, der in meiner linken Schulter eingelassen ist und mich seit meiner Geburt mit Lebensatem versorgt. Das heißt so viel wie mehr Sauerstoff um mich länger außerhalb jedes Gebäudes von Halle 4 zu bewegen. Mehr Freiheit. Normalerweise bekommen wir hier am Rand von Halle 4 höchstens mal 20% Sauerstoffdrinks, das reicht für die Schul- und Arbeitswege und für ungefähr weitere 15 Minuten Freizeit. Ich lache: ,,75%, das ist der Wahnsinn!'' Doch dann erstirbt mein Lachen schlagartig, mein Blick war auf das Drink meiner Mutter gefallen. 7% prangt dort in den dicken grünen Ziffern. Jetzt wurde es mir klar. Sie waren nicht großzügig, die Regierung würde niemals spendabel sein. Sie hält uns nur ein weiteres Mal vor, wie abhängig wir von ihnen sind. Abhängig, von ihrer Laune und ausgenutzt, für ihre Zwecke. Sie versuchen mir Hoffnung zu schenken, Hoffnung dass ich bei den Zählungen gut genug bin. Und Hoffnung, dass wissen sie, macht schwach. Schwach und blind. Aber ich weiß es auch und ich werde nicht hoffen, ich werde kämpfen. Fest entschlossen ihr ,,Geschenk'' nicht anzunehmen, trinke ich nur die Hälfte meines Sauerstoffdrinks und drücke meiner Mutter den Rest in die Hände. Sie zittert, aber rührt meinen Drink nicht an. Böse fauche ich sie an, sie solle den Scheiß gefälligst trinken : ,,du kommst sonst nicht über den Tag Mama! Sie können nicht über mich bestimmen. Noch nicht! Heute ist vielleicht mein letzter Tag Freiheit und deshalb möchte ich ihr wiederlich, aufgesetztes Mitleid nicht schlucken!'' Die Hand kommt schnell und hinterläßt einen roten Fleck auf meiner Wange. Es brennt. Meine Mutter hatte mich noch nie geschlagen. Traurig blicke ich in ihr erschrockenes Gesicht. Sie nimmt mich in die Arme und wir schluchzen. Ihre heißen Tränen tropfen auf das Leder meiner Jacke und meine Mutter flüstert fast tonlos: ,,Orbia, es tut mir so leid, es tut mir so leid, aber du darfst jetzt keine Fehler mehr machen. Sie beobachten alles und selbst eine Sauerstoffverweigerung wird dir einige Punkte abziehen. Wir wollen dich nicht verlieren Or, du bist stark, du wirst es schaffen, so wie dein Vater und ich!'' Ich nicke, ja meine Eltern hatten es geschafft, sie hatten drei Zählungen überstanden. Da die Punkte meines Vaters nur knapp ausgereicht hatten, lebten wir hier, am Rande der Halle. Die Schwachen waren für die Regierung die, die es verdienten Arm zu sein. In Halle 4 sind die Schwachen die Armen. Es gibt Mädchen in meiner Klasse, die sich auf die Zählungen freuen. Sie denken sie sind stark genug um besser abzuschneiden, als ihre Eltern damals. Träumen vom reich sein. Träumen davon ins Zentrum zu ziehen. Bei ihnen hat die Hoffnung ihren Kopf eingenommen. Aber ich, denke ich während ich die weißen Küchenkacheln anstarre, ich werde kämpfen: Damit ich hier bleiben darf, genau hier in den Armen meiner Mutter. Und deshalb nehme ich den Rest meines Sauerstoffdrinks und schlucke es in einem Zug herunter. Weil ich leben will, weil ich meine Familie zu sehr liebe um sie allein zulassen. Ich werde nicht hoffen - nein! Ich werde kämpfen!

P.E.U.MWhere stories live. Discover now