Eisiger Blick

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Auch am nächsten Tag - es ist Donnerstagnacht - ist Tessa nicht da. Milan sieht zunehmend besorgt aus, denn sie blieb eigentlich nie mehr als eine Nacht zuhause,ohne einmal einen Abstecher ins System zu machen.

„Tessa ist wieder nicht da",begrüßt mich Milan, „wir sollten vielleicht mal bei ihr vorbeischauen." Heute gehen wir nicht wie sonst den kurzen Gang entlang, den ich auch bei meinem ersten Ausflug ins Tunnelsystem nahm, sondern wir nehmen den dunklen, langen Gang, der scheinbar ins Nichts führt.

Je länger wir der Dunkelheit entgegenlaufen, desto mehr gewöhnen sich unsere Augen an die Dunkelheit und ich werde das Gefühl nicht los, dass die Luft immer mehr nach Chlor riecht. Milan ist sehr wortkarg, während wir den leicht abschüssigen Gang entlang gehen. Eine Falte bildet sich zwischen seinen Augenbrauen und er wirkt sehr konzentriert, seine Besorgnis ist schon beinahe greifbar und sie färbt schon auf mich ab.

Was ist wenn man Tessa verhaftet hat? Man sie verdächtigt, eine Rebellin zu sein? Was ist, wenn man Tessa bereits foltert und nach Hilfe schreit und wir keinen Gedanken daran verschwendet haben, dass sie in Schwierigkeiten sein könnte?Ich habe Tessa erst einmal getroffen und doch habe ich sie schon sehr gerne. Noch nie zuvor habe ich so ein quirliges, mutiges Mädchen –nein was sage ich da – so eine junge, hübsche Frau getroffen.

Nach etwa 100 Metern kommen wir aneine helle Kreuzung mit 5 Abzweigungen, in deren Mitte sich eine Wendeltreppe befindet. „Wohin kommt man da?", frage ich und deute auf die Treppe und durchbreche damit zum ersten Mal seit geraumer Zeit das Schweigen. „Das ist der unterirdische Eingang zur Therme.Aber da wollen wir nicht hin, wir müssen hier links." Während Milan das sagt, biegen wir schon ab.

Auch dieser Gang ist erfüllt von Dämmerlicht, doch man kann von weitem schon die nächste Kreuzung erkennen, weil das Gelände nicht abfällt. Auch hier wieder eine Wendeltreppe, doch diese führt direkt ins Krankenhaus, denn wie Milan mir erzählt ist der Chefarzt der Klinik selbst ein Teil des Sechserrates.

Wer hätte das gedacht, dass auch Menschen der oberen Elite, die doch mehr Privilegien genießen als das einfache Fußvolk, sich gegen das System Omegas stellen und dies nicht befürworten? Ich jedenfalls nicht...

Auch von dieser Kreuzung zweigen vier weitere Gänge ab und wir nehmen die zweite von rechts. Ein ellenlanger Gang, der bestimmt fast einen halben Kilometer lang ist und teils unter dem inneren Ring und dem Park liegt, erstreckt sich vor uns.

Als wir fast die nächste Abzweigung erreichen, kommen uns Menschen entgegen. Wir hören sie schon von weitem, eine weibliche und eine männliche Stimme.

„Ich glaube ich kenne diese Stimmen", flüstert Milan mit weit aufgerissenen Augen. „Das kann doch nicht wahr sein! Normalerweise begegnet man ihnen fast nie im System, nur bei Versammlungen..." Milans Stirn ist in Falten gelegt und er überlegt fieberhaft, wie wir den uns Entgegenkommenden ausweichen können. Gar nicht, denn sie haben uns schon gesichtet und sich jetzt umzudrehen und umzukehren wäre zu auffällig.

Ich kenne die Personen nicht, die uns da entgegenkommen, aber Milans Reaktion macht mir Angst. Wer sind sie, dass er sich scheinbar vor ihnen fürchtet?

„Hallo Milan, hast du einen Neuling mit ins System gebracht", fragt der Mann mit dem langsam ergrauenden Haar. Milan nickt.

„Ich bin Eric White." Mit tiefer Stimme stellt er sich mir vor und reicht mir die Hand. Sein Händedruck ist kräftig, fast schon zu kräftig. „Ich bin Teil des Sechserrates. Und du bist..?" Es läuft mir kalt den Rücken herunter. Hier stehe ich also vor dem grausamen Mann, der wegen Machtgelüste meine Eltern verriet. Und wenn ich raten müsste, ist die blonde Frau neben ihm Silwia Roth.

Ich lächle freundlich, während innerlich die Wut in mir zu kochen beginnt: „Miles ist mein Name."Hoffentlich merken sie nicht, dass ich Adeles und Christophers Kind bin. Ich halte den Atem an, um meine Unsicherheit zu verbergen.

„Sehr erfreut dich kennenzulernen Miles Flynt." Mit einem eisigen Lächeln, das ihre Augen nicht erreicht, reicht mir seine Begleitung die Hand. Bei der Nennung meines Nachnamens zucke ich kaum merklich zusammen. Wenn Milan recht hat, werden die beiden alles versuchen, um mich aus dem Tunnelsystem zu vertreiben. Die beruhigten und sicheren Tage im Tunnelsystem sind nun also Geschichte und ich muss höllisch aufpassen. „Ich bin Silwia, ebenfalls Teil des Sechserrats." Nicht nur ihr Blick ist eisig, sondern auch ihr Händedruck.

„Wir bedauern alle sehr, dass deine Eltern starben", meint Eric. Sein Tonfall deutet wirklich Mitgefühl an, aber ich glaube ihm nicht. Zu viel habe ich von Milan erfahren und wenn er recht hat, stehe ich hier vor dem Teufelspaar persönlich, dass nicht einmal davor zurückschreckt, Gleichgesinnte zu verraten und damit praktisch ihre Todestrafe zu besiegeln.

Unsere Regierung mag zwar korrupt sein und unbarmherzig dazu, aber sie töten keine Gleichgesinnten,sondern ihren Feind, und damit all die individuell Denkenden, die das System gefährden. Aber Silwia und Eric haben in den eigenen Reihen gemordet, hatten es auf die Macht abgesehen und es waren sicher keine Neuwahlen in Sicht. Meine Mutter hat den Weg für die Frauen im Sechserrat geebnet und dieses skrupellose Weib hat sie einfach abgemurkst und sich ihren Platz ergaunert! Fast bin ich davor zuplatzen und die beiden auf's übelste zu beschimpfen, doch da unterbricht mich Silwia...

„Es tut mir sehr leid, ihr Beiden,aber wir müssen weiter, Geschäftliches", affektiert verabschiedet sie sich von uns und hakt sich bei ihrem Lebensgefährten unter.Gemeinsam verschwinden sie in der Gegenrichtung.

Schweigend gehen wir weiter, aus Angst, sie könnten uns hören, wie wir über sie reden...

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