#1 Treibgut

13.5K 883 200
                                    

Der Morgen war trüb, denn die Nacht war stürmisch gewesen. Das Meer trug mir sein aufgewühltes Rauschen entgegen und in der Luft lag eine fast spürbare Spannung.

Etwas würde heute geschehen. Und es war nichts Gutes.

Aber vielleicht wünschte ich mir das auch nur.

Wut und Frust hatten mich die ganze Nacht wach gehalten und jetzt saß ich hier auf einem Felsen, nahe dem Strand, und ärgerte mich immer noch. Mein Kopf tat weh von der durchwachten Nacht und den Tränen, die ich zu meiner Schande vergossen hatte.

Gestern war einer der schwärzesten Tage meines Lebens gewesen. Dabei hatte er so gut angefangen, mit Sonnenschein und fröhlichen Gedanken.

Aisek und Milla hatten mich damit überrascht, mein ganzes Fenster mit blauen Blumen zu dekorieren. Mutter hatte zur Feier des Tages süßes Brot zum Frühstück gebacken und mir ein neues Tuch ertauscht. Es war aus groben Fasern, in Braun und Grün, sehr schlicht und unauffällig. Typisch für unsere Kaste.

Ich hätte mir ein blaues gewünscht, meine Lieblingsfarbe. Doch so etwas wäre nicht lange in meinem Besitz geblieben, und niemand verlor gern Geburtstagsgeschenke an jemanden aus den oberen Kasten. Sobald sie Gefallen daran fanden, nahmen sie es einem weg. Immer.

Und dieses hinterhältige Miststück Mareika hatte es doch tatsächlich fertiggebracht, mir genau aus diesem Grund den Tag zu versauen.

Ich war aber auch selten dumm gewesen. Warum hatte ich die silberne Kette mit dem schimmernden Anhänger nur so offen bei mir getragen? Mutter hatte mir gesagt, ich solle sie versteckt halten, so wie sie sie all die Jahre versteckt hatte. Sie gab sie mir im Geheimen, als Milla schon aus dem Haus gewesen war.

Damals hatte sie dieses Schmuckstück von ihrer Mutter zur Mündigkeit bekommen, so wie diese von ihrer. Und nun bekam ich es.

Und hatte es gleich verloren. An Mareika, dieses diebische, nichtsnutzige Scheusal der oberen Kasten.

Ich war eine Schande für meine Familie!

Mein einziger Trost war, dass Mareika nicht über ein einziges Talent verfügte und sicher mit der Mündigkeit ihren Platz in ihrer Kaste verlieren würde. Hoffentlich.

Erschöpft raufte ich mir das Haar. Es brachte ja doch nichts, darüber nachzudenken. Die Silberkette war weg und ich musste mich den Gesetzen beugen.

Aber es ärgerte mich so sehr!

Und damit waren meine Gedanken ein weiteres Mal im Kreis gewandert.

Der Wind frischte auf und blies mir die Haarsträhnen aus dem Gesicht. Er roch salzig und rein.

Bedachtsam erhob ich mich und stellte mich ihm entgegen. Er zog an meinen Armen und Fingern und brachte meine Haut zum Kribbeln. Ich lenkte meine Konzentration nur auf dieses Gefühl, ließ den Wind all die schweren Gedanken mit sich nehmen und konnte endlich aufatmen.

Es war kälter als gestern. Ich konnte es deutlich spüren.

Der Sommer neigte sich unweigerlich dem Ende zu. Der Herbst stand bevor. Bald würden die kalten Stürme die Insel erreichen und dann kam der Winter.

Ich freute mich auf den Winter. Die eisige Jahreszeit brachte meine Fähigkeiten so klar zum Vorschein wie keine andere.

Dieses Jahr würde ich es allen zeigen, denn ich war nun mündig, und der Rat würde mich beobachten.

Doch Angst hatte ich keine. Ich würde jagen wie eine Meisterin, die Kälte und die schlechte Sicht zu meinem Vorteil nutzen, Spuren lesen, aber keine hinterlassen.

Limea - Innerer Sturm [Leseprobe]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt