Kapitel 2 - Man sieht sich immer zwei Mal

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„Susan!"

Panisch stürzte sich Sarah wimmernd und hysterisch kreischend zu ihrer kleinen Tochter, die reglos und bleich in den Armen des Unbekannten hing.

Er war groß gebaut, mit breiten Schultern und definierter Taille. Sein Haar war kupferfarben und streng nach hinten gekämmt, was nur noch mehr die Härte in seinem markanten Gesicht betonte. Unwillkürlich erschauerte ich und vermied es, ihn anzublicken.

Sarahs Hysterie brachte mich schließlich dazu, mich wieder der Situation zu widmen. Ich trat zu ihr und zwang mich zur Ruhe, ehe ich sie an den Schultern packte und mit fester Stimme sprach: „Sarah, meine Liebe, geh' hinter das Haus und hole Wasser. Mach schnell!" Mit einem leisen Wimmern folgte meine Freundin der Anweisung.

Innerlich durchatmend wandte ich mich nun zu dem Fremden um. „Bitte, Mylord, legt die Kleine auf den Tisch. Eric, was ist passiert?"

Der Junge war mit schneeweißem Gesicht und angsterfüllten Augen hinter dem Mann ins Haus gelangt und erwiderte nun: „Wir haben auf der Mauer gespielt. Ich habe sie gewarnt, doch Susan ist da runter gesprungen und schlecht gelandet. Ihr Kopf schlug auf und sie regte sich nicht mehr. Dann kam er." Mit einem Kopfnicken wies er auf den Rothaarigen, welcher Susan vorsichtig auf den Tisch legte und dann meinen Blick suchte.

„Vielen Dank", murmelte ich und trat näher heran.

Auf den ersten Blick schien es, als würde das Mädchen seelenruhig schlafen. Ich fasste an ihr Handgelenk und spürte den schnellen Puls, ein wilder, pochender Galopp. Erleichtert aufseufzend widmete ich mich ihrem Kopf. An der linken Schläfe, mir zugewandt, floss Blut aus einer klaffenden Wunde.

„Sie scheinen sich mit Medizin auszukennen." Erschrocken fuhr ich hoch. Ich hatte nicht bemerkt, wie der Fremde mich beobachtet hatte, bis er mich nun ansprach.

Geschwind sammelte ich mich. „Ich kenne einige Grundsätze. Nicht viel, aber bisher reichte es." Seine ruhigen, graublauen Augen machten mich nervös, doch ich versuchte, mich entspannt zu geben.

„Ist es schlimm?", kam seine Frage.

Ich schaute ihm für einen kurzen Moment in die Augen, ehe ich den Blick wieder abwandte und Susan nach weiteren Verletzungen absuchte. „Nur die Kopfwunde. Sie blutet stark, aber der Schädel scheint nicht beschädigt. Ein Arzt ... Er könnte mehr dazu sagen."

Ich wandte mich zu Eric, um ihn den Arzt holen zu lassen, doch der Unbekannte fuhr dazwischen. „Ich werde ihn kommen lassen. Für wen erteile ich den Auftrag?"

„Die Kleine heißt Susan Pride. Der Arzt kennt meine ..."

„Ich wollte Ihren Namen erfahren."

„Was? ... Oh, ähm ... Davine MacTavish, Sir."

"Gut." Damit verschwand er.


Verwirrt über diese Begegnung wandte ich mich wieder Susan zu. Sie schien nun ein wenig lebendiger, ihre Hände bewegten sich leicht und ihr Gesicht zeigte etwas Unruhe. Dennoch krampfte sie nicht, was mich beruhigte.

Die Hintertür öffnete sich und Sarah erschien, mit bleichem Gesicht, aber gefasster. Sie stellte mir den Wasserkrug auf einen Stuhl und drückte mir einen Lappen in die Hand. Ich beantwortete ihre unausgesprochene Frage mit einem Nicken, und seufzend ließ sie sich auf die Bank sinken. Mit einem Mal sah sie schrecklich alt aus.

Ich hingegen wischte mir meine Hände an den Falten meines Rockes ab und tunkte den Lappen in das Wasser. Dann trat ich zu Susans Kopf und tupfte die Wunde vorsichtig ab. Der Stoff sog augenblicklich das Blut auf, was sich aus dem Riss getreten war, sodass ich das Tuch im Sekundentakt wieder nass machen musste.

Der OrdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt